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17.

Es schläft viel ein im Verlaufe von Tagen, mehr nach Wochen, noch mehr nach Monaten. Unsterblich sind der Haß und die Liebe.

Ein Schrecken war über die Höfe gegangen, als die Flammen auf dem Kreuzbauernhofe das Auszüglerhäuslein verzehrt hatten. Dann hieß es: Jakob Sindig hat mit den Häuslern gebrochen, endgültig und für immer. Das schlug die Angst der Bauern tot. Die Häusler haben keinen Führer mehr. Aus sich selber heraus hätten sie nie gewagt, was geschehen, ist. Jakob Sindig ekelt es, daß sie ihm aus den Fingern glitten, uns freut es. Sie sind feige. Zu rascher Untat wohl bereit, aber der Brand hat ihren Mut verzehrt. Jetzt sitzt ihnen der Schrecken im Gebein. Sie haben keinen Führer mehr. Es ist keiner unter ihnen, der den Sindig ersetzt. Aust? Pah, der ist nicht der Mann dazu. Hofsaat vor Häuslersaat, nicht anders. Wir bleiben die Herren. – Der Kreuzbauer ist seitab gegangen. Gut, wir andern halten desto fester zusammen.

»Wen Gott verderben will, den schlägt er mit Blindheit,« sagte der Vorsteher zu dem Kreuzbauern, als er von den neuen Abmachungen der Bauern, die auf das Alte hinausliefen, hörte.

Auch über den Häuslern hatte es lange wie ein Alp gelegen. Nun fingen sie an, den abzuschütteln. »Wer hat den Brand angelegt?« fragten sie untereinander. »Hast du gesehen, daß einer nach dem Ausgedingehäuslein lief?« – »Ich? Ich stand in der Stube.« – »Ich auch, ich auch.« – »Wer hat das dann getan?« – »Keiner.« – »Am Ende hat der Alte das Feuer selber angelegt, um das Gericht abzuwenden.« – »Wahrhaftig, das könnte wohl sein.« – »Aber er schlug doch an die Tür und wäre verbrannt, wenn ihn Jakob Sindig nicht heraustrug.« – »Hm, ja, das ist wahr.«

Die Köhler riefen die Leute wieder auf den Plan.

Aust stand auf dem Tische. »Wer ist der Hund, der den Brand gelegt hat?«

Es kam keine Antwort. »Redet! Einer muß es gewesen sein. Besinnt euch, Leute, es muß einer nach der Seite gegangen sein. Wen habt ihr gesehen?«

Niemand hatte einen von seiner Seite gehen sehen.

»Hebt die Hand zum Schwure!« Die Erregung schüttelte den Mann. »Männer, Männer, es geht um das Letzte. Er trete heran, der sich hinreißen ließ. Wir müssen uns vor Jakob Sindig rechtfertigen, Männer!« – Da keiner heraustrat, fuhr Aust mit bebender Stimme fort: »Hebt die Hand zum heiligen Eide! Sprecht mir nach: Ich schwöre, daß ich den Brand nicht in des Kreuzbauern Auszüglerhaus geworfen habe.«

Sie hatten die Arme gehoben mit gespreizten Fingern, sie sprachen den Schwur nach. Einer aber lallte unverständliche Worte. Das war Valentin Heubacher. Er hatte wohl den Arm gehoben, aber die Finger eingeschlagen. So schwur er keinen Meineid.

Aust war erschöpft. »Gut,« sprach er, »Jakob Sindig wird sich besinnen.«

Sie saßen, und die Flasche kreiste, sie standen auf und warfen die Schürstangen, sie gingen heim und sprachen davon, daß Jakob Sindig wiederkommen müsse. –

Über die Hanghäuser war wieder ein Hagelwetter gegangen. Der frohe Friede hatte seinen Mantel zusammengerafft, sein Antlitz verhüllt und war davongeflogen. Die Angst eilte auf flinken Füßen von Haus zu Haus. Frauen klagten: »Soll denn nie wieder Ruhe bei uns werden? Was haben wir getan, daß sich das Elend so hartnäckig an uns hängt?«

Die Männer gingen düster einher. Aufwallend redeten sie zornige Worte, tranken, lachten und – ließen darauf zage die Köpfe hängen. »Was soll werden, wenn Jakob Sindig bei dem bleibt, das er angefangen hat? Es war einem so wohl; schier ein Mensch war man geworden, der weiß, daß ihn der im Himmel auch zur Freude bestimmt hat, und jetzt grollt es von allen Seiten wie bei einem Gewitter. Man wagt es kaum, den Kopf zu heben. Wo wird es einschlagen, und wer wird liegenbleiben?«

Was der alte Bastian Krüger getan, das hatten die meisten getan. Das Saatgetreide war aufgezehrt. Nun kamen sie auf die Höfe: »Gebt uns Saatgut.« Und die Bauern verlangten den Eid.

Aust war bei Jakob Sindig gewesen, ihm von der Verhandlung auf dem Kohlerplane zu berichten. Der trat vor den Abgesandten. »Aust, du glaubst an den Eid? Ich sage dir, wer den Mut hatte, das Feuer anzulegen, der hat auch den Mut zu einem Meineid. Rede mir nicht dagegen. Es ist aus zwischen mir und euch. Ihr hattet mich aus schwer errungenem Frieden gerissen. Ich bin euch gefolgt, weil mich das Erbarmen trieb. Nun habe ich nach neuem Kampfe neuen Frieden gefunden. Jetzt rüttelt ihr vergeblich. Ich komme nicht wieder zu euch. Unsere Wege gehen auseinander.«

»Die Bauern aber verüben neue Gewalttat.«

»Schafft euch Recht, wie ihr mögt.«

»Ist das dein letztes Wort?«

»Mein letztes.«

»Jakob Sindig, dann kommt über dich, was geschieht.«

Da faßte ihn Jakob zornig an der Brust. »Aust, ich rate dir, laß das Drohen!«

Aust ging verdrossen und betrübt von dem Moore fort. Drei Tage später hing, wie einstmals, ein Zettel an der Tür des Moorgutes: »Komme am Sonntag auf den Köhlerplan!«

Jakob Sindig riß den Fetzen herab. So noch dreimal, ob auch der Ruf drohender wurde.

Die Häusler hatten die Winterarbeit hinter sich geworfen. Den Acker wollten sie bauen, nun die Zeit dazu wieder da war. Sie schrien förmlich nach der Hacke. Und ob sie schon nicht wußten, was sie säen sollten, so hackten sie doch und scharrten, richteten das Feld her und saßen am Rande nieder und weinten. Der und jener warf ab, was er lange zäh festgehalten, ging am Abend auf seines Bauern Hof, streckte ihm die Hand entgegen: »Ich gehe unter den Eid. Hofsaat vor Häuslersaat.«

Am nächsten Tage arbeitete er bei dem Bauern, und am Abend ging er über seinen steinigen Acker und warf die Körner aus. Wenn ihn dann die anderen sahen, die sich nicht beugen wollten, so riefen sie ihm höhnende Worte zu und warfen mit Steinen nach ihm.

Sie kamen erneut auf dem Köhlerplane zusammen, berieten und tranken, fluchten und schrien nach dem Führer.

»Aust,« fragte einer der Häusler, »hast du nicht gesagt, man muß ihn totschlagen, wenn er nicht kommt?«

»Ich weiß nicht, was ich sagte, aber sprächest du auch wahr, wer ist, der Jakob Sindig totschlagen will?«,

»O, zu vielen wird man das wohl können, nur allein nicht.«

»Gut,« Aust sprach scharf, »wer will gegen Jakob Sindig angehend – Ihr scheint wenig Lust zu haben. Mir ist, ehe wir Jakob Sindig am Boden haben, liegen viele von uns da und brauchen keinen Acker mehr und kein Brot. Wer hat Lust danach?«

»Warum kann man ihm nicht auflauern und ihm eine Kugel in den Bauch jagen?« warf der Köhler Sichert ein.

Aust fuhr erschrocken zurück. »Mensch, was sagst du da? Das ist, als hättest du mich unter die Dachtraufe gestellt. Ihn totschießen aus dem Hinterhalte?«

Der Gedanke aber hatte in den Herzen gezündet. Die Aufgeregten schrien wild durcheinander, und es erhitzte sich einer am anderen.

»Was ist dabei? Ist er nicht mit uns, so ist er gegen uns.«

»Aber er ist euch doch vorangezogen,« wandte Aust ein, »er hat eure Sache zu der seinen gemacht und litt doch gar nicht darunter.«

»In den Dreck hat er den Karren geschoben; nun läßt er ihn stecken. Sagt, wären wir aufsässig geworden ohne Jakob Sindig? Wer hat den Bauern die gestohlene Herrlichkeit herabgerissen, daß sie dastanden, als wären sie nackt? Wer hat uns das Geld vorgestreckt? Habt ihr nicht gehört, daß er von Zinsen redete? Wo bleibt die Wohltat? Zuletzt sind wir bei ihm nicht besser dran als bei den Bauern. Überlegt es euch. Am Ende war es berechnetes Spiel. Unfrieden hat er säen wollen. Wir sind friedliche Leute gewesen, bis er kam. Haben wir ihm etwas zu danken? Den Dreikönigstanz hat er uns genommen, schuld ist er an dem Eide, den uns die Bauern abfordern, schuld ist er, daß viele von uns fortgezogen sind in die Fremde, schuld, daß uns die Bauern das Saatgut nicht geben. Wir waren friedliche Leute. Er hat uns in den Unfrieden gehetzt. Schlagt ihn tot oder erschießt ihn aus dem Hinterhalte. Ihr tut ein gutes Werk. Weg mit ihm!« Das raste empor. »Weg mit ihm!«

Da kam ein Kichern aus der Ecke, das wie ein Faustschlag wirkte. Der greise Köhler Harbort meckerte und kicherte wie ein Irrsinniger.

Die Männer fuhren auf ihn drein. »Das freut dich, wenn es bei uns um das Letzte geht?«

»Ah nein,« der Alte verschluckte sich vor Lachen, »nur: Den Sindig wollt ihr totschießen? Den? Ist er nicht dem Kreuzbauern in die Flinte hineingelaufen, wie ihr sagt? Meint ihr, den träfe eine Kugel? Kugelfest ist er. Der Kreuzbauer schießt das Schwarze in der Scheibe auf hundert Schritt. Den Langen hat er nicht getroffen. Fft! macht der, wenn er will, und die Kugel fliegt zurück auf den, der sie abschoß. Meint ihr, er wäre sonst dem Bauern stracks vor das Rohr gelaufen? Den wollt ihr totschießen? Da muß ich lachen.«

Die Tür schnappte hinter ihm zu. Er nahm einen langen Weg unter die Füße. –

Über die Männer aber flog es wie eine düstere Wolke. Sie gingen alle unter dem Aberglauben, der gewaltig und drohend seine Fittiche über ihnen schwang und seine Handlanger hatte, den Röder, den Binsenschnitter und die Gesichte der heiligen Zeit.

»Recht hat er, der Alte,« sprach Siebert zaghaft. »Wie er gegen das Rohr lief! Jeden von uns hätte der Bauer getroffen, den Sindig traf er nicht. Habt ihr gesehen, daß der sich geduckt hätte oder auch nur um ein Haar zur Seite gegangen wäre?«

»Es muß aber doch einen Ausgang nehmen,« drängten die Häusler. Plötzlich, wußte niemand, wer darauf gewiesen, war der Ausweg da. Einen neuen Führer muß man haben.

»Aust, du sollst es in die Hand nehmen!«

Der wehrte erschrocken ab.

»Du willst nicht?«

»Nein, nie und nimmer.«

»Wer dann? Siebert, du bist der nächste.«

»Wie komme ich dazu? Laßt mich ungeschoren.«

»Verräter seid ihr. In das Elend habt ihr uns gejagt.«

»Verräter? Wer sagt das?«

»Ich, und noch einmal sage ich es: Verräter! Verräter!«

Es sauste über die Schädel drein, Stühle zerbrachen, war ein wüster Knäuel und wußte keiner, wer Angreifer, wer Verteidiger war. Blut floß, die Augen brannten, Flüche flogen wie Regentropfen.

Am Abend saßen die Männer zerschlagen und fluchend in ihren Häusern. »Zuletzt ist Jakob Sindig an allem schuld, auch daran, daß wir nun uneins sind. So hilft es denn nichts. Es ist aus. Verraten hat uns der Lange. Anstatt uns zu helfen, hat er unser Elend größer gemacht.«

Die Haustür flog krachend hinter dem Hinausgehenden zu.

Als er zurückkehrte, sagte er zornig: »Morgen säen wir. Ich habe mich verkauft.«

Die Bauern aber lachten. »Wer hat recht behalten, wir oder der kluge Vorsteher?«

Das Unwetter schien vorüber zu sein, aber wie die Gewitterregen den Schlamm auf den Feldern ließen, so hatte das Wetter, das die Gemüter erschüttert, neues Unheil zurückgelassen. Etliche der Häusler hatten sich trotz allem nicht gebeugt und lebten doch. Wovon? Ja, wer wußte es zu sagen? Bei dem Buchenhofbauern war gestohlen worden, bei dem Leinert, dem Kreuzbauern, und drüben gegen Steingrund hatte man einen angefallen und einen vor Auenfelde. –

Der alte Köhler war aus dem versammelten Haufen gegangen und hatte einen langen, Weg unter die Füße genommen. Wer achtzig Jahre zu tragen hat, den weiten Weg von dem Köhlerplane durch den Graben hinauf, dann jenseits bis auf des Vorstehers Hof, der wird rechtschaffen müde dabei, und es geht langsam.

Schließlich kommt auch ein Achtzigjähriger an das Ziel, wenn ihn die Liebe zu einem treibt, den er eben vom Tode errettet hat, vom gemeinen Tode aus dem Hinterhalte.

Der Vorsteher ist verwundert, als er den Greis sieht. »Harbort, das muß etwas Besonderes sein, daß du kommst,« sagt er, »setze dich daher, und da ist Brot und ein Branntwein.«

»Ich muß mit dir allein reden, Vorsteher,« spricht der Köhler scheu. »Schicke die Leute hinaus.«

Dann, als er mit dem Hausherrn allein ist: »Weißt du, wer den Brand auf dem Kreuzbauernhofe gelegt hat? Ich will es dir sagen. Auf dem Tische hat Aust gestanden und geschrien: ›Schwört, daß ihr den Brand nicht in das Haus geworfen habt.‹ Sie haben geschworen, haben die Arme gereckt und die Finger gespreizt, wie man das bei rechtem Eide tun muß. Einer tat es nicht. Hinter dem stand ich. Der hat den Arm gehoben, ist grün geworden im Gesicht und – hat die Finger eingeschlagen. So war es kein Eid. Und der es tat, der heißt Heubacher. Nun weißt du es, Vorsteher, tue, was du magst.«

»Harbort,« sprach der Vorsteher erschüttert, »weiß es einer außer dir?«

»Keiner.«

»Versprich mir in die Hand, daß es zwischen uns bleibt.«

»Das braucht es nicht. Nun ist es dein. Du allein weißt es. Ich habe es vergessen, was ich sagte, bin achtzig Jahre, da weiß man heute nicht mehr, was gestern geschah. – Ja, und den Jakob Sindig wollen sie totschlagen.«

»Ist es schon so weit?« fragte der Vorsteher.

»Ja,« der Alte begann wieder zu kichern, »ich habe ihnen gesagt, er sei kugelfest, der Sindig, hihihi.«

»Du bist ein wackerer Mann. Hast du den Sindig lieb?«

»Ja. Hast du ihn lieb, Vorsteher?«

»Wie du.«

»Aber sterben muß er doch. Er hat den heiligen Stein den Hang hinabgeworfen. Nun muß er sterben. Leb wohl, Vorsteher.«

Als der Alte nicht eben lange fort war, kam der Schneider geschlichen.

Er berichtete von dem tiefen Riß, der zwischen die Leute gekommen war. Der Vorsteher studierte förmlich das Gesicht des Sprechers. Wie ist das möglich, daß einer sein Menschenantlitz behält, der so viel Schuld mit sich trägt?

»Schneider,« begann er mit verhaltener, bebender Stimme, »hebe den Arm hoch, den rechten.«

Heubacher erschrak. »Wie sagtest du, Vorsteher?«

»Hebe den Arm,« gebot der Vorsteher mit erhobener Stimme. »So. – Nun spreize die Finger, wie man es bei gerechtem Eide tut. – Sprich mir nach: Ich schwöre – – Sprich!«

»Ich – –« Dem Schneider traten die Augen aus den Höhlen, ein Krampf überlief seinen Körper, das Blut jagte ihm stoßweis rote Wellen über das Antlitz.

»Es ist gut,« sagte der Vorsteher langsam, »du setzest den Fuß nicht wieder in mein Haus. Nesseln müssen wachsen, wohin du trittst, du Teufel. Wenn du mir etwas zu künden hast, so gib mir ein Zeichen von draußen, dann will ich vor das Tor kommen!« –

Des Vorstehers Häusler waren wacker an der Arbeit. Sie hatten sich anfangs gegen deren besondere Art gewehrt, dann aber hatten sie um so emsiger geschafft. Sechs seiner Hangäcker ließ der Vorsteher teils bepflanzen, teils zu Wiesen machen. »Vorsteher,« hatten die Häusler gesagt, »du verkleinerst den Hof und minderst deine Ernten. Warum tust du das? Meinst du, wir arbeiteten dir nicht gerne?«

Der Vorsteher lächelte. »Leute,« dankte er, »das freut mich, daß ihr mir gern zur Hand geht, und ich will daran denken, wenn es einmal not tut, aber was ich begonnen habe, das führen wir durch. Ist beiden Teilen damit geholfen und ist zuletzt nur ein Gewinn für den Hof. Die Äcker, die ihr bepflanzt, tragen kärglich, und es ist um sie ein Kampf ohne Ende. Der nimmt uns Zeit und Kraft, die anderwärts besser lohnen. Wir werden rascher fertig werden mit der Arbeit und können sie doch besser machen. Und wenn ich den andern Feldern gebe, was ich an den kärglichen spare, so geben die mir das, was ich hier verliere, reichlich zurück. Seid wacker, Leute, heute abend gibt es Zwetschenschnaps, und der Heinrich spielt auf der Mundharmonika.«

So standen nach kurzer Zeit auf weiten Flächen an den Hängen grüne junge Fichten, frisch und aufrecht, und auf andern wucherte Gras in langen Halmen. Des Vorstehers Felder aber standen so reich und üppig wie selten. Freude wehte durch das Tal, wogte um den Hof und die Hanghäuslein.

Dem Binsenhofbauern aber flog diese Freude wie ein Gespenst um das Haupt. Sah ihn keiner, wenn er über den Bergrücken schritt, lauernd im Walde stand und mit sengendem neidischen Blicke auf den wachsenden frohen Segen drunten sah. Dann fluchte er auf die Häusler, auf Jakob Sindig, den Vorsteher und blieb zuletzt auf dem hängen. Nicht auf Jakob Sindig. Seine Gedanken gingen nicht die Wege der anderen. Jetzt schien ihm der kluge Vorsteher, der um seine Untat wußte, der Ursprung aller Widerwärtigkeiten und des Niederganges seiner Wirtschaft. Er haßte ihn, sann darauf, ihm einen Streich zu versetzen, der ihn an der Wurzel träfe, und sah doch keinen Weg, der ihm gangbar schien. Acker bei Acker versteinte ihm, selbst die Taläcker sahen aus wie hungernde Menschen, und die Saat stand kärglich.

Dazu das öde Leben auf dem Hofe.

Nun hatte er sich seinem Weibe verraten, und ob er schon nicht fürchtete, daß sie hingehen und ihn anklagen werde, so hatte er doch den letzten Menschen verloren, mit dem er einmal von Herz zu Herz geredet hatte. Sie wehrte sich gegen Blick und Wort, wenn er ihr nahen wollte. Selbst das Kind ging ihm aus dem Wege. Kein frohes: »Vater,« kein Streicheln, kein Liebhaben, keine Wärme eines jungen, reinen Leibes, scheue Augen und rasche Tränen.

Der Hof verarmte zusehends. Der reiche Binsenhof! Noch etliche Jahre, dann war es aus. Die Hangäcker waren schon im nächsten Jahre verloren für alle Zeiten. Wenn man neuen Segen an den Hof binden könnte, Segen, wie er dem Vorsteher zuströmte! Daß man ihm den nehmen könnte! Herrgott! Der Bauer schlägt entsetzt die Faust vor die Stirn. Die Schuhe des Binsenschnitters!

Wer am Morgen der heiligen Dreifaltigkeit, ehe die Sonne ihre Glutfackel hinter den Bergen aufreckt, mit den Schuhen des Binsenschnitters durch das Feld geht, von Ecke zu Ecke, der nimmt dem Felde den Segen und schneidet ihn sich zu. »Führe uns nicht in Versuchung!« keucht der Binsenhofbauer. Die erwachte Stimme aber verfolgt ihn. Narr, dein Land verarmt, dein Hof ist am Verderben und – auf dem Boden liegt, was dich reich macht, was dem verhaßten Manne über dem Kamme den Segen nimmt, den er dir gestohlen, Dir, dir allein! Wie hättest du sonst so verarmen können in der kurzen Frist! Wie deine Felder aussehen! Ist das natürlich? Lastet nicht, deutlich sichtbar, ein Fluch darauf? Vergilt, was man dir tat. Auf dem Boden liegen die Schuhe des Binsenschnitters!

Wie ein Tier in Todesqual wimmerte der Bauer, umschlang einen Fichtenstamm: »Führe uns nicht in Versuchung!«

Er ging heim, halb lahm und müde. Jetzt eine Hand, die ihm über die Stirn streicht, und er sinkt zusammen, nimmt allen Unrat seines elenden Lebens, wirft ihn von sich und steht auf als ein armer – reicher Mann.

»Gertrud,« bettelte er, »sage ein gutes Wort, ein einziges, ich bitte dich!«

»Ich kann es nicht.«

Er ging auf sie zu, streckte die Hand nach ihr aus. Das Weib flüchtete in die Ecke. »Rühre mich nicht an, sonst muß ich davongehen. Was weißt du, wie schwer es mir wird, auszuhalten! Rühre mich nicht an!« Das Entsetzen schrie aus ihren Augen.

Da trat er zurück von ihr.

Er arbeitete, er war gütig gegen seine Leute. Wie ein Kind war er, dem das Weinen nahe ist. »Führe uns nicht in Versuchung!«

Acht Tage später stand er wieder, wo er oft stand. Wie das auf des Vorstehers Feldern gewachsen war! Unnatürlich war das. Der April war milde, der Mai ein König, der mit vollen Händen ausstreute. Und alles streute er auf die Felder des Vorstehers und ging an denen des Binsenhofes vorüber.

Man muß ihm den Segen nehmen, den erstohlenen. Wer sagt, daß es Teufelswerk ist? Wer? Wenn dich einer grüßt, der dich am Werke trifft, dann bist du des Todes, Bauer. Um Gott! »Führe uns nicht …« Ah – und wenn du zuerst grüßt? Den Vorsteher, der am Morgen durch die Felder geht, selber ein Binsenschnitter!

Dann liegt er da, ehe das Jahr um ist, und hat nichts von all seinem Reichtum als vier Bretter und ein Sterbehemd.

Trotzig ging der Bauer heim, trotzig ging er durch das Haus und setzte den Fuß auf die Treppe, um hinaufzusteigen, und zog ihn wieder zurück, erschrocken und zitternd. »Führe uns nicht …«

Entscheide dich, Bauer, der Tag rückt heran! Pfingsten ist da, das sonnige, singende Pfingsten.

Noch einmal ging er durch seine Felder. Als ob sie ihn mit weinenden Augen ansähen! Über den Hang wanderte er. Da war Reichtum. Er sah mehr, als da war, und haßte die Freude, die in zitternden Wellen darüber schwang, ballte die Fäuste, kehrte um und ging trotzig die Treppe hinauf.

Da brach ihm der kalte Schweiß von der Stirne. Seine Augen glotzten und bohrten sich in die Ecke. Einen Schritt tat er vorwärts, noch einen. Er lag auf den Knien, kratzte mit den Händen auf der Diele, und sein Herz raste und wollte die Brust zersprengen.

Jetzt kriecht er auf dem Bauche gleich einer Schlange. Langsam, ruckweise, in rasender Angst wie unter Peitschenhieben. So schiebt er sich vor, so langt er in die Ecke und faßt kaltes Eisen. Faßt es und fährt zurück, als habe er in Feuersglut gegriffen. Da liegen sie, die Schuhe des Binsenschnitters. Wie ein Gleißen geht es von ihnen aus, und sie sind doch rostig.

Er springt auf und rennt zurück. Nein, nein!

Die Tage vergehen in Unrast. Heideckers Herzschlag ist ein einziges, wildes, ungestümes Hämmern. Die Tage vergehen! Heute ist Freitag, morgen Sonnabend. Da mußt du es tun, sonst ist es für dies Jahr zu spät. Der Vorsteher erntet, seine Scheuern können den Segen nicht bergen, und deine stehen leer.

Nicht eine Nacht hat der Bauer in dieser Woche geschlafen. Es hat ihn gepeinigt, und fielen ihm die Augen einmal in Übermüdung zu, so fuhr er schreiend empor. Es hat ihn einer gegrüßt, ihn, den Binsenschnitter, nun muß er sterben, und der Tod ist so kalt, ist ein Eisklumpen.

Der Sonnabend vergeht, der Abend sinkt, ein weicher, milder Maienabend. Sternenschein steht über der Welt. Und im Sternenscheine ein Kriechen und Schlurfen auf dem Boden des Binsenhofes, ein Weinen und Beten und Fluchen.

Als Mitternacht vorüber ist, da schleicht einer geduckt und scheu wie ein Dieb aus dem Binsenhofe, hockt auf dem Feldraine nieder, schleudert rostiges Eisen von sich und hebt es wieder auf, geht hundert Schritte und keucht, tritt in den Wald, rennt gegen die Bäume, taumelt, richtet sich auf, kauert an des Vorstehers wogendem Felde nieder, nestelt mit fliegenden Fingern an alten, brüchigen Riemen, hat einen Faden in der Tasche, zieht ihn heraus und hilft nach, bindet, schnürt, stolpert, ist unbeholfen, zittert, und das Herz geht in rasendem Jagen. Der Morgen kommt in schwachem Dämmern über die Berge. Da schreitet der Binsenschnitter durch des Vorstehers Feld. –

Jakob Sindig ist wieder geworden, der er einst war, ein froher, guter Mensch, der Freude machen will, der die Menschen an sich heranreißt, daß sie ihn liebhaben müssen. Die Arbeit ist Freude. Wie das Land ausgetrocknet ist, wie tief der Pflug geht, wie sicher der Weg die Wagen trägt! Hei, wie die Saatkörner fliegen! Die Hälfte kann man besäen, die Hälfte von achtundneunzig Morgen. Das ist ein Bauernhof, ein kleiner nur, aber das Moorland hat lange gewartet, daß es einer zum Geben rufe. Nun gibt es doppelt und dreifach. Die frohe, frohe Arbeit mit schlichten, guten Menschen zusammen!

Jetzt noch, was den Herzenshunger stillt. Jakob Sindig grübelte über Gertrud Heidecker. Er ahnte ihres Handelns Grund, aber er faßte es nicht in seiner herben Größe. War es denn noch nicht genug der Sühne?

Jeremias, Robert Lindner und die anderen wußten viel zu erzählen. Von den Häuslern und den Köhlern, daß sie sich geschlagen, daß der Bund zerrissen sei, daß Aust es abgewiesen, ihr Führer zu werden, und Siebert, der Köhler. Die armen Menschen! Man könne nichts anderes mehr erwarten, als daß die Zeit Besserung bringe. Der Aderlaß sei umsonst gewesen, der Brand auf dem Kreuzbauernhofe habe nichts gebessert. Groß ist der Starrsinn der Bauern geblieben, und groß ist die Not der Leute. Dem allem mußte Jakob Sindig nachdenken. Sie haben ihn den Heiland vom Binsenhofe genannt. Den Heiland! Wen hat er geheilt, wem geholfen? Wunden hat er geschlagen, tiefe, blutende, eiternde Wunden. Und hat es doch nicht gewollt.

Seine Getreuen aber haben Jakob Sindig nicht alles verkündigt, nicht, daß man geschrien hat: »Schlagt ihn tot!« Nicht, daß man ihn aus dem Hinterhalte niederstrecken wollte, den kindguten Menschen, der an das Gute glaubte, der es an das Licht der Sonne reißen wollte.

Und vom Binsenhofe wußten sie zu erzählen. Marlene, die Altmagd, hatte es Annedore vertraut, daß der Bauer wie ein Irrsinniger sei, daß sie die Bäuerin habe schreien hören wie in Todesnot: »Rühre mich nicht an!« Daß selbst das Kind den Vater fliehe. Die Felder stünden jämmerlich, zehn Hangäcker seien versteint, und gegen die zwei Häusler, die ihm geblieben, den alten Ebert und den Metzner, sei der Bauer ungleichmäßig, heute wie Stahl, morgen wie ein Schwamm.

Da erblaßte Jakob Sindig. »Warum ruft sie mich nicht?« Er ging hinab an den Hof. Es ist sein Schicksal, daß der Reif kommt, wenn das Herz blühen will. Am Tage ging er hinab und in der Nacht und ging vergeblich. Einmal hatte er den Bauern gesehen wie einen Schatten, einen hastigen grauen Schatten.

Am Tage vor der heiligen Dreifaltigkeit lief ihm der alte Morheimer in den Weg. Es war Abend, und der alte Mann erschrak, als ihm Jakob Sindig in den Weg trat. Dann erzählte er: »Mein Kind hat mich rufen lassen. Es ist aus zwischen ihr und dem Bauern. Nun will sie heim.«

Jakob Sindig fuhr auf. »Was sagst du? Es ist aus zwischen ihr und dem Bauern? Weißt du, was zwischen sie gekommen ist, ob sie freiwillig von ihm geht in festem Willen oder ob sie eine Not treibt, eine von außen her, nicht aus dem Innern heraus?«

»Was soll man sagen, Jakob Sindig? Du fragst rasch und viel. Ich weiß nicht, ob es von außen kommt oder von innen, aber was soll man sagen? Ist wohl eines da wie das andere, wie das immer ist. Und nun will ich hineingehen, Jakob.«

Morheimer traf seine Tochter. »Da bin ich,« sagte er. »Eben habe ich mit Jakob Sindig gesprochen. Er steht draußen, fragte, was dich forttreibe vom Hofe; aber da ich es selber nicht weiß, konnte ich es ihm nicht sagen. Was ist es?«

»Gehe hinein, Vater,« bat die Bäuerin. Dann: »Sindig steht draußen? Gehe hinein, Vater. Nur eben ein Wort muß ich mit Jakob reden, ein ganz kurzes.«

Sie brauchte nicht lange zu spähen nach dem, den sie suchte. »Jakob,« sprach sie rasch und heiß, »ich habe lange auf dich gewartet.«

»Du hast gewartet? Ich bin wohl heute das zehntemal da und habe auf dich gelauert bei Tage und in der Nacht. Jeremias hat mir erzählt von dem Leben, das ihr führt.«

»Was weiß er davon?«

»Daß der Bauer ein Unmensch ist und dich quält.« Er faßte ihre Hand. »Ist es noch nicht genug der Sühne? Haben wir uns nicht redlich gehalten? Sind wir nicht stark gewesen? Ich meine, es ist getilgt, was wir gefehlt haben.«

»Das ist es, Jakob,« sagte die Bäuerin fest. »Kein Mensch steht über uns als Richter, nur wir selbst. Wir aber können uns freisprechen. Wir haben ausgelöscht, was wir sündigten gegen Gesetze, die nur gültig sind, wenn es anders ist zwischen zweien, als es zwischen mir und dem Bauern war.«

»Und nun willst du von ihm gehen, wie dein Vater sagt? Du hast dich hinauftragen lassen zu dem festen Wollen, das einen Strich macht unter einen Irrtum? Wir stehen an dem Lande, das du mir gezeigt hast, an dem schönen, sonnigen? Ich will mit dem Bauern reden, will dich von ihm fordern. Ehrlich, Mann gegen Mann. Nun gehst du von dem Hofe, und in kurzer Frist ziehen wir aus den Bergen, du als mein Weib. Wir gehen hinauf zu Wilm Larns, zimmern uns ein festes Leben, und kein Gewitterwasser soll es uns zerreißen.«

»Nein, Jakob,« sagte Gertrud Heidecker traurig, »es ist aus.«

Sindig erschrak. »Was ist aus? Zwischen dir und dem Bauern doch, und das sagst du traurig? Hast du ihn doch einmal – liebgehabt?«

»Danach mußt du nicht fragen. Aus ist es zwischen mir und dem Bauern, und aus muß es sein zwischen mir und dir.«

Da umschlang Jakob Sindig das Weib. »Eh' daß ich das trage, eh' mußt du mir das Herz aus der Brust reißen. Soll ich wieder zum Tiere werden? Gertrud Heidecker, es war eine schreckliche Zeit.«

»Die hast du überwunden und fällst nicht wieder zurück. Des bin ich gewiß. Einmal hat dir die Liebe gelogen. Jetzt ist sie wahr. Und weil sie wahr ist, darum sagt sie: Es muß aus sein zwischen uns. Jakob Sindig, ich habe dich lieb.«

Sie küßte ihn, einmal, dreimal, heiß und lange, schlüpfte ihm aus dem Arme, faßte seine Hände, drückte sie sich an die Augen. »Weil ich dich liebhabe, muß es aus sein zwischen uns. Leb wohl, Jakob.«

Sie war in das Haus zurückgekehrt.

Jakob Sindig riß die Weste auf und bot die heiße Brust dem Nachtwinde dar. Weil sie mich liebhat, darum muß es aus sein zwischen uns, und weil ihre Liebe wahr ist, darum müssen wir voneinandergehn? Du dort droben, gib mir kein Rätsel auf, das ich nicht raten kann, sonst muß ich dir das Leben vor die Füße werfen. Hast du denn nicht ein einzig Tröpflein Gutsein für mich übrig? Muß ich denn durch lauter Jammer gehn?'

Er lief in die Nacht hinaus, langsam und rasch, wie es kam, setzte sich nieder, warf das Gesicht in das Gras, wanderte über Wiesen und Hänge, durch Wald und an Saaten vorüber, wanderte, bis die Sonne sich zur Tagesreise anschickte. –

Auf dem Binsenhofe fragte der alte Morheimer sein Kind, was für ein Schreckliches es sei, das sie von ihrem Manne treibe.

»Ich kann es dir nicht sagen,« klagte die Bäuerin.

»Wo ist dein Mann?«

»Er kommt wenig mehr in die Stube. Vielleicht, daß er einmal hereinschaut, wenn wir dasitzen. Reden aber wird er nicht und nicht fragen. Es treibt ihn etwas um, etwas Furchtbares. Vielleicht auch, daß noch ein Neues dazugekommen ist, das ich noch nicht weiß. Vater, ich bitte dich, nimm mich heim. Ich sterbe hier, ich erfriere, ich verbrenne!«

Der Alte nahm sein Kind in die Arme. »Für diese Nacht bleibe ich bei dir. Morgen wollen wir mit dem Bauern reden. Ehe ein Weib von seinem Manne fortgeht, muß da manches richtiggestellt werden. Du sollst mir nicht hier verderben, aber du sollst auch nicht von ihm gehen, ohne daß alles in die Richte gebracht ist. Das sollst du nicht. Da sei Gott vor. Morgen wollen wir es auf rechten Weg bringen.« –

Jakob Sindig wanderte. Die Mondsichel ging über den Himmel und versank. Da stand Jakob, wo er voriges Jahr zur selben Stunde stand, fragte nicht nach dem, was um ihn war, wußte nicht, daß der Tag der heiligen Dreifaltigkeit anbrach, daß der Binsenschnitter durch die Felder ging.

Klappernde Schritte kamen daher. Joseph, der Händler, lachte. »Bist du a wieder da, Jakob Sindig? Lauerst du wieder auf an Binsenschnitter?«

Drunten ging der Binsenschnitter. Quer durch des Vorstehers herrliches Getreidefeld ging er. Es schlurfte und raschelte, als ob der Schreitende etwas hinter sich herschleife, und die Halme bogen sich, wirbelten durcheinander, sanken und richteten sich, als der Fuß über sie hingegangen war, lebenshungrig wieder auf zu halber Höhe, als sträubten sie sich gegen das Sterben.

Und dann trat einer jenseits aus dem Walde, stutzte, duckte sich, schlich wie eine Katze, kam heran an des Vorstehers Feld und rief schmetternd: »Hoho, Binsenschnitter!«

Dem aber, dem der Ruf galt, riß es den Kopf in den Nacken, er sprang hoch auf, gerade in die Höhe, gurgelte, faßte nach dem Herzen und schlug nieder, mitten in die Halme hinein.

Valentin Heubacher aber lachte laut auf und ging gemächlich zur Seite des Feldes hin, dem Binsenschnitter näherzukommen.

Der Händler warf den Kasten ab. Jakob Sindig rannte hinab, sprang in langen Sätzen, und der Händler war hinter ihm her.

Heubacher hörte das rasende Laufen, blickte auf und fluchte: »Der Lange, verflucht, der Lange!«

Da standen sie vor dem Zusammengebrochenen. Sindig kehrte ihn um und erschrak. Glasig die Augen, blau angelaufen das Gesicht.

Heidecker war tot. Der Schreck hatte ihn getötet, das rasende Herz zerriß.

»Was sind das für Schuhe, die er trägt?« fragte Jakob verwundert.

»Die Schuhe des Binsenschnitters,« rief der Schneider und heuchelte Entsetzen.

»Der Tor! Faß an, Schneider, wir tragen ihn auf seinen Hof.«

Der aber zeterte: »Schlag mich tot, Sindig, aber einen Binsenschnitter rühre ich nicht an.«

»Das tut er nit, der Schneider,« sprach der Händler verächtlich, »der nimmt nur a Lebendigen Maß und mißt ihna die Not auf 'n Leib. – Dort liegt mei Kasten. Den huck auf und trag ihn auf des Vorstehers Hof. Ich komm nach in a guten Stunden. – Ho hopp, Sindig, stad, ich bin a alter Mann.«

Den Berg hinauf trug Sindig den Toten allein, den Hügel drüben nach dem Hofe zu trugen sie ihn zusammen.

Gertrud Heidecker war wach. Als die Männer den Bauern auf die Bank in der Stube niederlegten, trat sie herein. Einen Blick warf sie auf den Mann, sah die Schuhe, die rostigen Schuhe des Binsenschnitters, und klagte dumpf: »Auch das noch!«

Der alte Morheimer kam. »So habt ihr ihn gefunden?« fragte er.

»Ja, in des Vorstehers Felde,« berichtete Jakob Sindig.

»Wer hat ihn gegrüßt?« forschte der Alte.

»Der Schneider.«

»Er hat die Schuhe gesehen?«

»Ja, er stand mit uns zusammen neben ihm.«

»Dann ist es aus. – Nehmt ihm die Schuhe ab.«

Jakob Sindig schnitt Riemen und Schnüre durch, polternd fielen die eisernen Schuhe zur Erde.

»Ich bitte dich, Jakob, trage sie in die Lokwa hinab, daß keiner sie wiedersieht und an sie rührt.«

Gertrud Heidecker saß neben dem Toten, blickte ihm in das Gesicht und schlug die Hände vor die Augen. Morheimer trat heran und drückte die Lider auf die toten Sterne, aber sie fuhren wieder zurück. Da breitete er ein Tuch über das verzerrte Antlitz.

Joseph legte der Bäuerin die Hand auf die Schulter. »Das is a schwerer Schlag, a recht a schwerer, den Mann zu verlieren und auf so a Weise, aber wenn die Leute nu narrisch sein und auf ihn fluchen und sagen, der Teufel habe ihn umbracht, nachher ruf uns zu Zeugen; wir haben gesehn, wie es kam. Ist niemand schuld als der Schneider. Dei Mann aber, Bäuerin, das is a recht a Abergläubischer gewesen und a Furchtsamer.«

Er ging langsam hinaus, und Jakob Sindig rief ihm einen Dank nach.

Nun war es eine Weile ganz still in der Stube. Da fragte der alte Morheimer: »Wie kam es, Jakob, daß du am Wege warest?«

»Das kann ich dir nicht sagen, Morheimer, aber das sollst du wissen, daß ich nicht ausging, dem Bauern zu begegnen.«

Gertrud Heidecker sah beide mit einem traurigen Blicke an. »Nun ist das anders als gestern,« sprach sie. »Ist es auch nicht besser geworden, so darf ich doch jetzt eines, das ich gestern nicht durfte. Jetzt darf ich reden. Ihr habt ein Recht darauf. – Der Bauer hat Kaspar in das Moor geworfen. Er war ein Mörder.«

Morheimer drückte beide Fäuste an die Schläfen. Nun wußte er, warum es aus war auf dem Hofe.

Jakob Sindig fuhr zurück. »Das war es, was zwischen uns lag?«

»Das war es,« antwortete die Bäuerin müde.

Morheimer reckte sich. »Zwischen euch?«

»Ja, zwischen uns,« sprach sein Kind.

»Jesus, Weib! – Jakob Sindig! – Das, das! Weib! – Und vor dem Toten redet ihr davon?«

Gertrud Heidecker trat vor den Vater. »Vater, ich sage dir, es war rein geworden zwischen uns, so rein, daß Gott selbst uns nicht verdammen kann. Es ist unser allein. Niemand soll die Hand danach ausstrecken. Das sage ich dir. – Jakob, ich bin eines Mörders Weib gewesen und eines Binsenschnitters und nicht mehr wert, daß ich an deiner Seite stehe. – So war das gemeint. Nun darf ich reden.«

»Aber du darfst es heute nicht ausmachen, Bäuerin. Du gehörst nicht mehr dir, und Jakob Sindig läßt sich, was ihm gehört, nicht aus den Händen nehmen, nicht von einem Lebendigen, nicht von einem Toten.«

»Und das macht ihr aus vor dem da?« eiferte Morheimer wieder.

»Ja,« sprach Sindig fest, »nun ist es gesagt, und es ist klar. Daß er tot ist, das gibt uns ein Recht, das wir uns, wenn er lebte, zuletzt doch hätten nehmen müssen. Dann galt es vor den Leuten für unrein. Jetzt werden sie es rein nennen. Schier lachen müßte man!«

»Habt Achtung vor dem Tode, wenn ihr sie schon nicht vor dem Toten habt,« rief der Vater drohend.

»Eifere nicht,« mahnte Sindig, »dem Toten soll sein Recht werden, aber darüber steht unser Recht. Wir leben. – Wann wird man ihn begraben?«

Da hub Morheimer an zu jammern. »Begraben? Wer wird ihn begraben, den Binsenschnitter?«

»Das war doch nur ein Irrtum,« wandte Jakob ein, »er ist nicht gestorben, weil er ein Binsenschnitter war. Am Schreck ist er gestorben, und der Aberglaube hat ihn totgeschlagen. Warum soll man ihn nicht ehrlich begraben?«

Der Alte weinte lauter. »Jakob Sindig, ehe sie dulden, daß er auf dem Friedhofe schläft, schlagen sie dich tot und uns alle. Mit Steinen werden sie nach uns werfen.«

Gertrud Heidecker stand starr vor dem, was der Vater kommen sah. Er redete wahr.

Jakob Sindig schüttelte den Kopf. »Solange bin ich schon unter euch, und noch immer tritt Neues vor mich hin, das mir fremd ist, und das ich nicht verstehe. – Man sollte ihn nicht auf dem Friedhofe ruhen lassen, weil er ein paar alte Eisen unter den Füßen trug, durch ein Feld lief und am Schlage starb?«

»Ich sage dir, er starb als Binsenschnitter. Du erzählst, der Schneider habe ihn gesehen. So wissen sie es jetzt schon auf etlichen Höfen und in vielen Häusern. Ach Gott! Nun sind wir unrein unter ihnen! – Ich bitte dich, gehe nicht wieder an das Moor. Es wird dir nicht schwer werden, meinem Kinde beizustehen, und sie wird dich brauchen in diesen Tagen.«

»Laßt Jeremias rufen,« riet Sindig, »er soll zum Pfarrer nach Niederau gehen und bei dem Schreiner den Sarg bestellen. Das andere wollen wir abwarten.«

Die Männer trugen den Toten in ein leeres Gewölbe.

Das Gesinde begann an die Arbeit zu gehn. Gertrud rief die Kleinmagd und sandte sie zu Jeremias.

Der alte Morheimer kündete es der Altmagd und Wilhelm, daß der Bauer am Schlage gestorben sei.

»Er hat den Tod seit Tagen im Gesicht getragen,« sagte Marlene darauf, »und mir scheint, es ist einer erlöst, dem das Leben sachte zu schwer wurde.«

Dann ging sie in die Viehstände und an die Ställe der Schweine, klopfte an und verkündete es den Tieren, daß ihr Herr tot sei. Hernach trat sie wieder in die Stube, und als sie sah, daß die Fenster geschlossen waren, riß sie eines weit auf, daß die Seele des Toten hinausfliegen könne, hinaus und hinauf.

Jakob Sindig ging an die Lokwa hinab. Er trug die Schuhe des Binsenschnitters unter der Jacke und warf sie mit starkem Schwunge in das Wasser. Als er zurückkehrte, war Jeremias da. Den beauftragte er, bei dem Pfarrer in Niederau die Beerdigung zu bestellen und bei dem Schreiner den Sarg.

Er saß mit der Bäuerin und ihrem Vater zusammen, um über die kommenden Tage zu beraten. Da erzählte Gertrud Heidecker, daß sie von den Schuhen wisse seit dem Tage, an dem Jakob Sindig die Wiege herabgetragen habe. Damals sei der Bauer schier zusammengebrochen unter dem Geheimnis des Hofes. Sie fragten untereinander, ob der Bauer die Schuhe wohl schon früher durch ein Feld geschleift habe. Jakob Sindig aber war gewiß, daß der Bauer, außer heute, nie als Binsenschnitter gegangen sei. Sonst wäre er nicht vor Schreck am Schlage gestorben; es sei ihm dann nicht mehr neu und furchtbar gewesen, was er heute getan.

Im Reden wurden die letzten Tage und Wochen lebendig. Der Bauer war unter seiner Schuld vereinsamt, hatte Beistand gesucht, und keiner hatte ihm den geben können, weil er sich keinem ganz aufgetan. Leicht sei er auf den letzten Weg gewiß nicht gegangen. Und im Reden sank ein mildes Licht auf den Toten. Das Mitleid regte seine Schwingen, und das Erbarmen machte die Herzen milde, so daß auch nicht ein Wort des Gerichtes fiel, daß schier ausgewischt wurde, was Schuld hieß in dem zerbrochenen Leben.

Jeremias kam rasch zurück und war blaß und erregt.

Er bat Jakob Sindig zur Seite.

»Weißt du, wie der Bauer gestorben ist?« fragte er lebhaft.

»Was weißt du davon?«

»Er ist ein Binsenschnitter gewesen. Blau soll er aussehen im Gesicht, und der Teufel hat ihm den Hals umgedreht.«

»Wer sagte das?«

»Als ich an Reisigers Wirtshaus vorüber wollte, riefen sie mich hinein. Die Stube war voller Männer. Sie haben geflucht. Nun wüßten sie, wer ihnen seit langem den Segen von den Feldern genommen. Der Schneider hat dagestanden und erzählt, was er gesehen. Zum Vorsteher hat er gewollt, dem eine Jacke abzumessen, und so hat er den Bauern getroffen. Jakob, ich kann nicht zum Pfarrer gehen, das verlange nicht von mir.«

Jakob Sindig sah ihn mit einem langen Blicke an. »Hm, Jeremias, du kannst nicht tun, um was ich dich bitte? – Ihr laßt euch vom Schneider – – Hm, ja. Hat der Schneider erzählt, daß er des Bauern Totschläger ist?«

»Nein.«

»Er hat ihn gerufen, den schreckhaften Mann.«

»Das mußte er, Jakob. Rief ihn der Binsenschnitter, so starb er.«

»Wär schade um ihn gewesen,« sagte Jakob bitter. »Ich hätte dich für klüger gehalten, gerade dich, Jeremias. Meinst du, daß der Schneider dem Vorsteher vor Tau und Tag eine Jacke abmißt? Was hat der Schneider um die Zeit am Felde zu tun gehabt? Jeremias, der Bauer war ein schwacher Mann, ein Tor war er, der andere aber ist ein Lump!«

»Aber der Bauer trug doch die Schuhe des Binsenschnitters.«

»Die trug er. Zum ersten Male in seinem Leben trug er die verdammten Eisen. – Jeremias, die jetzt mit Steinen nach dem Manne werfen, die kennen ihn nicht. Wüßtest du, wie schwer er sich sein Leben gemacht hat, du würdest Erbarmen mit ihm haben. Und nun gehe ich nach Niederau.«

Da stellte sich ihm Jeremias in den Weg. »Jakob, ich will den Weg wohl machen. Sei mir nicht böse.«

Diesmal dauerte es lange, ehe er zurückkehrte, und als er kam, da war er müde und traurig. Nicht in Bergroda allein wußte man Haus bei Haus, was geschehen war, eilige Füße hatten die Kunde auch nach Niederau getragen. – Der Pfarrer würde kommen, sagte Jeremias. – Am Mittwoch gegen den Abend wollte er den Toten begraben. Der Schreiner aber hatte geflucht über das Ansinnen, das man ihm stellte, und sich verschworen, die Hand solle ihm verdorren, wenn er dem Binsenschnitter einen Sarg mache.

Da lachte Jakob Sindig zornig auf. »Der Pfarrer kommt. Das ist gut. Den Schreiner aber will ich zwingen.«

Andern Tages schirrte er die Pferde vor den Wagen und fuhr nach Niederau. Er spannte die Tiere vor dem Wirtshause ab und ging zu dem Schreiner.

»Schreiner, ich brauche einen Sarg.«

»Bist du der Sindig vom Binsenhofe?«

»Der bin ich.«

»So willst du den Sarg für den Binsenschnitter. Die Hand soll mir verdorren, ehe ich dazu den Hobel anrühre.«

Er warf das Werkzeug von sich, Geselle und Lehrling standen feiernd an den Hobelbänken. Da ging Sindig zur Tür, schloß sie ab und nahm den Schlüssel an sich.

»Ich habe Zeit, Schreiner. Der Bauer wird erst am Mittwoch begraben. Bis dahin wirst du den Sarg fertig haben. Ich rate dir, wehre dich nicht.«

Der Meister eiferte und drohte mit dem Kreisgericht.

»Du kannst an das Gericht gehen. Tue alles, was du mußt, – wenn der Sarg fertig ist. Den nehme ich mit, und ehe er nicht auf dem Wagen steht, gehe ich nicht aus deiner Werkstatt. – Die Bohlen da in der Ecke scheinen mir recht.« Er zog etliche heraus. »Schneid zu, Geselle, ich zahle gut.«

»Rühre den Hobel nicht an!« gebot der Meister.

»Gut,« Sindig setzte sich auf die Hobelbank, »ich habe Zeit.«

Eine Weile fluchte der Meister noch, dann brach er ab und stierte vor sich hin. Kein Hobelstrich zischte, keine Säge schnarrte.

»Hast du den Bauern früher gekannt?« fragte Sindig in die Stille.

»Ja.«

»Ich schätze, er stand in deinem Alter.«

»Ja. Wir waren jung zusammen und haben oft an dem Dreikönigstage in Bergroda getanzt.«

»Er war wohl ein Lustiger?«

»Dann und wann, aber es war kein Bestand in dem, was er tat.«

»So war er schon früher unglücklich?«

»Heidecker unglücklich? Er war doch ein reicher Mann.«

»Und du meinst, damit glücklich?«

»Wenn er doch reich war.«

»Meister, bist du reich?«

»Ich? Da muß ich lachen. Ich reich!«

»Bist du glücklich?«

»Mensch, ich habe ein Weib und drei Kinder, und die sind gut und gerade.«

»So bist du glücklich. – Der Bauer war reich und unglücklich. Ich sage, er war reich, gerade wie du auch sagst.«

»Ist er es nicht mehr?«

»Meinst du, er wäre als Binsenschnitter gegangen, wenn er reich gewesen wäre?«

»Hm, das kann wohl auch ein Reicher tun, wenn er geizig ist.«

»Das war der Bauer, Gott sei es geklagt, aber reich ist er dennoch nicht gewesen. Unter den blutarmen Häuslern freilich, unter den Bauern nicht. Das aber, was er einmal hatte, das ist ihm unter den Fingern zerronnen. Seit dem unseligen Streite zwischen Bauern und Häuslern vollends ging es so rasch bergab, wie wenn Wasser zu Tale rennt.«

»An dem Streite bist du schuld, sagen die Leute.«

»Das sagen sie? – Hm, Meister, ich wüßte gerne mehr davon. Kannst du es mir sagen?«

»Warum nicht? Du verdienst es, daß man dir sagt, was für einer du bist. Und damit du siehst, daß ich mich nicht vor dir fürchte, obschon du uns über bist, uns allen dreien, so will ich dir sagen, was sie reden. Du hast den Bauern die Achtung, die man ihnen darbrachte, von den Schultern gerissen, als du des Eberleins Häuslein kauftest. Du hast die Armen aus dem Frieden in Unfrieden gehetzt. Du bist schuld, daß die Bauern den Eid verlangen, den verfluchten, schuld daran, daß viele in die Fremde mußten, in die Not, schuld an dem Brande auf dem Kreuzbauernhofe, schuld, daß ihnen ihre einzige Freude, der Dreikönigstanz genommen ist, schuld daran, daß sie uneins wurden und sich die Köpfe blutig schlugen, schuld, schuld, schuld!«

»Woher weißt du das alles, Meister?« fragte Sindig.

»Sie erzählen es droben in Bergroda und hier in Niederau, die Häusler, die Flößer, die Köhler, und sie sagen die Wahrheit.«

»Sie sagen die Wahrheit,« erwiderte Sindig dumpf.

»Wie du dich jetzt vor uns stellst und uns zwingen willst mit Drohen, so hast du die armen Leute gezwungen durch deine Kraft und deine schier übermenschliche Größe, die du mißbrauchst. So bist du!«

»So bin ich. – Jetzt laß mich von dem Bauern reden. Meines ist abgetan.«

Und der jammervoll zerschlagene Jakob Sindig redete von Heideckers inwendiger Verarmung und Vereinsamung, goß eine übervolle Schale von Milde über des Toten Leben, riß das Rohe, Herzlose in Fetzen und stellte einen Menschen dar in seiner herzbeklemmenden Nacktheit. Und aus des Toten Seele ließ er den Notschrei laut aufschallen, ging suchend hinab bis zu dem letzten Gange, auf dem ihn die Angst, die nun sein Anwalt ist, getötet.

Des Meisters Haupt war tief und tiefer gesunken. Dann und wann hob er den Kopf und starrte Sindig an. Der schloß zuletzt die Tür auf und sagte: »Der Weg ist frei. Tu, was du mußt, Schreiner.«

Da sprang der Mann auf und trat vor Jakob Sindig. »Nun weiß ich, daß die Häusler und die andern gelogen haben, als sie von dir redeten.« Er schlug mit der Faust durch die Luft. »So schlage ich zusammen, was ich vorhin von dir sagte. – Heran die Bohlen! Heidecker soll einen Sarg haben, den man in fünfzig Jahren noch fest finden wird.« –

Am Himmel stand wieder die Mondsichel, da fuhr Jakob Sindig langsam den Saugraben hinauf, und auf dem Wagen schütterte leise der Sarg. –

Hat in diesen Tagen einer in Bergroda die Hand gerührt? Keiner. Auf den Höfen nicht, nicht im Walde, nicht in den Hanghäuslein. Reisiger konnte den Dreikönigstanz, der ihm entgangen war, verschmerzen. Der Maientanz dauerte länger. –

»Wißt ihr, daß Sindig den Sarg in Niederau geholt hat?« fragte Heubacher. Und dann: »Wißt ihr, wer des Binsenschnitters Grab gräbt? Jakob Sindig. Nicht außerhalb der Mauer, nicht an der Mauer, nein, neben Gottfried Hempel, dem wackeren, frommen, guten Gottfried Hempel.«

»Schneider,« rief Aust drohend, »Hund, du hetzest! Tritt her, sage die Wahrheit. Du stehst vor dem Gericht und unter Eid. Es ist genug des Redens; jetzt sollen deine Worte sein wie Felsblöcke, die wir aufeinandersetzen. – Hast du den Bauern als Binsenschnitter gehen sehen?«

»Ja. Durch die Felder des Vorstehers ging er.«

»Weiter: Du sahest die Eisenschuhe mit den Sicheln an seinen Füßen?«

»Bei meinem Leben.«

»Weiter: Du sahest sein Gesicht. Wie sah es aus?«

»Heilig: Blau, und die Augen waren weit und glasig.«

»So dürfen wir nicht dulden, daß er auf dem Friedhofe begraben wird. Kommt zum Vorsteher!«

Sie zogen hin. »Vorsteher, der Bauer darf nicht auf dem Friedhofe liegen. Keiner wird neben ihm schlafen können. Wollen wir uns selber Dreck in das Gesicht werfen?«

»Ihr habt euch mit anderem mehr besudelt als damit, daß der Bauer auf dem Friedhofe ruht,« sagte der Vorsteher hart. »Stört ihr das Begräbnis, so wißt, daß in Niederau vergitterte Fenster sind vor kahlen Zellen mit Holzpritschen. Geht heim! Ich rate euch gut. Es hängt viel über euch, sieht stark nach Aufruhr aus. Denkt an den Brand auf dem Kreuzbauernhofe. Geht heim, es hängt am Schnürlein. Seid ihr ungebärdig, lasse ich fahren.«

Das verschlug den Leuten die Widerrede. Sie gingen, saßen wieder in Reisigers Stube, berieten und kamen dahin überein: Begräbt man ihn schon, und kann man das nicht hindern, so scharren wir ihn wieder aus und werfen den Sarg über die Mauer. – Und dann: Das tut uns Jakob Sindig an, der, von dem wir glaubten, er meine es gut mit uns. Das ist sein Gutmeinen, daß er uns das Letzte besudelt, das wir haben, den Friedhof. Nun können wir da nicht einmal in Frieden schlafen. Weg mit ihm! Trifft ihn keine Kugel, so trifft ihn ein Stein. Weg mit ihm!

Aus Reisigers Wirtsstube kamen die Reden in die Häuser. Schande tut er uns vor aller Welt an, der Jakob Sindig. Was will er hier, der Fremde? Ist auch das kleinste Gute unter seinen Händen geworden?

Und was bittere Not, treuer, guter Wille und kindgute Selbstlosigkeit nicht fertiggebracht hatten, das brachten der Tod des Binsenschnitters und sein Begräbnis fertig. Die Bauern kamen zu den Häuslern und berieten mit ihnen. Heidecker hatte sie bestohlen und sie im Leben geschändet. Noch über den Tod hinaus würde er sie schänden, wenn er unter ihnen auf dem Friedhofe ruhte. Das muß man verhindern. Was ist zu tun!?

Als ihnen die Häusler erzählten, daß sie bei dem Vorsteher gewesen seien, daß der sich drohend recke, von den vergitterten Fenstern gesprochen habe und davon, das Schnürlein loszulassen, da duckten sie sich. Der Vorsteher! Da stand er da wie ein Berg, und man kam nicht an ihm vorüber. Wenn einer vom Gericht in Niederau kam und den letzten Ursachen der Geschehnisse auf den Grund ging, dann mußte ein grelles Licht auf das fallen, was die Bauern lieber im Verborgenen wußten. Heubacher aber blies in die Glut, daß sie jach aufloderte. So erreichte er, was er lange gewollt. Über die Leute kam allmählich die wortlose Entschlossenheit. Man wird den Binsenschnitter nicht auf dem Friedhofe dulden, und Jakob Sindig muß aus dem Wege, so oder so! –

Der alte Morheimer und Jakob Sindig blieben auf dem Hofe. Auch das Gesinde wußte nun, wie der Bauer gestorben war. Die einzige, die damit fertig wurde, war Marlene. Wilhelm und die Kleinmagd waren daran, den Hof zu verlassen. Jakob aber vermochte mit guten Worten, sie an der Arbeit zu halten, und weil sie ihn und die Bäuerin liebhatten, blieben sie, aber sie gingen scheu durch das Haus und fürchteten die Nächte.

Auch am Moore stockte die Arbeit. Jeremias versuchte wohl, in Jakob Sindigs Sinn zu schaffen, aber die Arbeiter waren unfrei. Der Zweifel fraß an den armen Menschen. Ein einziger Blick in Jakobs Augen hätte ihn totgeschlagen, aber Jakob kam nicht an das Moor. So hingen Wolken in der Lust, und man wußte nicht, was sie bargen, einen Regen, wenn auch ungestüm und nicht eben wohltätig, oder den tötenden Blitz.

Sie verstanden Jakob Sindigs Tun nicht mehr. Daß er doch die Hände von dem ließe, was er übernommen! Was hat er dem Binsenhofbauern zu danken? Hat der ihm je etwas Gutes getan? Die Armen, die sich einst Sindig entgegenreckten, drohten ihm mit dem Tode. Und das war kein leeres Gerede. So weit waren sie schon, daß sie mit trotzigen, finsteren Mienen einhergingen. Sie sprachen nicht einmal mehr darüber. Jetzt war es an Jeremias, das letzte zu versuchen.

»Ich weiß noch etwas, das Jakob wieder heraufbringen wird,« sprach er zu seinem Weibe. »Wenn ich ihm das sage, dann wird er die Hand von dem Toten abziehen. War der auch schon wirklich nicht des Teufels Gefährte als Binsenschnitter, so war er ihm dennoch verfallen. Frage nicht, Annedore, was es ist. Ich sage dir, es ist das Furchtbarste, das ein Mensch wissen kann. Leb wohl und richte Jakobs Kammer. Ich bringe ihn herauf.«

Und dann kam er doch allein.

Gewunden hatte er sich unter dem Bekenntnis, hatte nach Worten gesucht, weil ihm schien, er sei in seinem Vorhaben auch einer von denen, die mit Geißeln auf Jakob Sindig schlugen. Dessen gute Meinung von dem Toten mußte er zerbrechen, und trieb ihn schon treue Liebe, so würde es doch Jakob Sindig weh tun, wenn er erfuhr, daß auch das letzte Flämmchen Milde zu Unrecht über dem Bauern leuchtete. So hatte Jeremias gebarmt und gestottert und abgerissene Worte hervorgestoßen, bis ihm Jakob Sindig die Hand auf die Schulter legte: »Ich weiß, was du dir abquälen willst, Jeremias. Der Bauer hat Kaspar in das Moor geschleudert.«

Da war Jeremias zurückgeprallt. »Bist du allwissend?«

»Ja, Jeremias. Ich weiß auch das andere, das du mir verbirgst. Ich weiß, was die Leute von mir reden, daß ich schuld sei an ihrer Not, am Brande auf dem Kreuzbauernhofe und allem anderen. – Du hast Tränen in den Augen? Meinst du, das täte weh? Das mußt du nicht denken. Es ist wirklich gut, wenn das Herz so langsam gefriert; das tut wohl, viel wohler als die Glut, in der es lange gelegen. Lebe wohl, Jeremias, grüße dein Weib. Ich weiß nicht, wann ich wieder einmal hinaufkomme. Derzeit bin ich auf dem Hofe nötig.« –

Es war ein goldklarer Spätmaientag. Der Mai schickte sich an, sein Zepter dem Sommer in die Hand zu geben, und Bäume und Blumen, Ährenfelder und rauschende Bäche feierten ihm Abschiedsfeste und schwelgten in Schönheit. Da knarrte der Wagen aus dem Tore des Binsenhofes, der den Toten im Sarge trug. Jakob Sindig lenkte die Pferde, Gertrud schritt hinterdrein, Marlene ging ihr zur Linken, der Vater zur Rechten. So war es ein Zug, nahezu ebenso kläglich wie hinter dem toten Kaspar.

An der Lokwabrücke wartete der Vorsteher, entblößte sein Haupt, als der Wagen an ihm vorüberfuhr, und schritt dann neben Jakob Sindig weiter. Um den Friedhof aber standen Männer und Weiber, Häusler, Köhler und Flößer. Die Weiber hingen sich an ihre Männer und bestürmten sie flüsternd, stille zu sein, und erinnerten sie an die vergitterten Fenster in Niederau. Finstere Blicke warfen die Männer auf den Sarg und die, die ihn zwischen den Hügeln an das offene Grab trugen. Am Grabe stand der Pfarrer, aufrecht und mit ernstem Antlitz. Als sie den Sarg auf die Leinen gesetzt, fehlte es an Hilfe, ihn hinabzulassen. Da sah Jakob Sindig Aust draußen stehen, ging an die Mauer und bat: »Aust, lege Hand mit an.« Der aber spuckte vor ihm aus und wandte ihm den Rücken.

Jakob kehrte zurück, der alte Morheimer und Marlene griffen zu. So senkten sie den Bauern ein.

Der Pfarrer sprach ernste, mahnende Worte, und sein Leitwort war: »Richtet nicht, auf daß ihr nicht gerichtet werdet.« Das Wort schlug wie Keulen auf die Häupter derer, die an der Mauer standen, aber es riß ihnen die Köpfe nicht auf die Brust.

»Was soll er sagen, wenn er einen von uns begräbt, wenn er des Teufels Gefährten solche Ehre erweist?« murrten sie. »Fühlt er nicht, daß er uns Schande antut?« Dann zu den Weibern: »Das sage ich dir: Mich begräbt der einmal nicht, der! Scharrt mich ein, schmeißt mir Erde auf das Gesicht. Besser, als wenn ein solcher über dem Grabe spricht!«

Die Feier war zu Ende. Jakob Sindig schaufelte das Grab zu und wölbte den Hügel. Der alte Morheimer lenkte die Pferde nach dem Hofe, und sein Kind und die Altmagd gingen mit ihm. Die Leute verliefen sich. Der Vorsteher aber hielt neben Jakob Sindig aus.

Als er sich den Staub von den Händen klopfte, sagte der Vorsteher: »Jakob, ich habe gewisse Kunde, daß es mit heute nicht abgetan ist. Sie wollen ihm den Schlaf da unten nicht gönnen. Wirst du es über dich bringen, etliche Nächte am Grabe zu wachen, bis sie sich beruhigt haben?«

»Vorsteher,« antwortete Jakob Sindig darauf, »sage ehrlich: Meinst du, daß ich den Leuten auch einmal etwas Gutes getan habe und, wenn es mir fehlschlug, es doch wenigstens gewollt habe?«

»Ja. Das kann ich dir frei und gern bezeugen,« entgegnete der Vorsteher ernst.

»Und die da draußen standen, das sind dieselben Leute, die sich an mich hingen, mir ihr Leid klagten, mich zu ihrem Führer machten?«

»Dieselben, Jakob Sindig.«

»Vorsteher, sind die Leute überall so?«

»Überall und immer. Es ist einer darüber zerbrochen, der mehr war als ich und du und ihnen mehr tat als wir beide. Lebe wohl, Jakob, und – gehe fort aus den Bergen.«

»Nein, Vorsteher.«

Als es dunkelte, ging Jakob Sindig wieder auf den Friedhof, von dessen Gräbern es duftete aus zarten Nachtviolen und gleißte aus goldenen Lettern auf Grabsteinen.

Er wartete, und um Mitternacht vernahm er Tritte nahender Füße. Die schritten durch das Tor und kamen daher. Da richtete sich Jakob Sindig auf, und sie wichen zurück.

Aust trat vor. »Geh fort da, Jakob Sindig. Wir dulden die Schande nicht, die man uns antut. Geh fort!«

Jakob Sindig antwortete nicht. Langsam ging er ihnen entgegen, langsam und hoch aufgerichtet, und sie wichen, leise fluchend, zurück.

Vor der Mauer berieten sie. Dann verloren sich die Schritte in das Tal hinab. In der nächsten Nacht wiederholte sich was in der vorhergehenden geschehen war, aber sie stellten sich an der Mauer auf, und Feldsteine flogen zu dem Wächter am Grabe hinüber, vereinzelt und ohne recht gezielt zu sein. Als der frühe Morgen dämmerte, da war es still. Sie waren heimgegangen.

Und so am dritten Abend. Da aber war der Haufe gewachsen. Es flogen nicht mehr einzelne Steine, es wurde ein Steinhagel. Jakob Sindig harrte aus, und die Steine fielen polternd neben ihm nieder. Des Hüters Standhaftigkeit erbitterte die Angreifer. Der Hagel verstärkte sich, und einer der Steine traf Jakob Sindig in das Gesicht.

»Tiere ihr, blutdürstigen!« schrie Sindig auf. »Ist euch schon der Friedhof nicht heilig, dann soll er es mir auch nicht sein. Hoho, daher zum Kampfe! Hoho!«

Krachend brach ein Holzkreuz unter Jakob Sindigs Händen. Er schwang es hoch über seinem Haupte, stürmte über die Gräber, sprang über die Mauer und rannte den Fliehenden nach.

Denen aber schlug das Entsetzen um die Häupter, etliche schrien wie wahnsinnig aus, schlugen hin, rafften sich empor und rannten schreiend weiter. Da hielt Jakob Sindig inne, strich sich über die Stirne, kehrte zurück auf den Friedhof, wühlte auf einem Grabe und setzte mit linder Hand das Kreuz wieder ein.

»Vergib, du da unten,« bat er, und eine schwere, salzige Träne rann ihm über die Wange.

Am nächsten Tage schrieb ihm der Vorsteher ein paar Zeilen. Es sei nicht not, daß er diese Nacht wieder hingehe, der Tote werde seine Ruhe haben.

Valentin Heubacher war bei dem Vorsteher gewesen, hatte vor ihm auf den Knien gelegen, gewinselt wie ein Hund, aber der Vorsteher war hart geblieben. »Mitleid mit dir, du Mörder und Brandstifter? Entweder oder! Ich glaube, daß es, dir schwer wird, zurückzukrebsen, aber das gilt mir nichts.«

»Vorsteher, es geht doch um Jakob Sindig, der auch dir im Wege ist.«

»Schneider, da laß deine Hände davon. Rede mir nicht von dem, was zwischen Jakob Sindig und mir steht. – Die Leute, die törichten, verblendeten Leute!« –

Da ging Heubacher zu dem Wirte, wo er die Männer wußte. »Laßt ab,« gebot er, »der Vorsteher hatte die Feder in der Hand, nach Niederau zu schreiben. Ich habe es noch einmal mit Bitten abgewendet. Hebt es auf bis auf gelegene Zeit.«

Die Reden wirbelten auf. Der Schneider lenkte sie in andere Bahnen, von dem Toten auf die Lebenden. Er zischte wie eine Natter, hierhin und dorthin und verträufelte Gift.

Reisigers Wirtsstube hatte etliche Tage wieder das Aussehen früherer Zeit. Da lief durch die Täler ein neues, schreckliches Gerücht. Der Binsenhofbauer ging um. Der hatte eine Gestalt gesehen, hohläugig und bebend, und jener. Heute am Friedhofe, morgen nicht weit von der Lokwabrücke.

»Der Binsenhofbauer geht um!« Auch das noch. Das ist das letzte. Der verfluchte Jakob Sindig! Hätte er den Toten den Raben zum Fraße gegeben oder ihn eingescharrt in einem der zahllosen versteckten Gründe in Waldestiefe, an einem Orte, den man meiden konnte, so hätte man vielleicht, vielleicht vergessen können, was er sonst an Nöten über die Leute gebracht. Nun nicht, nun nicht!

»Der Binsenhofbauer geht um!« Das Gerücht flog durch die Täler, flog in die Wälder, flog an das Moor. Und die Leute steckten die Köpfe zusammen. Jeremias klagte: »Das hätte Jakob der Gemeinde nicht antun sollen. Zuletzt haben sie ihn doch liebgehabt. Will er sich dafür rächen, daß sie ihm aus den Fingern geglitten sind und Übles von ihm geredet haben? Am Ende war es doch nur leeres Gerede, und sie hätten nicht getan, womit sie drohten.«

Von den Häuslern blieb einer nach dem anderen vom Moore fort. Zuletzt waren nur Jeremias, Annedore und Robert Lindner übrig, und die gingen bange und scheu durch das Haus.

»Das hätten wir nicht gedacht von Jakob Sindig, und er hätte es nicht tun sollen.« –

Reisiger hatte abermals Erntezeit. Die Bauern, außer dem Vorsteher und dem Kreuzbauern, waren da.

»Ihr Leute,« sagten sie zu den Häuslern und Flößern, »haben unsere Väter nicht mit euren Vätern zusammengelebt und haben einander beigestanden? Haben wir es nicht ebenso gehalten? Haben wir euch nicht den Dreikönigstanz gerichtet und ist eine Freude gewesen, rein und schön? Sind wir nicht Brüder gewesen untereinander, in gleicher Not und in gleicher Freude? Haben wir nicht stets gegeben, um was ihr uns batet?«

»Ja,« sprachen die Häusler darauf, »das habt ihr, und wir waren friedliche Leute.«

»Wer hat den Feuerbrand unter uns geworfen, daß ihr aufsässig wurdet und wir hart?«

»Jakob Sindig,« kam die Antwort.

»Wer hat den Bauern, den wir verfluchen, an geweihter Stätte begraben und sie besudelt für alle Zeit?« fragte der Leinert.

»Jakob Sindig,« antworteten die Häusler.

Aust schlug auf den Tisch, wie es seine Art war. »Ihr Bauern, tut nicht, als seiet ihr Lämmer gewesen. Ihr waret Wölfe, reißende, fressende Wölfe, aber daß Jakob Sindig den Friedhof zum Schindanger gemacht hat, das ist zuviel. Das kann man ihm nicht vergeben. Wenn wir nach Niederau kommen, so weisen sie mit Fingern auf uns: Seht, der kommt daher, wo sie den Satan wie einen Heiligen begraben. Das ist zuviel! Weg den Hof, weg Jakob Sindig!«

Drei Tage stürmte es noch durch Bergroda und stürmte hinauf zum Moore. Da wußte sich Jeremias, in dem Liebe und Enttäuschung rangen, nicht mehr zu helfen. Er schrieb an Wilm Larns und schrie nach ihm. Robert Lindner trug den Brief nach Niederau und rannte damit, als trüge er glühende Kohlen. –

Der Binsenhof hatte viele Tage kommen, viele gehen sehen, hatte Weinen und Lachen, Fluchen und Segnen vernommen, aber niemals hatte er einen so hohen Frieden gehütet wie jetzt. Es hat in diesen Tagen niemand ein Lachen in dem Hause gehört, kaum ein lautes Wort, – dazu lagen die Geschehnisse zu schwer über den Menschen, und des Toten Schatten ragte zu breit herein, – aber Jakob und Gertrud standen mit festem Willen auf Neuland. Sie waren ernst, doch ohne Weichlichkeit, entschlossen und klar. Vom Binsenhofe gingen keine Fäden zur Gemeinde, und es liefen keine von da herein. Er war verfemt. Die da wohnten aber spürten es nicht, so stark entsprach die einsame Stille ihrem Inwendigen. Da blühte der Friede auf, der froh ist auch in der Trauer und sonnig unter Gewitterwucht.

Als Jakob des Vorstehers Zeilen empfangen hatte, in denen er ihm kündete, daß der Tote seine Ruhe haben werde, da hatte er Gertruds beide Hände genommen und gesagt: »Nach dem, was mir der Vorsteher schreibt, ist, was mir bestimmt und in die Hand gegeben war, getan. Gott sei Dank, daß es das ist. Du hast recht gehabt. Es kann keiner den Leuten helfen, die so unvernünftig sind. Ich bin mit einer starken Liebe unter ihnen gegangen. Jetzt stehe ich abseits für immer. Ich werde nie lernen, was Wilm Larns forderte. Hart werde ich nie sein können, und ich verrede es nicht, daß ich dann und wann einem einzelnen beispringe; ihrer aller Sache aber mache ich nie wieder zu meiner eigenen. Und auch darin hattest du recht, daß du sagtest, es lägen auf unserem Wege noch allerlei Steine, und von den Seiten langten Dornen herein, aber ich meine, wir sind nun am Ziele. Wie denkst du darüber?«

Gertrud Heidecker lehnte sich dem Manne in den Arm, leise und leicht. »Wir sind am Ziele.« Eines Augenblickes Länge lehnte sie, dann richtete sie sich auf, stand vor ihm und sprach mit heller, fester Stimme: »Wir haben es uns, da der Tote lebte, nicht leicht werden lassen. Jetzt dürfen wir unseren Herzen nachgeben. – Sage es mir, wenn du die Zeit für gekommen hältst.«

Da neigte sich Jakob Sindig herab und küßte Gertrud Heidecker ganz langsam und zart auf den Mund.

Hand in Hand traten sie an das Fenster. Jakob tat einen Flügel weit auf. Das Korn blühte wieder, und der leichte Wind trug seinen Duft herein. Die Sonne glühte über dem dunkelnden Walde. Das helle Jubellied einer Grasmücke klang aus dem Holderstrauche am Raine wie ein Halleluja in die Seelenfeier der zwei Sieghaften. Sie lehnten eines am anderen und waren in ihrem Reichsein zu arm zu einem Worte, weil keines groß genug war.

Sindig neigte sich aus dem Fenster. »Wie schön es ist. Enge, daß man meint, in einer Kammer zu sein, und groß, daß es einem ist, als säße man in einer Kirche, die der im Himmel selber baute. Hörst du die Lokwa?«

»Gertrud,« hub Jakob nach einer kleinen Weile wieder an, »ich kann nicht dagegen an. Es müssen etliche sein, die wir mit hineinnehmen in die frohen Tage. Was meinst du zu den Moorleuten?«

»Daß du es doch nicht lassen kannst,« sagte Gertrud lächelnd. »Tue, was du magst.«

»Ja, die Moorleute müssen wir mitnehmen und unsere Häusler. Bei denen aber will ich langsam zu Werke gehen, sonst verstehen sie es nicht, daß ich es gut mit ihnen meine. Die Hangäcker, Gertrud, müssen sterben. Erst unsere, dann die der anderen. Wir wollen auf dem Hofe mit gutem Beispiele vorangehen. Die Leute sollen ihr Leben anders einstellen. Können sie nicht von den Feldern, so sollen sie von den Wiesen leben, die an den Lehnen herrlich gedeihen, wie es bei dem Vorsteher deutlich sichtbar ist. – Gott sei Dank, daß da etwas vor mir aufsteht, das mir Arbeit macht. Wohin sollte ich sonst vor lauter Glück?«

Da kam das Kind hereingetrippelt. Es ging lachenden Auges auf Jakob Sindig zu. Der nahm den Knaben auf den Arm, sah ihm forschend in die Augen und sagte: »Er ist ganz wie du.«

»Nein, nein,« berichtigte ihn die Bäuerin, »er hat nur meine Augen, vielleicht auch die nicht ganz.«

Jakob drückte ihn an sich und sagte leise: »Bub, du bist doch nun ein Großer. Jetzt merk' auf, was du sollst. Sag einmal: Vater.«

Das Büblein lachte wie ein Schelm, legte Sindig die Arme um den Hals und zwitscherte ihm mit hellem Stimmchen, fast wie ein Geheimnis, ins Ohr: »Vater.«

Jakob fuhr ihm über den Scheitel, stellte es dann auf die Füße und sagte rauh: »Nun muß ich vorerst einmal hinaus, sonst wird es zu viel.«

So einen Tag wie den andern, und jeder war ein Festtag, und jeder brachte Neues, Schönes. Was war es für ein frohes Schaffen auf dem Hofe. Marlene und die Kleinmagd ließen die Bäuerin kaum an die Arbeit, so leicht ging sie ihnen selber von der Hand. Einmal trat Marlene vor die Bäuerin und sagte: »Was es doch ausmacht, wenn ein rechter Mann auf dem Hofe ist.«

Wilhelm pfiff, und als es ihm die Altmagd um des Toten willen verweisen wollte, da trotzte er: »Es langt, daß er es uns im Leben schwer machte. Nun soll es genug sein. Ich pfeife, wie ich mag.«

Drei Tage lebten die Leute auf dem Binsenhofe noch zusammen in schwer erkämpftem, hart bedrohtem Frieden. Am letzten Abend sagte Jakob bei dem Gutenachtgruße zu Gertrud: »Du, ich weiß nicht, am Ende frage ich bald, wann wir zum Pfarrer nach Niederau gehen wollen.« –

Licht, warmes, frohes Licht auf dem Binsenhofe und Nacht, Unheil brütende Nacht über Bergroda.

Drei Tage wandelte das Gespenst noch durch die Täler und über die Hänge, das Jakob Sindigs reine Stirn zerschmettern sollte, drei Tage rangen sie noch, schraken davor zurück und ließen sich von dem Schneider hineinhetzen in die Flammen. Dann kamen sie.

Dunkle Wolken deckten den Himmel, und in der Ferne wetterleuchtete es. Da kamen sie, wollten ihr Nahen nicht verbergen, fluchten und drohten. Jakob Sindig verstand ihr Rasen nicht, hielt es für einen letzten Versuch, ihn wieder an das Werk zu reißen, das er aus den Händen gelegt, und ging ihnen entgegen, hinaus vor das Tor.

Da stand er, hoch aufgerichtet, hatte die Arme über der Brust gekreuzt und wartete.

Und sie schrien ihn an mit unflätigen Worten. Begeifert warfen sie ihm seine Guttaten, die sie besudelt hatten, in das Antlitz, zerfleischten ihm das Herz, heulten und bleckten die Zähne. Da verstand er und antwortete ihnen nicht.

Die Eisrinde aber, die er um das Herz gefroren glaubte, schmolz, und darunter rann sein Blut, lauter gutes, warmes rotes Herzblut. ›So ist es gut,‹ dachte der Leidvolle. ›Das ist das Letzte, das noch fehlte. Nun erst komme ich ganz frei von ihnen.‹

Die Eifernden wagten sich nicht heran. Nur aus der Ferne warfen sie den Kot nach ihm.

Da hob Aust einen Feldstein auf, einen schweren zackigen Feldstein, hob den Stein auf und schleuderte ihn mit rasendem Arme gegen die Stirn, die in der Dunkelheit leuchtete. Und der Stein bohrte sich tief hinein in das Haupt, in dem himmelhohe Liebe und schwaches Menschentum einen heißen, langen, schweren Kampf geführt hatten. Jakob Sindig brach zusammen.

Die ihn sinken sahen, erhoben ein entsetztes Geschrei, rannten den Hang hinab, schrien wie Tiere, rannten, rannten, bargen den Kopf unter der Decke ihres Lagers, stöhnten auf und schrien: »Jakob Sindig ist tot, Jakob Sindig ist tot!« – Aust stand vorüber geneigt, und seine zerrissene Seele flog in Fetzen hinter dem Steine drein. Als Jakob Sindig niederstürzte, kam es wie ein Murren aus des Flößers Inwendigem. Er wandte sich hart auf dem Fuße, sah fremd in den zu Tale rasenden Haufen und stand außer sich, bis die Seelenfetzen zurückkehrten, aneinander schossen und sich zu formen suchten zu dem, was sie einst gewesen waren. Und da erwies es sich, daß der Mann im Bettlerkleide stand, und daß selbst dies jämmerliche Gewand zu klein war, seine Nacktheit zu decken. So sah er darauf mit verwunderten Augen. »Herrgott, ich bin ja nackend!« Das Verwundern wurde zum Entsetzen: »Nackend und bloß!« Und aus dem Entsetzen wuchs langsam das Verstehen. Er griff mit beiden Händen in den wogenden Nebel der vergangenen Tage, Rechtfertigungsfetzen zusammenzureißen, seine Blöße zu decken, aber die Fetzen zerflossen ihm unter den Fingern. Da blieb er, wie er war, nackt und seines Jammers bewußt.

Er murrte ein verbissenes, tiefes: »Ah«, setzte die Füße voreinander und ging unsicheren Schrittes talwärts.

Vom Himmel flog aufblitzend fahler Schein in die Finsternis, und die Berge grollten.

Aust schritt als Fremdling auf der Heimaterde, einsam und zerschlagen. Er stand still und suchte im Gewitterrollen eine Stimme zu hören, riß seine Augen dem Blitze entgegen und suchte zweier Augen Licht. Suchte und fand keines, weder Stimme noch Glanz.

An der Lokwabrücke aber drängte sich einer an ihn. »Wir wollen uns zusammentun, Aust. Nun der andere, der wie ein Fels vor unserem Wege steht! Aber du bist stark. Einen hast du hingerissen, wirf den zweiten hinterdrein, dann ist es getan, Aust, du mußt – –«

Da suchte der Mann wieder in die Nacht hinaus.

»Was willst du?«

»Jakob Sindig ist tot.«

»Warum hast du das getan, Schneider?«

»Ich? Aust, bist du von Sinnen? Willst du es auf mich wälzen? Ich habe Zeugen.«

»So, ich tat es? Du – redest wohl wahr, ja, das soll wohl sein.« Seine Stimme steigerte sich. »Heubacher, ah – Heubacher – es fällt ein Licht vom Himmel, ah, ein Licht – Heubacher,« er sprach frei und leicht, »komm, der Weg ist gerade, ganz gerade, wir müssen ihn gehen, er führt in das Licht, hörst du, in das Licht!«

»Wohin willst du, Aust?«

Der langte in die Finsternis und griff des Schneiders Arm, neigte sich zu ihm und sagte fröhlich wie ein Kind oder wie ein Irrer: »Gute zwei Stunden, Heubacher, wir sind doch ehrliche Männer.« Und seine Stimme wuchs: »Bist du ein ehrlicher Mann?«

Der Schneider schlotterte: »Aust!«

Da brüllte der Flößer auf: »Ehrlicher Mann, heran! Wir gehen an das Kreisgericht in Niederau!«

Aust stand im Scheine des fernen Wetters vor Heubacher, hatte den Nacken geneigt wie ein Stier vor dem Sprunge, duckte sich dem Schneider entgegen und röchelte. Da riß sich der Schneider mit jähem Rucke los, sprang zurück in die Nacht, taumelte, jagte einen gellenden Schrei hinab in das Tal des Saugrabens, krallte die Nägel in den Fels, daß sie in Fetzen gingen, überschlug sich, schmetterte den Schädel haltlos gegen den Stein, das Wasser plantschte auf, lachte grell, die Wellen nahmen ihn in die Arme, eine warf ihn der anderen zu: Heidi, fang auf, ich mag ihn nicht behalten, obschon ich lange auf ihn gewartet; und so trugen sie ihn fort, weit fort aus der Gemeinschaft der Menschen.

Aust aber neigte sich über den Rand der Lokwa: »Heubacher, Schneider!« Er kletterte hinab, das Wasser gischtete ihm zu Füßen. »Heubacherle, du, Heubacherle!« Die Hand hielt er in das Wasser; es war alles wahr und wirklich. Das Wasser war kalt und leuchtete auf.

Er hockte nieder auf einen Stein. »Hm, das wäre auch ein Ausweg. O ja, der Tümpel ist tief; das wäre ein Ausweg, aber es ist nicht der rechte. Ich bin ein ehrlicher Mann und habe den Sindig liebgehabt, zu lieb! – Heubacher!«

Kletternd, die Hände zerschunden, arbeitete sich Aust wieder hinauf auf den Weg, stand still und wußte nicht rechts oder links, erwog: ›Es ist gleich, ob ich um zwei oder um drei nach Niederau komme; sie haben zu jeder Stunde ein Plätzchen für mich‹ – und ging das Tal hinab, an dessen Hange sein Häuslein stand.

Daraus brach wie ein zitternder Schrei ein dünner Lichtstrahl, und ein Weib ging hin und wider, aus der Stube vor das Haus, von draußen hinein in die Stube, immer hin und wider. Da spreizte Aust die Finger und warf mit den weit offenen beiden Händen gute Wünsche hinüber zu dem Schindeldache.

Der Morgen dämmerte, da klopfte einer an den Fensterladen des Gefängniswärters in Niederau: »Tu mir auf; ich habe Jakob Sindig erschlagen und den Schneider in das Wasser gejagt.« – –

Wann wäre das Kreisgericht je in Bergroda gewesen? Nie. Sie haben es gescheut wie das Feuer. Am Tage nach Jakob Sindigs Tode war es da. Etliche Herren, die fragten und schrieben. Aber es war nicht viel zu fragen. Aust hatte klaren Sinnes den Verhalt angegeben, und es war nicht der Schatten eines Schattens auf andere gefallen.

So stand der Beerdigung Jakob Sindigs nichts im Wege.

Als die Herren an Reisigers Schenke vorüber heimwärts gingen, rannte aus einem der Hanghäuslein ein Weib mit entzündeten, tränendunklen Augen.

Hermine Heubacher suchte ihren Mann und fand ihn nicht, lag die Nacht am Wasser und suchte im Morgenlichte wieder. Da fand sie ihn auf fremder Flur. Und auf fremder Flur wurde er begraben.


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