Annemarie Schwarzenbach
Winter in Vorderasien
Annemarie Schwarzenbach

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Beirut

Am fünften Januar verliess ich Rihanija endgültig. Dort herrschten Kälte und schwere Regen – in Beirut aber waren die Tage mild, und wir schwammen in der grossen, geschützten Buch während der Mittagsstunden.

Auf dem Rückweg kamen wir durch die Militärquartiere. Wir sahen die schwarzen Soldaten in ihren graugrünen Uniformen, mit breiten roten Gürteln – sie standen hinter Stacheldrahtzäunen, führten Pferde zur Tränke, exerzierten in den Höfen nach den Kommandos französischer Unteroffiziere. Man sah sie in kleinen Bars sitzen, welche Au rendezvous des poilus hiessen; aus blaugestrichenen Barackenfenstern schauten ihre breiten, gutartigen Negergesichter.

Oben, im pinienbestandenen Garten der Residenz, gab es blühende Beete, weisse persische Pfauen, Strausse mit hässlichen Füssen und eine Schar scheuer Gazellen. Auch einen Apfelschimmel zeigte man mir, dreijährig, mit rosagefärbten Nüstern; Nuri Bin Schaalan, der uralte Scheich der Ruwala-Beduinen, hatte ihn dem Haut Commissaire zum Geschenk gemacht.

Fuhr man die Küstenstrasse entlang, so konnte man sich an der Côte d'Azur glauben, aber die Luft schien noch heller, das Meer glänzender und schaumgekrönter. Wie in einem zu weissen Spiegel zerflossen Felsen und Strand und die spiegelnden Dächer der Stadt, der Wald der sanft schaukelnden Maste. Dahinter stand, die Füsse im Meer, traumhaft und greifbar, nicht Kreide und Marmor, der schneebedeckte Libanon.

68 Dieser orientalische Winter nimmt immer merkwürdigere Formen an. Nun hat es über Nacht geschneit, und die Strasse nach Damaskus ist unterbrochen. Wir fuhren gestern bis in das Dorf Bamdun und stiegen von dort mit unseren Skiern zwischen den verschneiten Weinbergen aufwärts. Wir überblickten zuerst die glänzenden Schneeflächen, dann den eisigen und spiegelnden Absturz bis zu den hundert gelben Mauern der Gärten und Reben. Drüben lagerten ganz dunkel die Vorketten des Libanon und zu ihren Füssen die weissen Häuser, die schwarzen Pinien und Orangenhaine von Beirut. Daran grenzte und zog sich in grossem Bogen zum Horizont die verschwimmende Bläue des Meeres.

Kein Traum hätte einen phantastischeren Anblick ersinnen können. Bald darauf zog sich ein Gewitter zusammen. Wir sahen schwarze Fahnen wie aus Kohlenstaub, die über Wände von feurigem Gelb hinzogen; in der Tiefe wurde das Meer dunkel und stählern. Hagel setzte ein, die Schneeflächen bedeckten sich mit einer Schicht rollender Körner. Wir fuhren bis zu den Weinbergen und trugen dann die Skier, von Mauer zu Mauer springend, bergab. Völlig durchnässt kamen wir in der Dunkelheit nach Bamdun.

Über Nacht fuhr es fort zu schneien. Ich erwachte früh am nächsten Morgen und sah das Meer grau und schwer von Regen, seine Stösse waren langsam und drangen klatschend und sich überschlagend auf die Stadt ein. Diese lag noch in Dämmerung gehüllt, die Strasse unter meinem Fenster glänzte vor Nässe, aus den Gärten hingen Blätter entkräftet über die gelben Mauern. Über den Dächern sah man das Gebirge, welches sich langsam von der Nacht befreite. 69 Wolken lagen, von der verborgenen Sonne milchig erhellt, auf halber Höhe. Darüber war alles von neuem Schnee bedeckt, aber noch glanzlos und stumpf, und der Himmel voller Nachtbläue. Dann erhoben sich Vögel ganz in meiner Nähe, sie sangen, und ihre kleinen Jubelschreie verloren sich. Es war wie der erste Schrei der Schöpfung; ich wusste, dass nun bald die Sonne aufgehen würde, dass oben im Gebirge die Nebel zerrissen wie der Vorhang des Tempels, dass unten das Meer sich in Blau und Silber verwandeln, dass die Blätter sich aufrichten, die Mauern sich erwärmen würden, dass Meer und Himmel sich trennten, der Tag sich von der Winternacht schied – der alte und wunderbare Vorgang.

 

18. Januar 1934

Die Zeit eilt. Es wird bald Frühling sein. Heute gingen alle Leute an der Küste im Tropenhelm spazieren, und im Kaskadenrestaurant sassen sie fröhlich auf der Terrasse, tranken Zitronensaft und sahen das schöne, blaue, feiertägliche Meer an. Seit zwei Tagen feiern die Muslime das Ende des Ramadan, des vierwöchigen Fastens. Da seien drei Tage Erholung nicht zuviel, sagte tolerant und einsichtig ein Missionargreis im Postbüro von Dschebail. Er trug auch einen Tropenhelm auf dem ergrauten und bärtigen Haupt, dazu eine Hebammentasche um die Schulter, in welcher er ein Mandat über 25 Pfund verwahrte. Ich gab im gleichen Postbüro ein Hochzeitstelegramm auf, denn heute ist ein ungewöhnlicher Festtag.

Dem gestrigen Tag dagegen haftete etwas Überstürztes an – man war mitten in der Woche, höchstens die Hälfte 70 der Stadt nahm am Fastenende teil; im übrigen lagen Schiffe im Hafen und tuteten in den silbrigen Morgen, Trams, Lastautomobile und Droschken verdarben den Spaziergängern die Laune, und meinem Machmud gelang es überhaupt erst nachmittags, sich frei zu machen und an das Fest zu denken. Er lud mich zu einem Spaziergang ein; wir gingen zuerst in sein Haus, ich bekam Tee, Brot mit Honig gefüllt und gezuckerte Mandeln. Die Frau von Machmuds Bruder war sehr festlich gekleidet und trug lange Spitzenhosen unter dem geblümten Kleid. Machmud vertauschte inzwischen die schwarze Pluderhose mit einer weissen, gelblich gestärkten, die an den Seiten schön gestickt war, und zog ein frisches Hemd an. Die Kinder knieten schweigend in ihrer Ecke und sahen dem Onkel zu.

Ich habe besonders das neunjährige Mädchen ins Herz geschlossen, seit es, als ich einmal des Nachts zu Besuch kam und es schon auf seinen Steppdecken lag, halb im Traum nach seinem Tüchlein griff, sich das kleine Haupt verschleierte und wieder in Schlaf sank.

Machmud und ich ergingen uns auf der Strasse oberhalb der Küste, genossen die Aussicht, fotografierten Soldaten aus dem Sudan, prächtige Schwarze, und begegneten sonntäglichen Familien, oftmals der Vater auf einem Esel voraus, hinter ihm, abgekämpft, Frau und Kinder.

Dann war es der Rummelplatz: unter den Pinien, sozusagen Haus an Haus mit dem Kommissär und den schönen Reitpferden, die man drüben in der Sonne führte. Aber welches Volksfest! Da gab es Tänzer und Gaukler, dressierte Affen, Messerkämpfer, Wahrsager. Im Kreis standen die Zuschauer: vom Land Gekommene, Beduinen und Männer 71 aus dem Gebirge – in tausend phantastischen Kopfbedeckungen, in hohen Stiefeln, in langen goldgestreiften Gewändern. Viele wie Machmud in der gestickten weissen oder blauen und braunen Hose; dazu trugen sie aber Goldwesten mit kleinen Stehkragen. Im Kreis sah man Fechter mit kleinen, runden Schilden und langen Schwertern, die mit ständig sich wiederholenden Gesten aufeinander lossprangen, die Schilde zusammenschlugen, auseinanderwichen und nun den Zweikampf wie in grossem Zorn begannen. Ein ägyptischer Gaukler hatte sich ein Messer durch den Arm gestossen, ohne dass man einen Tropfen Blut sah; jetzt fuhr er fort, mit weissen Mäusen, Geldstücken und Dolchen zu zaubern, während das Messer grässlich aus dem abgebundenen Arm starrte. Am meisten Zulauf hatten aber die Tänzer, deren es eine Menge gab und von sehr verschiedener Qualität; ich sah drei, die sich wie in Ekstase bewegten, schweissbedeckte Burschen, die langsam mit den Füssen traten, dann schneller und hüpfend, begleitet von einer grossen Trommel und einer kläglichen Querpfeife. Zuerst schienen sie in sich gekehrt und um die eigene Achse geneigt, wie nachgrübelnd und befangen, dann plötzlich das Kreuz eingezogen, den Blick frech nach aussen gewandt und rasch in den grössten Kreis geratend, den ihnen die Zuschauer freiliessen. Dann sangen sie auch, stiessen vielmehr von Zeit zu Zeit Bruchstücke einer rauhen Begleitung aus gequälter Kehle, und als die Zuschauer einstimmten, liessen sie sich zuerst anfeuern, gerieten dann aber in ein zuckendes Auf und Nieder, sahen sich, plötzlich unsicher, einer nach dem anderen um und fielen zusammen, erloschen, nur noch leise mit den Füssen stampfend.

72 Draussen, unter den Bäumen, schaukelten sie in riesigen, aus Baumstämmen errichteten Schaukeln, nicht nur die Burschen und die Kinder, sogar Mädchen und Frauen, Verschleierte, die durch ihre düstere Hülle nun laute Freudenschreie ausstiessen, sich umklammerten, die wehenden Röcke vergassen, und zu viert, mit zurückgeworfenen Köpfen, ins Blau tauchten und wieder zur Erde sanken, schwindelergriffen, erschreckt und jubelnd. Auch Karussells gab es mit primitiv geschnitzten Pferdchen und unsolide Schiffschaukeln – kurz, es war ein Wirbel von Drehen und Schweben, dazu Musik aus zwanzig traurigen Blasebälgen, Querpfeifen, klimpernden Gitarren und Geschrei, Gesang, Anfeuerung auf allen Seiten. Am Rand des Waldes hatte ein Tanzmeister einen Ring von Leuten um sich gesammelt, sechs oder acht tanzten schon, indem sie sich gegenseitig Schulter und Hüfte umschlangen und nun, im Takt, einen Fuss nach vorn setzten, rasch zurückzogen, wechselten, und so in ein Knie gingen, sich wieder hoben und, je rascher die Bewegung wurde, um so mehr in Hüpfen und Wiegen verfielen. Machmud erklärte mir, dass dies ein Bauerntanz sei, den sie, im Sommer, in den Bergen tanzten. Immer mehr Männer schlossen sich an, Unteroffiziere neben Bauern mit Kufija, junge Städter in Lackschuhen und Fes neben dem Schuhputzer Machmud. Denn plötzlich hielt es ihn nicht mehr. Er reichte mir seinen Regenschirm, entschuldigte sich für einen Augenblick und trat in die Reihe ein. Der Tanz nahm komplizierte Formen an, die Männer an der Spitze sangen und sprangen, drehten sich mit erhobenem Arm, sanken auf ein Knie, und die lange Kette drängte laut singend und stampfend nach.

73 Machmud kam mit glänzenden Augen wieder. Er führte mich durch die Hintergründe des Festgeländes, durch die Garküchen, wo Hammelfleisch an Spiessen gebraten wurde und Gebäck in brodelndem Öl schwamm – an den wartenden Eseln vorbei, an den Streitenden, den Ausgelassenen, den Polizisten. Und auf der Strasse angelangt, mietete er eine Droschke, liess das Dach öffnen und fuhr mit mir zum Hotel zurück.

Am dritten Tag des Festes sah ich Beduinen tanzen. Die Jünglinge trugen ihre Haare halblang oder in viele kleine Zöpfe geflochten. Die blaugeschminkten Augen erhöhten noch den Eindruck des Mädchenhaften in ihren schönen Zügen. Da sie sich so wild gebärdeten – so stampften, als gelte es die Erde einzutreten, und ihre springenden, vor- und zurückweichenden Schritte ausführten, als fürchteten und besiegten sie einen dämonischen Widerstand gegen ihre Besessenheit –, wirkte diese weibliche Schönheit, die Blässe der Haut, umrahmt von bläulichschwarzem Haar, noch sonderbarer und ganz aus einer fremden Welt.

Es gab noch andere fremdartige Spuren auf diesem Vorstadt-Rummelplatz, wenn sie auch oft äusserlich waren, nur noch Erinnerungen, und mit den abgeschmacktesten Neuerungen des europäischen Vergnügungsmarktes vermischt:

Da waren die Schwertkämpfer, die ihre Posen so gut auswendig wussten und doch nicht das Bild von Angriff, Spannung und ritterlichem Spiel erweckten – es blieb beim Waffenklirren, bei der leeren Gebärde. Die Zauberer trieben allerhand übliche und durchsichtige Kunstgriffe, doch murmelten sie dabei Wüstenzauber und 74 Geisterbeschwörung; sicher nahmen sie dafür alte, wirksame Formeln und vergessene Gottheiten in Anspruch.

Doch da fand sich, in einem kleinen Kreis von Zuschauern, ein Tänzer, der über einer glatten hellbraunen Stirn eine Kopfbedeckung trug, halb Helm, halb Krone, wie jene gefiederten ägyptischen oder die hohen des Teschup; flach lagen geschlitzte Augen im unbewegten Gesicht, der Mund schien zu klein im Dreieck von Backenknochen und Kinn.

Der Mann war gross und knabenhaft schlank. Er trug in der Hand einen Stab mit Glöckchen und Bändern wie ein Bärenführer und tanzte, sparsam und hochmütig. Er hob manchmal einen Arm mit ausgestreckten Fingern über das künstlich erhöhte Haupt und blickte dabei unbewegt lächelnd über die eigene Schulter. Auf der Fussspitze drehte er sich langsam seitwärts. Sein Anblick erweckte das sonderbarste Gefühl von Verzauberung: Miniaturen tauchten auf, Gestalten junger Gaukler und Prinzen, die träumerisch unter göttlicher Eingebung handelten . . .

An einem der Festtage – dem 18. Januar – war ich in Byblos, dessen phönizische Ruinen von Felsen herab Bucht und Aussicht des Meeres beherrschen. Da man dieses Jahr landeinwärts in der Nähe des Kreuzritterturmes das zierliche römische Amphitheater freigelegt hat, am Rand des Wassers die phönizische Stadt mit den Trümmern importierter, ägyptischer Statuen und den enormen Grabkammern der Könige liegt, darüber aber die wunderschöne weisse und anmutige Säulenreihe eines römischen Tempels sich abhebt – so erhält man hier gleich den Eindruck der Jahrtausende, die den Boden bewohnt haben, und Schicht um Schicht zeigt sich eine würdige Vergangenheit.

75 Heute ist Dschebail ein kleiner und unbedeutender Ort. Aber die schöne Küste, der friedliche Hafen mit den aufwärtsgekehrten Kielen breiter Fischerboote, der stille Hof der Kirche Saint-Jean, die Gärten endlich und die kleinen Wege zwischen altem Gemäuer: Dies alles ist ungemein angenehm, heiter, ein versöhnter Abglanz überstandener Grösse.

Ich war um sieben Uhr morgens angekommen; um elf Uhr war ich mit meinem Rundgang zu Ende. Ein kleiner Knabe schloss sich mir an, als ich durch den Basar von Dschebail ging. Er sprach ein sonderbar erlerntes, pedantisches Französisch, zeigte sich artig und beflissen und brachte mit ernsten Redensarten seine kleinen Erklärungen an: über die Kirche Saint-Jean und die armenische Schule, über die Tätigkeit der »Pater« vom Berge (er wies mit der Hand auf das Haus), auch über den Sinn der Feste, die ihm, da er und seine Eltern Muslime seien, drei schulfreie Tage eintrügen.

In der Kirche Saint-Jean herrschte der Friede einer Dorfkirche. Von den Wänden kam der Geruch feuchten Steins, vermischt mit der Erinnerung brennender Kerzen, einer ewigen Lampe, ein wenig Weihrauch. Durch die offene Türe sah man ein paar Zweige und ihre spielenden Schatten auf dem Pflaster des Hofs. Oben, zwischen Säulen und Deckengebälk, flogen Vögel. Eine Erinnerung erwachte und zehrendes Heimweh: ein Sommerabend, Schwalben schossen mit hellen Schreien durch das schwebende, gleichsam von Engeln getragene Gewölbe der Kirche Wies . . .

Dann schickte ich den Knaben, der, beharrlich plaudernd, an meiner Seite ging, nach Hause.

76 Ich folgte dem Strand und wanderte eine Stunde lang, ohne einen Menschen anzutreffen. Weisser Sand lief wie ein Band am Fusse gelber Felsen; hinter den Felsen lagen Äcker, hinter den Äckern die breite Landstrasse nach Tripoli.

Von weither vernahm man zuweilen das laute Signal eines Autobusses der »Ligne Autoroutière du Levant« oder das Schreien eines Esels. Das Meer war still, festtäglich, tiefblau und schlug mit ruhigem Klatschen auf den rollenden Sand. Ein Felsen ragte aus dem Wasser, schwarzer Punkt, um den sich das Licht flimmernd sammelte. Weit draussen lag unbeweglich ein kleines Boot.

Es war ein vollkommener Platz, dem Paradies benachbart. Ich schwamm mehrere Male hinaus, bis ich über dem Strand das Schneegebirge auftauchen sah, und trocknete mich nachher in der Sonne.

Viel später sah ich auf einem entfernten Küstenfelsen einen Mann von übernatürlicher Grösse; er trug eine weisse Kufija und war umrahmt von weissem Licht. Lange stand er dort, ein arabischer Bauer, der sein Feld bestellt hatte und nun über das Meer blickte, der erste Mensch . . .

Nun verschwand er wieder, sank langsam unter den Rand des Felsens, ich sah noch sein Schultertuch, sein dunkles Haupt, dann nichts mehr.

Am nächsten Morgen befand ich mich wieder unterwegs ins Gebirge; der Himmel war düster, schwer von bleiernen Wolken. Oben, kurz vor der Passhöhe, überraschte uns ein Schneesturm. Eisige Kälte herrschte, weisse Bänder wehten unheimlich geschwind über die Strasse und gefroren, ehe man sich's versah; kleine Hügel bildeten sich, über die der Wagen sanft schleudernd hinwegglitt.

77 In der Tiefe lag Nebel.

Wir erreichten eine Schenke, deren grosses Tor uns geöffnet wurde: Tropfend stand der Wagen gleich darauf im kahlen Wirtsraum. Zwei Frauen sassen vor dem kleinen Kohlenbecken; auf den Teppichen lag feiner Schneestaub, ganze Schneewehen bildeten sich am Fuss der Mauern, der Wind pfiff durch die Wände.

In unseren schweren Mänteln machten wir uns mit den Skiern auf und fuhren, gegen Wind und Hagel ankämpfend, über den breiten Abhang hinter der Schenke.

Aber der Sturm wuchs, und mit ihm die Kälte. Wir mussten umkehren und langten zusammen mit einer Gruppe von Wegarbeitern wieder bei der Schenke an.

Es wurde an diesem Tage nicht mehr hell. Wir beeilten uns, aufzubrechen, solange die Strasse noch befahrbar war, und erreichten Beirut ohne Unfall.

 

Beirut, am 23. Januar 1934

Durch den Taurus zu fahren war wie eine Verwandlung, ein Szenenwechsel, der durch Galerien führte: mit Ausblicken auf Kaskaden und Wasserfälle, Stufen dunkler Wälder, Abstürze und schneegekrönte Häupter. Indessen fiel der Vorhang über Anatolien, und die neue Ebene öffnete sich, städtereich, zwischen Gebirgszügen und einer schönen Küste. Schon in Abendlicht gehüllt die düsteren Tells, die Aschen- und Scherbenhügel, rauchende arabische Dörfer an ihrem Fuss, und aufsteigend aus der lebendigen, nächtlichen, verführenden Stadt, streng und mit rieselnden Abhängen, mauerbewehrt, mit wuchtiger Torbrücke, die Zitadelle von Aleppo.

78 Jetzt, da ich im Begriff bin, Beirut zu verlassen, kommt es mir wie ein entscheidender Schritt vor. Das Leben hatte hier freundliche Formen, und ich konnte, was ich tat, dem Massstab von ausgezeichneten Menschen unterwerfen. Ich war oft genug allein, hatte Zeit, meine Pläne streng zu erwägen, was nur am Anfang entmutigend sein kann, dann aber zu mancher Festigung verhilft.

Die einzige, furchtbar anwachsende Sorge ist nur, dass das Leben niemals ausreichen wird, eine einzige Anstrengung bis zu einem unanfechtbaren Ziel zu führen . . .

 

Dies ist überhaupt die grösste Gefahr einer langen Reise: Da man beständig aufbricht oder die Zeit möglichst nützlich und ohne allzu grosse Entmutigungen ausfüllt bis zum nächsten Aufbruch und dann jedesmal wieder abrechnet, als sei es endgültig, so ist man sich beständig bewusst, dass Tage derart vergehen und dann Monate, und dass das ganze Leben nur aus einer kleinen Zahl solcher Unternehmungen besteht. Ja, diese ganze, auf einer Reise verbrachte Zeit zeigt nur ein wenig unverkleideter und zusammengedrängt, wie wir unser ganzes Dasein verbringen: Anfangs überschwenglich und mit zahlreichen und grossen Absichten, bald zufrieden mit den Realisationen am Wege, selten mit einem festumrissenen Ziel, noch seltener sicher über dessen Wert; auf unsere innere und äussere Würde bedacht und darüber hinaus auf Harmonie mit dem, was wir lieben – und dies zu erreichen, ist schon viel.

Im gewöhnlichen Leben scheint natürlich alles fester und nicht vorübergehend; das Bewusstsein des »Episodenhaften« verliert sich, man glaubt leichter, dass jeder Tag zu einer 79 Zukunft beitrage, und man vergisst, dass diese Zukunft eines Tages oder Nachts ihr unwiderrufliches Ende hat. Wer aber weiss, was dann noch zählt!

Es liegt am Zustand der Welt, dass man sich der Gefährdungen, Zufälligkeiten, Beschränkungen, die sich in den Ablauf eines kurzen Lebens mischen, so bewusst ist: Man weiss, dass sich die Welt unausweichlichen und grossen Veränderungen nähert, aber man weiss nicht, wie man sie überstehen wird. Deshalb ist man für jede ungestörte und leidlich friedlich überstandene Episode dankbar. 80

 


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