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Jakob Sindig war, als er nach Bergroda kam, an Peter Reisigers Schenke vorübergegangen. Im Saugraben lag sie.
Dahin schritt er heute mit Lorenz und Wilhelm. Sie stolperten in der Dunkelheit an der Brücke vorüber, unter der die Lokwa donnerte, dann wandten sie sich in den Graben. Verstreut blinkten Lichtfunken aus den Hanghäusern wie verirrte Sterne. Peter Reisigers Wirtshaus war dunkel. Holzläden waren vor die Fenster geschlagen.
Als die Männer in das Haus traten, hörten sie dumpfes Murmeln, dazwischen eine helle Stimme und dann Gelächter. Lorenz stieß die Tür auf, und es schlug ein Rauchschwaden heraus. Reisigers Ofen qualmte, und die Männer und Burschen, die in der Schankstube saßen, rauchten schlechten Tabak aus kurzen Pfeifen.
Jakob trat nach Lorenz ein. Der Wirt saß faul hinter dem Schanktische, auf dem Flaschen standen. Er war fett, und seine Backen hingen schwammig herab. Die kleinen Augen blinzelten aus dicken Fleischwülsten heraus, die Finger, waren rund und schmutzig.
»Guten Abend, Lorenz,« grüßte der Wirt und streckte ihm die Rechte hin. »Seine Stimme klang wie ein Quieken. Er kicherte: »Ist der ausgewachsen, den du da mitbringst?« und wies auf Jakob Sindig. Dann hielt er auch ihm die Hand entgegen.
»Jakob Sindig heiße ich,« sagte der.
»Jakob, ja,« meckerte der Wirt, »mit der Sünde gebe ich mich nicht ab. Ist mir einerlei, ob du sündigst oder nicht, das ist dem Pfarrer seine Sache, 'n Abend, Wilhelm. Habt ihr den auf dem Hofe?«
»Ja.«
»So einen hat der Binsenhof schon lange gebraucht. Der frißt die Arbeit.«
»Hast du Bier?« fragte Lorenz.
»Ja, o, einen Trank, ja, o – –«
Dazu lachte einer der Gäste laut auf. Der trug lange, bis hoch an die Oberschenkel reichende Stiefel und war ein Flößer. Er saß breit hingelümmelt am Tische und hatte ein Glas Branntwein vor sich. Das Kinn stützte er in die Rechte und ließ dann und wann die Finger in dem welligen Blondbarte spielen. Die blauen, trotzig blickenden Augen gingen ohne Neugierde auch über den ihm fremden Sindig hin.
»Man darf euch nicht verwöhnen, sonst wißt ihr die Gottesgabe nicht mehr zu schätzen,« schwatzte der Wirt und schmatzte mit den dicken Lippen. Er setzte denen vom Binsenhofe Bier vor.
An einem der Tische spielten etliche Burschen Karten. Neben dem Flößer saß ein kleiner, beweglicher Mann. Der hatte eine breite Nase, seine Haare waren dünn, und seine Stimme klang scharf und hoch. Er trat an den Tisch der Binsenhofleute. Im Gehen schlenkerte er mit den Armen und schritt ungleichmäßig, jetzt hastig und kurz, dann ruhiger. Er hatte die Gewohnheit, die Hände ineinander zu reiben, als ob er sie wüsche, ließ auch gern die Finger in den Gelenken knacken.
»Zu dienen, ihr Herren, guten Abend,« sagte er, verbeugte sich und hielt grüßend die dürre Hand hin.
»Der Schneider wittert Kundschaft,« rief der Flößer lachend. »Braucht einer ein Wams?«
»Zu dienen, ihr Herren, jawohl.« Der Schneider wuselte hin und wieder. »Valentin Heubacher heiße ich. Bin Schneidermeister zu Bergroda. Nur beste Ware, prima in Stoff und Schnitt, bin Zuschneider gewesen bei dem großen Hause – –«
»Beier und Kompanie!« rief der Flößer.
»Zu dienen, Beier und Kompanie. – Es sollten doch Leute, die nicht gefragt sind, ihren Mund halten und nicht ehrsame Meister, die noch dazu dem Bergrodaischen Gemeinderat angehören, narren wollen. Die Herren erlauben wohl?«
»Immer ran, was ein Schneider ist,« sagte Wilhelm lustig, und Lorenz lachte. Jakob war still.
»Sie sind nicht von hier?« fragte ihn der Schneider.
»Nein.«
»Aus der Ebene?«
»Ja.«
»Weither von draußen?«
»Ja.«
»Einer von des Kaisers Garde, zu dienen?«
»Schwere Artillerie.«
»Ah, von den Schwarzen, ah, ja, ja, die die Zuckerhüte schmeißen, bumm! O, ich habe sie gesehen, als ich noch Zuschneider war bei – –«
»Beier und Kompanie,« trumpfte der Flößer dazwischen.
Der Schneider warf ihm einen verächtlichen Blick zu. »Da war ich jung, jetzt bin ich ein alter Mann, aber man hält sich, man hat seine Kundschaft und seine Ehre – –«
»Im Gemeinderat zu Bergroda zu nicken,« sagte der Flößer halb ingrimmig.
»O, o, nicken, ich, der Schneidermeister Heubacher, ich? Wer sagt es den Bauern, was sie sind? Wer? Du, Heinrich Aust? Du?«
»Bin nicht im Gemeinderat.«
»Aber ich. O, es ist nicht leicht. Da ist der Heidecker vom Binsenhofe, zu dienen, der Herr Kornmann vom Buchenhofe, der Herr Leitert, o, es ist nicht leicht, aber ich kenne die Herren, sie brauchen mich und wissen, was sie an mir haben.«
»Die Herren, ja,« murrte der Flößer.
»Es ist nicht leicht in Bergroda, ihr Herren, wo so viel gegeneinander läuft, so viel.«
»Warum das?« fragte Jakob Sindig, »ich meine, das braucht es nicht.«
»Ah, ein gutes Wort,« der Schneider nickte eifrig, »ein treffliches! Das braucht es nicht, ganz richtig. Sie kennen die Gemeinde noch nicht? Es gibt nur ein Bergroda, nur eines. Und da geht viel einander zuwider.«
»Warum einigt man sich nicht?« warf Jakob auf.
»Was soll ich sagen, was soll ich sagen? Ich bin Diplomat und sage – nichts.«
»Das ist nicht ehrlich,« zürnte Sindig.
Der Schneider duckte sich. »O, o, nicht so hart, wenn ich bitten darf, ich bin ein einfacher Mann. – Haben Sie schon einmal zwischen zwei Stühlen gesessen? Ich meine da auf der Diele, im Drecke, mit Verlaub zu sagen. Haben Sie das getan? Nein? Ich auch nicht. Hihihi. Ich rücke den rechten ein wenig heran und den linken, daß sie zusammenstoßen und sitze – auf beiden. Rechs sitzen die Bauern, links die Häusler, der Schneider in der Mitte. Hihihi, zu dienen. O, ich bin Diplomat.«
»Er arbeitet für die auf den Höfen und in den Hütten,« erläuterte Aust.
»Ganz richtig, ihr Herren, aber,« der Schneider warf sich in die Brust, »ich lasse die Wahrheit nicht knebeln. Ah, nein. Habe ich es nicht dem Herrn Heidecker gesagt?«
»Was hast du gesagt?« fragte Aust barsch.
»Seid barmherzig, wie auch – –«
»Schwätz nicht. Hat er nicht vor zwei Jahren den Ilgner ausgetan und früher den Buschreuter?«
»Das ist der Kaspar vom Moorgute?« wandte sich Jakob an Lorenz.
Lorenz war langsam in seiner Rede, und Aust kam ihm zuvor. »Ja, du kennst ihn?« fragte er. »Der hat ein Hanghäusel gehabt wie wir auch. Heidecker hat ihn ausgetan und ihm als Hungerbissen das Moorgut gelehnt. Da haust er mit der Roten und geht zuletzt am Moorwasser zugrunde. Und ist der Heidecker nicht jetzt hinter der Steinert her? He?«
»O, o,« barmte der Schneider, »wer will es einem Manne verdenken, wenn er seine Rechte wahrt?«
»Du scheinst fremd hier zu sein, Langer, weißt nicht, wie es hierzulande ist,« begann Aust ernsthaft. »Es nährt sich keiner von seinen Hangäckern, und die andern haben die Bauern. Darum gehen wir auf das Wasser, andere an den Meiler. So können wir uns hinhalten. Aber die anderen! Wenn die Bergwasser kommen und die Äcker zerfressen, daß du am Morgen die Erde und den Dünger, den Samen und die Kartoffeln in deinem Hofe auflesen und von den Rändern zusammenscharren kannst und das alles hernach auf dem Rücken wieder hinauftragen mußt, dann sind sie schier keine Menschen mehr. Und im Winter müssen sie dann zu den Bauern gehen und um Gottes willen bitten um Brot und Saat. Und so legen die ihre Hände auf die Häuslein; denn die Schuld wächst. Ich habe kaum einen gekannt, der sie hat abtragen können. So müssen sie hernach tun, wie die Bauern wollen. Sie leben in ihren Häusern, daß es zum Erbarmen ist. Kaum einen Fuß breit Land hat der und der um sein Haus. Tritt er aus der Tür, so steht er auf Fremdem, und es tut schier Not, daß er seine Kinder an die Kette legt. Kommt eine Krankheit unter sie, dann muß es gehn, wie es Gott gefällt, und der Kranke stirbt wohl unter dem Lachen der Unmündigen. Ihren Hausrat zimmern sie selbst, und er ist gut und fest, aber du findest kaum bei einem, was das Daheim schön machte. Die Freude hält sich weit abseits von den Hanghäusern. Ist das nicht zum Erbarmen? Du bist doch ein Mensch, antworte!«
Aust reckte sich, er legte die geballten Fäuste fest auf den Tisch, und in seinen Augen rang trotziges Aufbegehren mit heißem Mitleid um die Oberhand.
Jakob Sindig hatte den Kopf in die Hand gestützt. »Ich habe gesehen, daß es ein hartes Leben zwischen den Bergen ist.«
»Ja, man müßte es bessern, dreinschlagen müßte man. Warum gibt man nicht jedem da ein Äckerlein, wo es die Wasser nicht zerfressen können? Von jedem Hofe den zehnten Teil. Ist das zu viel?«
»O, o,« jammerte Heubacher, »das ist Revolutschon, Aust!«
»Jawohl, Revolutschon, revolutschonieren wir!« Er trank hastig sein Glas leer und lümmelte sich breiter hin, als achte er der anderen nicht mehr.
Der Schneider hüpfte durch das Zimmer. »Lustig sein wollen wir, lustig. Auf'm Teufelskamm steht ein Saubirnbaum,« krähte er ein schmutziges Lied.
Da fingen die Burschen am Nebentische an zu lachen. So wurde Jakob Sindig auf sie aufmerksam. Zwischen ihnen hockte einer, der ein wunderliches Zwinkern in den Augen hatte und aussah, als sei er nicht ganz seiner Sinne mächtig. Nun stand er auf und ging hinaus. Da winkte einer der Burschen dem Wirte. Der brachte ein Glas Branntwein. Das schütteten sie dem Abwesenden in das Bier und lachten dabei, um Beifall heischend, zu Jakob Sindig hinüber. Lorenz und Wilhelm lachten mit. Der Flößer aber schlug auf den Tisch.
»Schweine ihr!«
Da lachten die Burschen lauter, und auch der Wirt schmunzelte. Jakob Sindig fragte verwundert, was das zu bedeuten habe.
»Er hat den Geschmack verloren,« erläuterte Aust, »säuft Bier wie Wasser und Wasser wie Jauche. Darum tut er wie ein Blöder und die – –« Sindig kehrte sich ab und schwieg. Er beobachtete den Zurückkehrenden, der sich mit einem gutmütigen, aber blöden Lachen wieder niederließ.
Die Burschen spielten weiter, aber sie belauerten von der Seite her den Kranken und kicherten, als er trank. Der Wirt trug auf einen Wink abermals Schnaps an den Tisch, und wenn sich der ohne Geschmack umdrehte, so goß hinter seinem Rücken einer ein wenig in das Glas.
Jakob Sindig schwoll dick und strähnig eine blaue Ader auf der Stirn. Eine Weile noch hielt er an sich. Dann langte er hinüber, hob den kleinen Menschen am Kragen hoch, drehte ihn herum und setzte ihn auf einen Stuhl neben sich.
Der Bursche war erschrocken. Jakob Sindig aber sagte grollend: »Sie wollen dich betrunken machen. Es ist Branntwein in deinem Glase.«
Da blickte der Bursche mit dankbaren Augen zu Jakob Sindig auf. »So machen sie es immer, und sie hatten mir doch heute versprochen, es nicht zu tun,« sagte er weinerlich. Unter den Spielern aber erhob sich ein Murren.
Da stand Jakob langsam auf und trat an den Tisch. »Ich müßte euch hinausschmeißen.«
Die Burschen sprangen auf. Etliche standen, als wollten sie dreinschlagen, aber Jakob legte seine Hände wie Tatzen auf den Tisch.
»Geht dich an, was wir tun?« fragte einer patzig, aber seine Lippen waren weiß und zitterten.
»Ich könnte einen Bären totschlagen,« kam es tief und grollend aus Sindig herauf, »aber einen Hund lasse ich nicht prügeln. Das sage ich euch.« Er kehrte an den Tisch zurück.
Es war einen Augenblick lang eine schwüle Stille in der Stube, aber dann lebten die Gespräche wieder auf.
Vor der Tür wurden Stimmen laut. Einer schien nicht mit herein zu wollen in das Wirtshaus. Dem redeten die anderen zu. Nun traten neue Gäste ein, als letzter ein hochgewachsener Mann mit schlohweißen Haaren und einem milden Greisenantlitz.
Der kam an den Tisch derer vom Binsenhofe, begrüßte die Knechte und streckte auch Jakob Sindig die Hand hin.
»Du bist der Neue vom Binsenhofe?« fragte er. Dann weiter: »Habe auch jemanden da oben. Meine Tochter.«
»Ist sie die Altmagd?« fragte Sindig.
Der Alte lachte. »Ein wenig mehr. Ich bin der Morheimer.« Er ließ sich nieder, aber Jakob sah eine Weile an dem offenen Greisengesicht vorüber. Der Mann hatte so warme, gute Augen, daß sie dem Schuldigen weh taten.
»Wie geht es auf dem Hofe?« fragte Morheimer.
Lorenz berichtete, was Neues in die Erscheinung trat. Daß sie anders im Walde arbeiteten als bisher, daß sie morgen auf den Weg nach dem Moorgute gehen würden, und daß der Bauer mehr Hafer herausgebe für die Pferde.
Aust hörte von der Seite her scharf auf die Kunde, und Sindigs Art wurde aus Strichen zum Bilde in ihm.
Morheimer hatte ein feines Lächeln um den Mund. »Das hast du gemacht?« erkundigte er sich, die Frage an Jakob richtend. Der wehrte ab. »Was ist dabei? Es ist nicht der Rede wert. Warum sagtet Ihr das dem Bauern nicht längst?«
»Der Bauer hat meine Tochter geheiratet. Einen Rat wollte er von mir nicht. – Ich bin selten auf dem Hofe. Es geht der Bäuerin gut?«
»Soviel man sieht, ja,« antwortete Jakob zögernd und hob sein Glas gegen das Gesicht.
»Woher kommt ihr?« fragte der Wirt die Männer, die zuletzt eingetreten waren.
Sie kamen aus dem hintersten Saugraben und hatten verlappt, weil morgen Jagd sein sollte.
Morheimer wandte sich wieder an Jakob Sindig.
»Es gefällt dir bei uns?«
»Das schon,« erwiderte der, »obwohl mir manches wunderlich scheint.«
»Daran gewöhnst du dich. Sind kleine Leute hier zwischen den Bergen, und sie haben ein mühsames Leben, aber sie kennen es nicht anders, und wenn man ihnen nicht törichtes Zeug vorredet, so sind sie still und genügsam.« Sie sprachen leise, einander zugeneigt.
Die Reden der andern Gäste aber gingen laut. In das Sprechen hinein hub der Schneider wieder an zu singen: »Mädel mit 'm roten Rock.« Die Burschen fielen ein und stampften mit den Füßen den Takt dazu.
Morheimer schien die Gelegenheit nutzen zu wollen. Er sprach eindringlich. »Du wirst es nicht leicht haben auf dem Binsenhofe, aber wenn du kannst, so halte aus. Was mir Lorenz erzählte, das gefällt mir.« So noch etliches, und Sindig nickte.
Ein neuer Gast trat herein. Es war ein kleiner älterer Mann mit graudurchschossenem Haar und einem graumelierten starken Schnurrbart. Er trug an breiten Riemen einen Kasten auf dem Rücken.
Die Burschen johlten: »Der Joseph, der Joseph! Bist auch einmal wieder da?«
Der Händler stellte den Kasten auf den Tisch.
»Auch wieder amal,« sagte er schnaufend. »A Glasl, wenn ich hätt', Peter, a klanes. Ist nur, daß ma sich nit verkühlt am Bier. – Guten Abend.«
»Was Neues von draußen, Joseph?« fragte der Schneider.
»Nit viel, nit viel. In St. Jürgen is a Wulkenbruch niederganga, jetzt vor dem Winter. Ma sollt meinen, es war a schlechtes Zeichen. San siebzehn Stück Rindvieh dertrunken und drei Menschen.«
»Hätte müssen bei uns niedergehn,« murrte der Flößer, »über die Höfe.«
»Flößa könnt'st jetzt da unten nit, Aust. Das Wasser geht hoch.«
»Desto besser.«
»Fravel nit. Du versäufst wie a Katz.«
»Wär' schade um mich.«
»A Schrein hat ma gehört übern Wasser.«
»Ist kein Wunder,« sagte der Schneider, »das sind die armen Seelen. Sind ohne Heimat, weil sie ohne Sakrament hinübermußten.«
»I woaß nit,« der Händler schüttelte den Kopf, »das mit dem Sakrament will mir nit einleuchten. Woas können s' dafür, daß s' ka Zeit mehr hatten, das zu nehmen? Da is der Herrgott selber schuld.«
»Hast du keine Ehrfurcht, Joseph?« fragte der Schneider in Würde.
»Ehrfurcht schon. Ka Furcht nit. Bin heute ausnahmsweise aus'm Bleiloche heraufgestiegen, und ist mir ka Katz übern Weg gelaufen.«
Der Schneider trat vor ihn hin. »Weißt du, was es mit dem Bleiloche auf sich hat? Dahin ist der Röder verbannt. Er geht um, weil er sündig gelebt hat. Meine Großmutter selig hat mir erzählt, daß sie dem Zuge begegnet ist, als sie ihn dahin verbannten. Sechs Pferde vor einem Wagen, groß wie ein Hanghäusel, haben die Seele des Kaspar Roder ans Bleiloch gefahren. Sie ist dem Zuge begegnet. Die Pferde haben geschwitzt, und es hat in dem Wagen gelärmt, wie wenn einer heraus wollte. Und hinterdrein ist einer gegangen, dessen Tonsura im Lichte geglänzt hat. Der hat Kreuze geschlagen, eines um das andere, und die Seele hat gewimmert. Seit der Zeit ist der Röder in das Bleiloch verbannt. Man hört ihn wimmern drunten. Er holt dann und wann zur Nachtzeit auch einen hinein.«
»Davor hab' ich ka Furcht,« sagte Joseph, »nur manchmal vor Menschen.«
»Es ist dir nie etwas widerfahren auf deinen Wegen?« fragte der Schneider.
»Amal bin ich agefalln worden, von an Landstreicher, weiter nix.«
»Du nimmst es leicht,« sagte Heubacher, »aber vor einem wenigstens solltest du Achtung haben. Vor dem Binsenschnitter. Vor dem wenigstens. Gehe nicht zur heiligen Dreifaltigkeit hinaus, bevor die Sonne aufgeht, Joseph, ich rate dir.«
»Ich laß mir nit rata. Und den Binsenschnitter, den fürcht ich a nit, grad so wenig wie die zwölf Nächte.«
»Das geht zu weit,« fuhr einer der Häusler drein, der mit Morheimer gekommen war. »Den Binsenschnitter, den mußt du wahrhaben, und die heilige Zeit hat auch ihr Besonderes.«
»Na, laß mer a jeden bei sein Glauben. – Jetzt kauft's mir was ab, Männer und Burschen.«
Er zog die Schübe seines Tragkastens auf. Darin lag allerlei Kleinkram, Bänder, Nadeln, Messer, Mundharmonikas. Die meisten standen auf und drängten heran. Joseph bot seine Waren an. Einige erstanden Mundharmonikas und Maultrommeln, andere Rasiermesser, etliche Burschen Schleifen für ihre Mädchen.
Jakob wandte sich wieder an den alten Morheimer. »Daß sie an Geister glauben! Ich habe schon mit Lorenz davon geredet. Nun sehe ich, daß einer ist wie der andere.«
Morheimer hatte ein ernstes Gesicht. »Es liegt an dem Lande. Ja, und manches kann man nicht von der Hand weisen. Ich habe die Spuren des Binsenschnitters oft gesehen und bin einmal dem Wode begegnet, habe meine Mütze gezogen und gesprochen: ›Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes.‹ – Dagegen kann man nichts sagen. Du glaubst nicht, daß sie umgehn, die keine Ruhe finden können?«
»Nein.«
»Hm ja, wenn du länger in den Bergen lebst, wirst du über manches anders denken.«
Die Burschen fingen an zu musizieren und zu singen. Der Schneider ließ sich wieder am Tische nieder und krähte laut über die Stimmen der anderen. Da war der alte Morheimer still.
Nicht lange danach gingen die vom Binsenhofe, und der Kleine, den Jakob herangehoben, schloß sich ihnen an.
Unterwegs sagte er: »Ich danke dir, daß du dazwischengefahren bist. Vielleicht kannst du mich auch einmal brauchen. Ich bin der Robert Lindner aus dem Bärengraben, und wenn ich auch keinen Geschmack habe, so habe ich doch sonst meine Sinne beieinander.«
Die Heimkehrenden redeten unterwegs wenig. Nur dann und wann einige kurze Worte. Weithin schallte die Stimme der Lokwa durch die Nacht, flog grollend in die Engtäler und hallte, rückkehrend, murrend wider.
Im Bergwärtssteigen wandte sich Lorenz an Jakob. »Du solltest einmal etwas von draußen erzählen.«
»Von draußen? – Da ist das Land eben, und du kannst viele Dörfer und Städte sehen und hundert Weizenfelder und tausend Roggenbreiten.«
»So muß es schön sein.«
»Und die Menschen gehen mit langen Schritten und werfen den Kopf in den Nacken.«
»Gibt es dort keine armen Leute?«
»Arme Leute? O ja, aber sie sind anders als hier.«
»Warum bist du nicht dort geblieben?«
»Für manchen ist es dennoch dort zu eng.«
»Da muß ich lachen, Jakob. – Und du hast bei den Kanonieren gedient?«
»Ja. Das ist lange her.«
»Du bist noch nicht alt.«
»Das sag nicht. Es kommt nicht auf die Jahre an. – Was ist das für ein Mann, der Schneider?«
»Was soll man sagen? Der Schneider ist er und ist weit herumgekommen in der Welt.«
»Gibt es viele, die sind wie der Flößer?«
»Alle Flößer sind so und die Köhler und etliche Häusler.«
»So steht es schlimm um die Bauern.«
»Das mußt du nicht glauben. Ich sagte dir, daß sie nur bei dem Wirte ein großes Maul haben.«
Als sie in die Nähe des Binsenhofes kamen, schimmerte dort noch ein Licht. Es erlosch aber, und von der Höhe herab kam es wie ein Weinen. Lorenz und Wilhelm drückten sich aneinander. »Das sind die armen Seelen,« schauerte Wilhelm leise. Die Knechte traten in das Haus.
Jakob aber sagte: »Ich möchte noch ein Weilchen hier bleiben; ich bin warm geworden drunten bei dem Wirte.«
Als die anderen die Treppe hinanstiegen, schritt er leise hinter das Haus. Da hockte eines und weinte. Er fragte wer da weine. Ein Weib richtete sich auf und wollte davongehen. Jakob hielt sie am Arme. »Was tust du hier?«
»Gebettelt habe ich um mein Häusel, aber er will nicht.«
»Wer?«
»Der Bauer.«
»Du bist eines der Häuslerweiber?«
»Ja. Du hast mich vom Acker gewiesen, als du sahst, daß mir die Arbeit zu schwer wurde. Anna Steinert heiße ich. Dem Bauern bin ich verschuldet mit achtzig Talern. Er will keine Geduld mehr haben und mich austun.«
»Warum arbeitest du die Schuld nicht ab?«.
»Das will ich wohl, aber es wird lange dauern. Nun will mir der Bauer keine Zeit mehr lassen für meinen Acker. Nur auf dem Hofe soll ich arbeiten, sonst käme er nicht zu dem Seinen, weil ich doch krank bin und die Arbeit oft aus den Händen legen muß. Mein Acker aber wird versteinen!« Sie weinte ungestüm auf.
»Geh heim, du,« mahnte Jakob, »vielleicht, daß sich ein Ausweg findet.«
Da stolperte das Weib in die Nacht hinaus.
Jakob Sindig aber lag lange wach. Der sich rächen und die Menschen weinen machen wollte, wurde getrieben, ihr Leben fürsorgend zu bedenken. Wer das Jakob Sindig gesagt hätte, als er noch unter seinem Zorne ging!