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5. Kapitel.

Über dem Studium der klassischen Philologie wird Nietzsche zum Geschichts- und Kulturphilosophen. Absage an die »höhere Vernunft«, die »intelligible Welt«, die Teleologie.


Wo Nietzsche sich frei bewegt, ohne bewußte Beziehung auf seinen Philosophen, geht er auch durchaus nicht den Weg, den dieser ihn weist.

Der Jünger Schopenhauers müßte von dem Interesse beherrscht sein (das freilich auch nicht das herrschende Interesse des Meisters war), daß er durch Verneinung des Willens zum Leben zur Erlösung gelange. Nietzsche hat diese Sorge nach dem von ihm beschriebenen ersten, allerdings sehr törichten Anlauf gründlich vergessen. Ihn beschäftigen weit größere Dinge als die kleinliche Sorge um das eigene Heil. Er widmet sich mit großem Eifer und sofort auch mit glänzendem Erfolg der philologischen Arbeit. Er macht sich Gedanken über eine notwendige Reform der Philologie. Und diese faßt er sofort großzügig auf als Frage der Kultur. Die Wissenschaft soll dem Leben dienen. Das tut die Geschichtswissenschaft, indem sie die Bedingungen und Gesetze der geschichtlichen Entwicklung feststellt. Daraus wären sodann Vorschriften für die »Volksführer« abzuleiten. Die wichtigsten Resultate solcher Untersuchungen nimmt Nietzsche sofort vorweg. Er dekretiert und proklamiert: »Die historischen Gesetze bewegen sich nicht in der Sphäre der Ethik.« »Das ethische Leben und die ethischen Vorstellungen haben keinen notwendigen Parallelismus.« »Die Wissenschaft hat etwas Totes; insbesondere ist die Ethik schädlich den guten Eigenschaften des Menschen.« »Völker leiten heißt Triebe in Schwung bringen, um eine Idee durchzuführen.« Also gilt es für den, der ein Volk leiten will, daß er Bedürfnisse erkenne, Bedürfnisse befriedige, Bedürfnisse umwandle und erzeuge. »Zum Beispiel setze man die starken religiösen Bedürfnisse in sittliche um, die politischen in wohltätige, die Genußbedürfnisse in Kunstbedürfnisse.« Ganz verfehlt wäre, daß man die Menschen lehrte, Bedürfnisse durch Anschauungen zu ersetzen. Die einzelnen Persönlichkeiten haben Bedeutung entweder als Beweise der Massenbedürfnisse oder als Erzeuger neuer Bedürfnisse. »Die großen Gedanken erzeugt nur der Einzelne.« Usf. (L. I, 330 ff.). Nebenbei konstatiert Nietzsche auch: »Der ›Fortschritt‹ ist kein historisches Gesetz, weder der intellektuelle, noch der moralische, noch der ökonomische.« Was liegt ihm denn aber andres im Sinn als die Arbeit für den »Fortschritt«? Soll wohl der Fortschritt auf dem angedeuteten Wege durch »starke Geister« erzwungen werden, obgleich er kein historisches Gesetz ist?

Die Richtung aber, in der sich Nietzsches Denken über die ersten und letzten Dinge in dieser Zeit bewegt, wird durch folgende Thesen festgestellt, die wir den Vorarbeiten zu einer unvollendeten Abhandlung über »Die Teleologie seit Kant« aus dem Frühjahr 1868 entnehmen (L. I, 352 ff.). Sie verraten fremde Einflüsse, denen wir nicht nachzuspüren brauchen.

Optimismus und Teleologie gehen Hand in Hand: beiden liegt daran, das Unzweckmäßige zu bestreiten als etwas wirklich Unzweckmäßiges. – Zwei metaphysische Lösungen sind versucht: die eine, grob anthropologische, stellt einen idealen Menschen außerhalb der Welt; die andere, ebenfalls metaphysische, flüchtet in eine intelligible Welt, in der der Zweck der Dinge immanent ist. – Es gibt keine Frage, die notwendig nur durch die Annahme einer intelligiblen Welt gelöst wird. – Die Teleologie ist wie der Optimismus nur ein ästhetisches Produkt. – Die Beseitigung der Teleologie hat einen praktischen Wert. Es kommt nur darauf an, den Begriff einer höheren Vernunft abzulehnen: so sind wir schon zufrieden. – Ein Urteil über höchste Zweckmäßigkeit steht uns nicht zu. Wir können höchstens auf eine Vernunft schließen, haben aber kein Recht, sie als eine höhere oder niedre zu bezeichnen. – Das Leben des Organismus beweist keine höhere Intelligenz: überhaupt keinen durchgehenden Grad der Intelligenz. Das Dasein der Organismen zeigt nur blindwirkende Kräfte. – Die blinden Kräfte handeln absichtslos, also können sie nichts Zweckmäßiges bewirken. Das Lebensfähige ist nach einer unendlichen Reihe mißlungener und halbgelungener Versuche gebildet. – Der Zufall kann die schönste Melodie finden. Aus Buchstaben kann sich eine Tragödie zusammenwürfeln. – Alle »Formen« können ausgewürfelt werden, aber das Leben! – Braucht man die Zweckursachen, um zu begreifen, daß etwas lebt? Nein, nur um zu erklären, wie es lebt. Brauchen wir die Zweckursachen, um das Leben eines Dings zu erklären? Nein, das Leben ist etwas völlig Dunkles, dem wir daher auch durch Zweckursachen kein Licht geben können. Nur die Formen des Lebens suchen wir uns deutlich zu machen.

Man sieht: nicht bloß der christliche »Gott«, auch der »Wille« Schopenhauers muß dem »Zufall« weichen. Nicht bloß der »Zweck«, auch der »Wille« wirft in das Dunkel des Lebens kein Licht mehr. Das mag also in seinem Dunkel verbleiben. Nietzsche hat nur noch mit den Formen des Lebens zu tun. Dabei begnügt er sich, ohne Schmerz, mit der Erklärung, daß auch eine Tragödie sich aus Buchstaben zusammenwürfeln kann. Immerhin mag das Spiel des Zufalls, durch das aus mißlungenen und halbgelungenen Versuchen blinder Kräfte das Zweckmäßige (nämlich Lebensfähige) entsteht, seine Gesetze haben. Die zu entdecken mag die Aufgabe der Wissenschaft sein. Und Nietzsche hat offenbar ein gutes Vertrauen zu der Vernunft und Macht des Menschen, in das Spiel des Zufalls bestimmend einzugreifen.


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