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In Hypäpa, einer kleinen Stadt Lydiens, wohnte eine Jungfrau von niederer Herkunft, Arachne geheißen. Ihr Vater Idmon war Purpurfärber zu Kolophon, auch ihre Mutter, die der Tod frühe hingerafft hatte, war von armen Eltern entsprossen. Dennoch pries man den Namen Arachnes in den lydischen Städten, da sie als Weberin durch Kunst und Fleiß alle sterblichen Weiber übertraf; selbst die Nymphen des rebenbewachsenen Tmolosgebirges und des Flusses Paktolos kamen in die ärmliche Hütte der Jungfrau, um ihrer Arbeit staunend zuzuschauen. Niemals war so die Kunst mit der Anmut gepaart; ob sie die grobe Wolle zuerst aufwickelte, ob sie die Fäden feiner und feiner zog, ob sie mit dem flinken Daumen die Spindel umschwang oder mit der Nadel stickte: es schien stets, als ob Pallas Athene selbst sie unterwiesen hätte. Davon aber wollte Arachne nichts wissen, sondern sie rief oft beleidigt: »Nicht von der Göttin lernte ich die Kunst! Sie komme und messe sich mit mir. Besiegt sie mich, so will ich jede Strafe erdulden!« Athene hörte ihr Prahlen mit Unwillen, nahm die Gestalt eines alten Mütterchens an, umgab sich die Stirn mit grauem Haar und nahm einen stützenden Stab in die welken Hände. So verwandelt, trat sie in die Hütte Arachnes und begann: »Nicht nur Widriges hat das Greisenalter; mit den Jahren reift die Erfahrung. Darum verachte nicht meinen Rat! Suche du dir den Ruhm, daß du künstlicher als alle Sterblichen die Wolle zu weben verstehst; aber der Göttin weiche in Demut. Flehe sie um Verzeihung für dein überkühnes Wort; dann wird sie gern der Bittenden vergeben.« Finsteren Blickes ließ Arachne den Faden fahren und sprach, vor Zorn bebend: »Töricht bist du, Alte; die Last der Jahre hat dir den Sinn geschwächt. Zu lange leben ist nicht gut! Solches Geschwätz predige deiner Tochter vor, ich bedarf deines Rates nicht und verschmähe deine Ermahnung. Warum kommt Pallas nicht selbst? Warum vermeidet sie den Wettstreit mit mir?« Jetzt war die Langmut der Göttin zu Ende. »Sie ist schon da!« rief sie und stand plötzlich in ihrer wahren himmlischen Gestalt da. Die Nymphen und die lydischen Frauen, die zugegen waren, fielen der Göttin huldigend zu Füßen; nur Arachne bebte nicht, ein flüchtiges Erröten überzog ihr trotziges Antlitz, und verwegen beharrte sie bei ihrem Entschluß; von törichter Ruhmbegierde getrieben, rannte sie selbst in ihr drohendes Geschick. Und die Zeustochter warnte nicht mehr, sondern nahm den Kampf an.
Alsbald stellten beide an gesonderten Orten den Webstuhl auf und begannen mit Lust die kundigen Hände zu regen. Purpur und tausend andre Farben, die das ungewohnte Auge verwirren, webten sie kunstvoll durcheinander; auch goldene Fäden liefen hindurch; und so erhoben sich bald wundersame Gebilde vor den staunenden Blicken der Schauenden. Athene bildete den Felsen der athenischen Burg und ihren vielbesungenen Streit mit dem Meeresgott um des Landes Besitz. Zwölf Götter, Zeus mitten unter ihnen, saßen dabei, ehrwürdigen und heiligen Ernstes. Hier stand Poseidon, wie er den riesigen Dreizack in den Felsen stößt, daß die salzige Meeresflut herausspringt. Dort aber erschien sie selbst, die göttliche Künstlerin, mit Schild und Lanze gewappnet, den Helm auf dem Haupte, auf der Brust die schreckliche Ägis, wie sie mit der Spitze des Speeres den Ölbaum aus dem unfruchtbaren Boden hervortreibt, zum Staunen der Götter und zum Heile des Landes. So webte Athene ihren eignen Sieg in das Gespinst. In die vier Ecken aber wirkte sie vier Beispiele menschlichen Hochmuts, der durch die Rache der Götter ein trauriges Ende nahm: Hier erblickte man den thrakischen König Hämos mit seinem Weibe Rhodope, die in ihrem Übermut sich Zeus und Hera nannten und deshalb in ragende Berge verwandelt wurden; hier die unselige Mutter der Pygmäen, die, von Hera besiegt, zum Kranich wurde und so mit ihren eignen Kindern kämpfen mußte; in der dritten Ecke war Antigone, die reizende Tochter Laomedons, zu schauen; diese war auf ihre Schönheit und besonders auf ihr herrliches Lockenhaar so stolz, daß sie sich der Hera verglich. Aber die Götterkönigin verwandelte die Haare in Schlangen, die sie bissen und quälten, bis Zeus die Unglückliche aus Mitleid zum Storche umschuf; noch jetzt frohlockt sie klappernd über ihre Schönheit. Endlich bildete Pallas den Kinyras, wie er das Schicksal seiner Töchter beweinte. Sie hatten durch ihren Stolz den Zorn der Hera gereizt und wurden von ihr in steinerne Stufen vor ihrem Tempel verwandelt. Der Vater warf sich jammernd auf sie nieder und bedeckte den fühllosen Marmor mit heißen Tränen. Alle diese Gemälde hatte Athene in den Teppich gewebt und mit einem Kranze von Ölbaumblättern umgeben.
Arachne dagegen wirkte in ihr Gewebe mancherlei Bilder, in denen sie die Götter zu verhöhnen trachtete, so namentlich den Zeus, wie er bald als Stier, bald als Adler oder Schwan, bald als lüsterner Satyr oder in flammendes Feuer oder goldenen Regen verwandelt, die Töchter der Menschen betörte. Dies alles umrankte ein Kranz von Efeu, mit Blumen durchflochten. Und als sie ihr Werk vollendet hatte, vermochte selbst Pallas Athene nicht, die Kunst der Jungfrau zu tadeln, aber mit Entrüstung ersah sie aus den Gebilden den gottlosen Sinn der Bildnerin. Darum zerriß sie zürnend die frevelhaften Gemälde und schlug mit dem Weberschifflein, das sie noch in der Hand hielt, die hoffärtige Jungfrau dreimal vor die Stirne. Dies ertrug die Unglückliche nicht, Wahnsinn erfaßte sie, und mit dem Seil umschlang sie verzweifelnd ihre Kehle. Schon hing sie zuckend in der Luft; da hob sie die Göttin, von Mitleid ergriffen, aus der würgenden Schlinge und sprach: »Lebe, aber hange, du Verwegene, und so sei dein ganzes Geschlecht bis zu den spätesten Enkeln bestraft!« Mit diesen Worten sprengte sie Arachnen einige Tropfen von zauberischem Kraute ins Antlitz und ging hinweg. Alsbald verschwanden Haar, Nase und Ohren der Jungfrau, und sie schrumpfte zu einem winzigen, häßlichen Tier zusammen. Als Spinne übt sie noch heute, Faden auf Faden entsendend, die alte Kunst.