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29. Kapitel.

Wie Nietzsche sich in Ecce Homo selbst darstellt (1888).


In dieser Schrift offenbart sich freilich, daß sich für Nietzsche die Grenze zwischen Phantasie und Wirklichkeit verwischt hat und er deshalb auch eines Urteils über die relative Größe (also über Größe überhaupt: alle Größe ist relativ) nicht mehr fähig ist. Doch läßt sich davon absehen; und dann erfahren wir doch, was seinen Geist beschäftigt und sein Urteil bestimmt. Das verrät sich sogar mit einer unfreiwilligen Wahrhaftigkeit, die jede Möglichkeit absichtlicher Täuschung ausschließt. So hat uns Nietzsche in » Ecce homo« eine der wertvollsten Konfessionen hinterlassen, die wir besitzen.

Da Nietzsche mit steigender Klarheit erkannt hat, daß das Leben Wille zur Macht sei, sollte man erwarten, er stelle sich uns vor und dar als eine Inkarnation des Willens zur Macht. Aber die Fragen, die ihn bewegen, sind: »warum ich so weise bin«; »warum ich so klug bin«; »warum ich so gute Bücher schreibe«; »warum ich ein Schicksal bin«. Dagegen fragt er nicht: »was ich will«. Es darf wohl auch bezeichnend gefunden werden, daß er von sich sagen kann: »Ich bin kein Mensch, ich bin Dynamit«. Auch das stärkste Sprengmittel ist nicht Wille zur Macht, sondern ein Hilfsmittel zur Durchsetzung des Willens zur Macht. So soll sich denn auch an Nietzsches Namen knüpfen die Erinnerung an etwas Ungeheures – an eine »Krisis« nämlich, »wie es noch keine auf Erden gab«; nicht an eine Tat, wie es noch keine auf Erden gab. Was Nietzsche tut, ist daß er mit der schwersten Forderung an die Menschen heran tritt; – Fordern aber ist zwar Wollen, aber noch nicht Durchsetzung eines Willens: die läge doch erst darin, daß man andre zwingt, die Forderung zu erfüllen. In Nietzsche sei Fleisch geworden die höchste Selbstbesinnung der Menschheit – also doch auch nur der Wille zur Selbstbesinnung, nicht der Wille zur Macht. Ruft Nietzsche den Zeitgenossen zu: »Hört mich! denn ich bin der und der; verwechselt mich vor allem nicht!« – so ist das auch nicht gerade der Ton des selbstbewußten Herrenmenschen. Der bittet nicht um Gehör, sondern schafft sich Gehör; der bittet nicht, daß er nicht verwechselt werde, sondern macht es unmöglich, daß er verwechselt werde …

So macht uns denn auch das Leben, das Nietzsche uns erzählt, überwiegend den Eindruck eines mühsamen Kampfes um die Selbstbehauptung. »So leidet ein Gott«, ja; und so behauptet sich ein Mensch gerade noch unter ungeheuren Leiden. Der kranke Nietzsche findet für die Wahl seines Aufenthaltorts, seiner Nahrung eine Vorsicht nötig, deren der gesunde Mensch nicht bedarf. Daß er sich dieser Vorsicht rühmt, darf uns nicht vergessen machen, daß er sie braucht. Nietzsche ist in der beständigen Defensive gegen die Natur. Und er führt auch einen beständigen Verteidigungskrieg gegen die Menschen. Er muß bitten, daß er nicht verwechselt werde; denn er leidet darunter, daß er verkannt ist. So rühmt er sich auch eines Instinkts der Selbstverteidigung, dessen er dringend bedarf, weil er in Gefahr ist, durch andre von sich abgelenkt zu werden. Und seine triumphierende Selbstgewißheit: ist sie nicht auch die Kehrseite eines peinlichen, nagenden, verzehrenden Zweifels an sich selbst? – Der Ton ist's, der die Musik macht. Ein gewisser Ton der Behauptung verrät, daß man selbst nicht recht glaubt, was man behauptet. Von dem Selbstverständlichen spricht man in einem Ton der Selbstverständlichkeit, den Nietzsches Rede jetzt weniger hat als je. Wenn man das Selbstverständliche überhaupt bespricht! Dazu hat man doch von sich aus eben deshalb kaum Veranlassung, weil es sich von selbst versteht. Betont man es aber, weil es sich für andre nicht von selbst versteht, so wird sich doch in der Farbe des Tons zeigen, daß es sich für den Redenden von selbst versteht … Indem Nietzsche sagt: »Angreifen gehört zu meinen Instinkten«, verrät er, daß er in der Defensive ist. Der habituelle Angreifer verrät sich darin, daß er immer nur von der Notwendigkeit der Verteidigung spricht. Das könnte Nietzsche selbst gesagt haben. –

Ich wende diese Art der Beurteilung auch an, wenn Nietzsche von seiner »Selbstsucht« spricht. Mit dieser hat es insofern seine Richtigkeit, als die Selbsterhaltung in Nietzsche zur Sucht geworden ist: was schon dadurch bewiesen ist, daß er für den freien, rechtzeitigen Tod, den er rühmte, nie die rechte Zeit gegeben glaubte. Nietzsche hing mit der Zähigkeit des Kranken am Leben; wie er auch des unter Verkennung Leidenden krankhafte Angst vor dem Verwechseltwerden hatte. Dagegen spricht aus Ecce homo nicht die Selbstsucht des Menschen, der sich für sich erhalten will; wie Nietzsche ja in dem Leben auch nicht einen Genuß sieht, den er für sich bis zur Neige ausgenießen möchte. Nicht einmal Anerkennung, Ruhm erstrebt er eigentlich für sich: so aufdringlich er seine eigene Größe verkündigt. Seine »Selbstsucht« ist objektiv – also in der Tat nicht mit der vulgären, subjektiven Selbstsucht zu verwechseln. Doch lebt er auch nicht für andre: daß deren subjektive Selbstsucht befriedigt werde. Daran lag ihm für andre so wenig wie für sich selbst. Nietzsche ist also so wenig Altruist wie Egoist. Aber er lebt sich auch nicht einfach aus: mit der Subjektivität, die nun einmal zu dem Leben als solchem gehört. Er lebt für etwas. Wofür nun? Für die Erhöhung des Typus Mensch. Vielleicht kann man sagen: der objektive Auftrieb des Lebens ist in ihm subjektive Leidenschaft geworden. Und so lebt sich »das« Leben in ihm aus: unpersönlich in seiner Person. Denn er ist doch nicht bloß Dynamit, sondern auch ein Mensch »sozusagen«.

Indem Nietzsche gefressen wird von dem Eifer für die Züchtung des höheren Menschen, kämpft er doch wesentlich einen Kampf der Selbsterhaltung. Er befindet sich nun einmal, tatsächlich, in der Defensive gegen die Natur, den Nächsten und sich selbst. Darin behauptet er sich nach seiner Aussage mit einer Klugheit, auf die er sich freilich wohl hauptsächlich deshalb viel zu gute tut, weil er sie sich nur einbildet. Von Klugheit ist (das sei zu seinem Lobe gesagt) in seinem Leben wirklich wenig genug zu bemerken. Wichtiger ist für ihn selbst die Sicherheit seines Selbsterhaltungs-Instinktes – die er sich doch auch nur einbildete. Wie es sich mit dem Instinkt für die Erhaltung seiner körperlichen Gesundheit verhielt, wage ich nicht zu beurteilen: die Lebensweise, die er sich instinktiv gewählt haben will, hat seinen körperlichen Zusammenbruch vielleicht hinausgeschoben, vielleicht beschleunigt; oder hat sie beides zugleich getan. Dagegen scheint mir der Vergleich mit dem geistig kaum weniger gefährdeten Sören Kierkegaard zu beweisen, daß Nietzsche der Instinkt für die Erhaltung seiner geistigen Lebensfähigkeit abging. In der Geschichte seiner Freundschaften zeigt sich, daß er keinen sicheren Instinkt hatte für das Verhältnis zu andern Menschen; in der Leichtgläubigkeit gegen sich selbst, die ihn auszeichnet, zeigt sich, daß ihm auch der sichere Instinkt für ein ersprießliches Verhältnis zu sich selbst je länger je mehr abging. Daß er unbedingt ein Bejaher werden wollte, mußte ihn, wie sich von selbst versteht, zu einem immer radikaleren Verneiner machen; indem er sich zwingen wollte, das Schöne in den Dingen zu sehen, entdeckte er, wie sich wieder von selbst versteht, vornehmlich die Häßlichkeit des Daseins. So hat er, wenn irgend etwas, bewiesen, daß das Dasein als ästhetisches Phänomen nicht gerechtfertigt ist. Endlich weiß Nietzsche in Ecce homo zu rühmen, daß sein Leben, objektiv, ganz wundervoll eingerichtet sei. Aber das muß nach seiner eigenen Theorie eine Illusion sein: nach ihm selbst dürfte sich in seinem Leben nur ein wundervolles Spiel des Zufalls offenbaren; und dieses Spiel des Zufalls, das allerdings auffällig ist, wäre nach seiner eigenen Deutung des Lebens doch nur gräßlich. Um ihm einen auch nur erträglichen Sinn abzugewinnen, muß man annehmen, daß Nietzsches eigentliches Leben in einer Hinterwelt sich abspielte, die er leugnet.

Es möge doch hier ein Passus aus Ecce homo im Wortlaut mitgeteilt werden, worin das Gräßliche in Nietzsches Schicksal uns in einer unheimlichen Beleuchtung entgegentritt. Nietzsche erzählt:

Insgleichen gehört in diese Zeit (vor Entstehung des »Zarathustra«) jener Hymnus auf das Leben (für gemischten Chor und Orchester), dessen Partitur vor zwei Jahren bei E. W. Fritzsch in Leipzig erschienen ist, ein vielleicht nicht unbedeutendes Symptom für den Zustand dieses Jahres, wo das jasagende Pathos par excellence, von mir das tragische Pathos genannt, im höchsten Grade mir innewohnte. Man wird ihn später einmal zu meinem Gedächtnis singen. Der Text, ausdrücklich bemerkt, weil ein Mißverständnis darüber im Umlauf ist, ist nicht von mir: er ist die erstaunliche Inspiration einer jungen Russin, mit der ich damals befreundet war, des Fräuleins Lou von Salome. Wer den letzten Worten des Gedichts überhaupt einen Sinn zu entnehmen weiß, wird erraten, warum ich es vorzog und bewunderte: sie haben Größe. Der Schmerz gilt nicht als Einwand gegen das Leben:

Hast du kein Glück mehr übrig mir zu geben,
Wohlan! noch hast du deine Pein.

Vielleicht hat auch meine Musik an dieser Stelle Größe. (Letzte Note der A-Klarinette cis, nicht c. Druckfehler.)

Als ihm das Leben kein Glück mehr zu geben hatte, versagte es ihm auch noch seine Pein. Des wahnsinnigen Lenau letztes Wort war: »der arme Niembsch ist sehr unglücklich«. Der wahnsinnige Nietzsche starb noch ärmer: er war nicht unglücklich.


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