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Der Sohn des Anchises wählte aus allen Schiffen des Geschwaders die ausgezeichnetsten Männer, hundert an der Zahl, als Redner oder Gesandte, die an den Laurenterkönig abgeschickt werden sollten. Diese traten, bebänderte Ölzweige, gleich Schutzflehenden, in den Händen, die Reise an und gelangten bald in die Stadt der Latiner. Vor der Stadt tummelte sich die Jugend Latiums zu Wagen und zu Roß, andere vergnügten sich mit Wurfspießwerfen und Bogenschießen, mit Faustkampf und Wettrennen. Als nun die fremden Gesandten kamen, eilte ein Bote zu Pferd in die Stadt voran und brachte dem alten Könige die unerwartete Botschaft, daß eine Schar großer, herrlicher Männer friedlich herannahe. Dieser befahl sogleich, sie in seine Wohnung zu rufen und versammelte alle die Seinigen um den Thron seiner Ahnen.
Der Palast des Königs war groß und herrlich, in der obersten Burg der Stadt gelegen. Hundert Säulen trugen ihn, und ein heiliger Hain umringte ihn mit hohen, Ehrfurcht gebietenden Bäumen. Im Innern desselben saß auf einem erhöhten Throne Latinus und beschied die Trojaner vor sich. Als sie eingetreten waren, sprach er mit freundlichem Angesichte: »Euer Geschlecht ist mir nicht unbekannt, ihr Dardaniden, und ihr waret mir verkündiget, noch als ihr lang auf dem Meere umherirrtet. Möget ihr nun durch Stürme hieher verschlagen oder absichtlich gekommen sein: wisset, daß ihr an keiner ungastlichen Küste gelandet seid. Verkennet in uns Latinern nicht das harmlose Geschlecht des Saturnus, das ohne Zwang und Gesetz Billigkeit übt und den alten frommen Gebräuchen des Gottes mit edler Freiheit folgt! Auch erinnere ich mich wohl noch, obgleich die Sage durch viele Jahrhunderte verdunkelt ist, daß euer Ahnherr Dardanus aus dieser unserer Gegend abstammen solle.«
Ihm erwiderte Ilioneus, der von allen zum Sprecher ausersehen war: »Kein Orkan hat uns an dein Gestade genötigt, erhabener Sohn des Faunus, kein Gestirn hat uns in der Richtung des Weges getäuscht! Mit freiem Willen erreichten wir dein Ufer, und bewußte Absicht hat uns an dasselbe geführt. Wir sind aus einem herrlichen Reiche vertrieben worden, und der Erzvater unseres Geschlechtes ist Jupiter selbst. Auch unser Fürst und Anführer Äneas, der Sohn der Göttin Venus, ist Jupiters Enkel, und er selbst ist es, der uns in deinen Palast gesendet hat. Den Sturm, der Troja niedergerissen, kennt alle Welt; auch dir ist er nicht unbekannt geblieben. Dieser Verwüstung sind wir entflohen und flehen euch um einen Fleck an, wo wir die Götter unserer Heimat aufstellen können, um ein sicheres Ufer, um Wasser und Luft, die ein gemeinsames Gut aller Sterblichen sind! Es wird Italien nie gereuen, Troja in seinen Schoß aufgenommen zu haben. Stammt doch Dardanus von hier und ruft uns hierher zurück. Auch trieb uns ein besonderes Gebot der Götter, dieses Land aufzusuchen. Damit du aber erkennest, o König, daß wir in Wahrheit diejenigen sind, für welche wir uns ausgeben, so verehrt dir unser Führer Äneas die Geschenke, die wir für dich mitgebracht haben und die freilich nur kleinere Überbleibsel aus Trojas Brande sind: diesen goldenen Pokal, aus welchem der Vater unseres Helden, Anchises, sein Trankopfer zu verrichten pflegte; dies Gewand des hohen Königs Priamus, das er trug, wenn er dem zusammengerufenen Volke Recht sprach, endlich seinen heiligen Kopfschmuck, seinen Zepter und andere Gewande, kunstvolle Arbeit trojanischer Frauenhände.«
Während Ilioneus sprach, hatte der alte König Latinus die Augen unbeweglich zu Boden gesenkt wie ein tief Nachdenkender: er gab wenig auf die herrlichen Geschenke Achtung, welche die Gesandten vor den Stufen seines Thrones ausbreiteten; tief bewegte er in seinem Herzen den Orakelspruch seines Vaters Faunus. Auf einmal wurde ihm klar, Äneas und kein anderer sei der verheißene Bräutigam seiner Tochter, dieser zur gemeinschaftlichen Beherrschung des Reiches ausersehen; aus ihm werde das Geschlecht aufsprießen, das bestimmt sei, über die ganze Erde zu herrschen. Da erheiterte sich seine Miene, er richtete sein Haupt auf und sprach: »Mögen die Götter unser Werk und ihre Verheißung segnen! Ich gewähre eure Wünsche, Trojaner, und eure Geschenke nehme ich an. Nur soll Äneas selbst zu mir kommen und sich vor dem Angesicht eines Freundes nicht scheuen. Ihr aber überbringet ihm mein Anerbieten. Mein ist eine einzige Tochter, die mir das Orakel meines Vaters, verbunden mit andern Wunderzeichen, nicht vergönnt, einem einheimischen Manne zu vermählen. Aus dem Auslande soll mir, nach der Weissagung, der Gatte meiner Tochter kommen.«
Nachdem er so gesprochen, ließ der alte König aus seinem herrlichen Marstall, in welchem an hohen Krippen dreihundert der schmucksten Rosse standen, für jeden Trojaner ein mit Purpur gedecktes Pferd herbeiführen; goldene Ketten hingen den Rossen bis an die Brust herab, das Geschirr und der Zaum ihres Mundes war von Gold. Dem Äneas selbst aber sandte er einen Wagen samt einem Doppelgespann, schnaubende Rosse aus unsterblichem Samen gezeugt.