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Drittes Buch.
Odysseus – Zweiter Teil

Odysseus kommt nach Ithaka

Der Schlummer des Odysseus war süß, aber auch so tief wie der Tod. Das Schiff flog schnell und sicher dahin, wie ein Wagen mit vier Hengsten durch die Ebene oder wie ein Habicht durch die Luft fliegt. Es war, als wüßte es, welch einen Schatz es an dem Manne trage, der in Klugheit mit den Himmlischen wetteiferte und mehr Leiden erduldet hatte als irgendein Sterblicher. Jetzt aber hatte er im ruhigsten Schlafe alles vergessen, was er jemals in Schlachten und auf den Meereswellen Herbes erfahren.

Als der Morgenstern am Himmel stand und den Tag ankündigte, steuerte das Schiff in vollem Laufe schon auf die Insel Ithaka zu, und bald lief es in die sichere Bucht ein, welche dem Meeresgotte Phorkys gewidmet war. Zwei Landspitzen mit gezackten Felsen laufen hier zu beiden Seiten in das Meer hinaus und bildeten für die Schiffe einen sicheren Hafen. Im Mittelpunkte der Bucht stand ein schattiger Ölbaum, und neben demselben war eine liebliche Grotte, in deren tiefer Dämmerung Meernymphen ihren Wohnsitz hatten. In derselben standen steinerne Krüge und Urnen gereiht, in welchen Bienen Honig bereiteten; auch Webstühle von Stein konnte man da sehen, mit purpurnen Fäden bezogen, welche die Nymphen zu wundervollen Gewanden woben. Zwei nie versiegende Quellen rannen durch die Grotte, die einen gedoppelten Eingang hatte, gegen Mitternacht für die Menschen, gegen Mittag eine verborgene Pforte für die unsterblichen Nymphen, welche nie ein Sterblicher betrat. Bei dieser Höhle landeten die Phäaken, hoben den schlummernden Odysseus mitsamt Teppich und Polster aus dem Schiff und legten ihn vor der Grotte unter dem Ölbaum im Sande nieder. Hierauf wurden auch alle die Gaben ausgeschifft, welche ihm Alkinoos und seine Fürsten als Geschenke mitgegeben, und sie legten alles sorgfältig seitwärts vom Wege, damit nicht etwa ein vorübergehender Wanderer den Fortschlummernden berauben möchte. Den Helden aus dem Schlafe zu wecken, wagten sie nicht, denn derselbe deuchte ihnen von den Göttern selbst ihm zugesendet. Hierauf setzten sie sich wieder ans Ruder und fuhren ihrer Heimat zu.

Aber der Meeresgott Poseidon grollte den Phäaken, daß sie mit Hilfe der Pallas ihm seine Beute entrissen hatten, und erbat sich vom Göttervater die Erlaubnis, an ihrem Schiff Rache nehmen zu dürfen. Dieser gönnte sie ihm, und als das Schiff der Insel Scheria, dem Lande der Phäaken, schon ganz nahe war und mit vollen Segeln einherwogte, stieg Poseidon aus den Wellen empor, schlug es mit der flachen Hand und verschwand wieder in der Flut. Das Schiff aber mit allem, was darauf war, wurde plötzlich in einen Felsen verwandelt und wurzelte im Meeresboden fest. Die Phäaken, welche auf die Nachricht, daß ihre Landsleute zurückkommen, nach dem Strande geeilt waren, konnten nicht genug staunen, als das Schiff, welches eben noch in vollem Fluge begriffen war, plötzlich in seinem Laufe gehemmt stillstand. Aber Alkinoos erhob sich in der Versammlung und sprach: »Wehe uns, gewiß erfüllt sich jetzt an uns die uralte Weissagung, von welcher mir mein Vater erzählt hat. Poseidon, sagte mir dieser, zürne uns in seinem Herzen, daß wir, die gewandten Schiffer, jeden Fremdling glücklich in seine Heimat bringen. Einst aber werde ein phäakisches Schiff, das auch von einer solchen Begleitung heimkehre, von ihm am Ufer versteinert werden und unsre Stadt als ein Felskamm umziehen. Darum wollen wir in Zukunft uns nicht mehr einfallen lassen, den Fremden das Geleite zu geben, die als Schutzflehende in unsre Stadt kommen; dem zürnenden Meeresgott aber wollen wir zwölf Stiere opfern, damit er sich erbarme und unsre Stadt nicht ganz mit einem Gebirge von Felsen einschließe.« Die Phäaken erschraken, als sie dieses hörten, und rüsteten sich in aller Eile zu dem Opfer.

An Ithakas Strande war Odysseus indessen vom Schlummer erwacht, aber so lange schon von der Heimat entfernt, erkannte er sie nicht mehr. Zudem hatte Pallas Athene um ihn selbst einen Nebel gebildet, damit er unkenntlich würde und seine Gattin und Mitbürger ihn nicht früher zu erkennen vermöchten, ehe die Freier ihre Missetat gebüßt hätten. So erschien denn jetzt dem Helden alles, die geschlängelten Pfade, die Meeresbuchten, die himmelanragenden Felsen, die Bäume mit ihren hohen Wipfeln, in fremder Gestalt. Er fuhr vom Boden auf, blickte bang umher, schlug sich an die Stirne und rief wehklagend: »Ich Unglückseliger, in welche neue Fremde bin ich wieder gekommen, unter welche Unholde von Menschen? Wohin rette ich mich mit dem geschenkten Gute? Wär ich doch bei dem Volke der Phäaken geblieben, wo ich so freundlich gepflegt worden bin! Jetzt aber haben sie mich freilich auch verraten: sie versprachen, mich nach Ithaka zu führen, und haben mich hier in dem fremden Lande ausgesetzt. Vergelte es ihnen Zeus, der Rächer! Gewiß haben sie mir auch von meinem Gute gestohlen!«

Der Held blickte um sich, sah Dreifüße, Becken, Gold, Kleider, alles in bester Ordnung umherstehen und liegen, fing an zu mustern und zu zählen: und siehe da, ihm mangelte nichts. Als er nun nachdenklich und die Heimat betrauernd am Strande umherirrte, gesellte sich zu ihm die Göttin Athene in Gestalt eines zarten Jünglings, eines Schafhirten, aber wie ein Königssohn mit feinen Gewanden angetan, mit schönen Sohlen an den Füßen und einem Spieß in der Hand. Odysseus war froh, einem Menschen zu begegnen, und fragte ihn mit freundlichen Worten, auf welchem Gebiet er sich befinde, ob es ein Festland oder eine Insel sei. »Du mußt aus der Ferne daherkommen«, antwortete die Göttin, »wenn du erst nach dem Namen dieses Landes zu fragen brauchst. Ich versichere dich, man kennt es im Westen und im Osten. Zwar ist es gebirgig, und Rosse kann man hier keine tummeln wie im Argiverlande; arm ist es aber deswegen nicht; Wein und Getreide gedeihen herrlich. Ziegen und Rinder hat es in Menge, dazu die schönsten Waldungen und Quellwasser genug. Auch durch seine Bewohner ist es berühmt worden. Frage nur das trojanische Land, das doch ferne genug ist, das wird dir etwas von der Insel Ithaka zu erzählen wissen!«

Wie herzlich froh war Odysseus, als er den Namen seines Vaterlandes nennen hörte! Doch hütete er sich wohl, dem vermeintlichen Hirten sogleich seinen Namen zu nennen. Er stellte sich, als käme er mit der Hälfte seines Gutes von Kreta, der fernen Insel, her, wo er die andere Hälfte seinen Söhnen zurückgelassen. Mord, an dem Räuber seiner Habe verübt, habe ihn genötigt, sich aus der Heimat zu flüchten. So erzählte er eine weitläufige Fabel. Als er am Ende war, lächelte Pallas Athene, fuhr ihm streichelnd über die Wange und verwandelte sich plötzlich in eine schöne, schlanke Jungfrau. »Wahrhaftig«, sprach sie zu ihm, »das müßte ein Ausbund von Schlauheit sein, der dich in Listen besiegte, und wenn es auch eine Gottheit wäre! Selbst im eigenen Lande legst du die Verstellung nicht ab! Doch reden wir nicht länger davon; bist du doch der Klügste aller Sterblichen wie ich die Einsichtsvollste unter den Göttern. Mich hast du aber doch nicht erkannt, hast nicht geahnt, daß ich auch zuletzt noch in allen Gefahren neben dir stand und dir die Liebe des Phäakenvolkes zuwege brachte. Und jetzt bin ich gekommen, um dir das geschenkte Gut verbergen zu helfen, zugleich, um dir zu sagen, was für Prüfungen dich im eigenen Palaste erwarten, und Rat darüber mit dir zu pflegen.«

Staunend blickte Odysseus an der Göttin empor und antwortete ihr: »Wie sollte auch ein Sterblicher dich erkennen, erhabene Tochter des Zeus, wenn du in allerlei Gestalten verkleidet ihm begegnest! Habe ich dich doch nicht in deiner eigenen Gestalt gesehen, seit Troja zerstört ward, nur daß du im Phäakenlande dich mir zu erkennen gegeben und mir den Weg in die Stadt gezeigt. Jetzt aber beschwöre ich dich bei deinem Vater: sage mir, ist's wirklich wahr, daß ich im geliebten Vaterlande bin, und tröstest du mein Herz nicht mit einer Täuschung?« »Überzeuge dich mit deinen eigenen Augen«, antwortete Athene; »erkennst du nicht die Bucht des Phorkys, den Ölbaum dort, die Nymphengrotte, wo du so manche Sühnopfer dargebracht hast, und jenes finstere Waldgebirg, es ist ja das dir wohlbekannte Neriton!« So sprach Athene und zerstreute schnell den Nebel vor den Augen des Helden, daß das Heimatland klar vor ihm lag. Erfreut warf sich Odysseus auf die mütterlicher Erde nieder, sie zu küssen, und betete zu den Nymphen, den Schutzgottheiten des Ortes, wo er stand. Hierauf half ihm die Göttin die Habe, die er mitgebracht hatte, in der Felskluft verbergen, und als alles wohl versteckt und ein Stein davorgewälzt war, setzten sich Göttin und Held unter den Olivenbaum und beratschlagten über den Untergang der Freier, von deren frechen Werbungen in seinem eigenen Hause sowie von der Treue seiner Gattin Athene ihrem Schützling ausführlichen Bericht erstattete. »Wehe mir!« rief Odysseus, als er alles vernommen, »hättest du mir nicht alle diese Umstände verkündigt, gnädige Göttin, so hätte mich zu Hause ein ebenso schmählicher Tod erwartet wie den Agamemnon in Mykene. Wenn aber du mir ernstlich deine Hilfe gewährest, so fürchte ich, der einzelne Mann, selbst dreihundert Feinde nicht.«

Hierauf erwiderte die Göttin: »Sei getrost, mein Freund; nimmermehr werde ich dich versäumen. Vor allen Dingen will ich dafür sorgen, daß kein Mensch auf diesem Eilande dich erkenne. Das Fleisch um deine stattlichen Glieder soll zusammenschrumpfen, dein braunes Haar vom Haupte schwinden; deinen Leib hülle ich in einen Kittel, in welchem jedermann dich nur mit Abscheu betrachtet; deine strahlenden Augen mach ich blöde, so daß du nicht nur den Freiern, sondern auch deinem Weib und deinem Sohne ganz entstellt erscheinest. Zuerst nun heiße ich dich deinen redlichsten Untertan aufsuchen, den Hirten, der die Schweine bewacht und mit treuer Seele an dir hängt. Bei der Quelle Arethusa am Koraxfelsen wirst du ihn finden, wie er seine Herde hütet; dort setzest du dich zu ihm und erkundigst dich nach allem, was zu Hause vorgeht. Unterdessen eile ich nach Sparta und rufe deinen lieben Sohn Telemach zurück, der dort beim Fürsten Menelaos nach deinem Schicksale geforscht hat.« »Ei, warum hast du ihm nicht lieber alles gleich gesagt«, fragte Odysseus etwas ärgerlich, »da dir doch alles bekannt war? Sollte etwa auch er im Elend auf dem Ozean umherirren gleich mir, während Fremde sein Gut verpraßten?« Aber die Göttin sprach ihm Mut und Trost ein und sagte: »Ängstige dich nicht um deinen Sohn, mein Lieber! Ich selbst habe ihn geleitet, und meine Absicht bei seiner Reise war, den Jüngling in der Fremde zu bilden und ihn sich Ruhm gewinnen zu lassen, damit auch er den Freiern als ein Mann entgegentreten könnte. Auch drückt ihn keineswegs ein Leiden; ruhig sitzt er im Palaste des Menelaos, und nichts, was sein Herz nur wünschen mag, fehlt ihm. Es ist wahr, die Freier haben ihm zu Schiffe einen Hinterhalt gestellt und gehen darauf aus, ihn umzubringen, bevor er die Heimat wieder erreicht. Ich aber fürchte nichts für ihn. Ehe dies geschieht, wird noch viele von den Freiern selbst der Boden decken!«

So sprach die Göttin und berührte den Helden leicht mit ihrem Stab, worauf ihm sogleich die Glieder zusammenschrumpften und er in einen zerlumpten, schmutzigen Bettler verwandelt wurde. Sie reichte ihm den Bettelstab nebst einem garstigen zerflickten Ranzen an einem geflochtenen Tragbande und verschwand.


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