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»Unzeitgemäße Betrachtungen«: Umwertung der Kunst, der Philosophie, der Wissenschaft.
Indem sich Nietzsches Auffassung der Kultur verweltlicht, ändert sich auch seine Wertung des menschlichen Tuns, der Kunst, der Wissenschaft, der Philosophie.
Der Glaube, daß das Denken das Sein nicht nur zu erkennen, sondern sogar zu korrigieren imstande sei, war für den früheren Nietzsche »eine tiefsinnige Wahnvorstellung, welche zuerst in der Person des Sokrates zur Welt kam« (I, 105); in dessen mäeutischen und erziehenden Einwirkungen auf edle Jünglinge (»zum Zweck der endlichen Erzeugung des Genius«) er deshalb auch nur die Entladung einer ganz neuen, ihn abstoßenden Form der griechischen Heiterkeit und Daseinsseligkeit sehen kann (I,108). Noch in der zweiten Unzeitgemäßen fordert es seinen Spott heraus, daß Eduard von Hartmann die Bejahung des Willens zum Leben als das allein Nichtige proklamiert (da man nur in der vollen Hingabe an das Leben etwas für den Weltprozeß leisten könne) und die Hoffnung ausspricht, daß wir uns jenem idealen Zustande nähern, wo das Menschengeschlecht seine Geschichte mit Bewußtsein mache (I, 363). Wenn aber die Kultur, nach derselben zweiten Unzeitgemäßen, eine verbesserte Physis sein soll, so muß sich die Physis wohl durch menschliche Anstrengung verbessern lassen. In der Tat erfahren wir in der dritten Unzeitgemäßen, daß die Natur der Nachhilfe dringend bedarf. Denn: »die Natur will immer gemeinnützig sein, aber sie versteht es nicht, zu diesem Zwecke die besten und geschicktesten Mittel und Handhaben zu finden: das ist ihr großes Leiden« (I, 400). Insbesondre unterscheidet sich die Entstehung des Genius bis jetzt nicht viel von einer fortgesetzten Tierquälerei. Darum ist es sehr nötig, daß an Stelle des »dunklen Dranges«, in dem die Menschen angeblich des rechten Weges sich wohl bewußt sind, endlich einmal ein bewußtes Wollen trete (I, 445 f). Die Kultur stellt also jedem Einzelnen von uns nur eine Aufgabe: »die Erzeugung des Philosophen, des Künstlers und des Heiligen in uns und außer uns zu fördern und dadurch an der Vollendung der Natur zu arbeiten« (I, 440). Es ist zwar nicht leicht einzusehen, wie das dem Nicht-Philosophen, dem Nicht-Künstler, dem Nicht-Heiligen möglich sein soll: Nietzsche glaubt dafür doch gute, brauchbare Ratschläge geben zu können. Was traut er jetzt nicht alles dem Menschen zu! Man höre!
Wenn die ganze Menschheit einmal sterben muß – wer dürfte daran zweifeln! – so ist ihr als höchste Aufgabe für alle kommenden Zeiten das Ziel gestellt, so ins Eine und Gemeinsame zusammenzuwachsen, daß sie als ein Ganzes ihrem bevorstehenden Untergange mit einer tragischen Gesinnung entgegengehe; in dieser höchsten Aufgabe liegt alle Veredelung der Menschen eingeschlossen; aus dem endgültigen Abweisen derselben ergäbe sich das trübste Bild, welches sich ein Menschenfreund vor die Seele stellen könnte. So empfinde ich es! (I, 523).
Das ist Aufgabe; also ist es offenbar auch möglich. Bayreuth wird diese Aufgabe lösen.
Indem aber Nietzsche nach einer langen Pause wieder als Herold Wagners auftritt, verrät er zugleich, daß sich seine Auffassung der Kunst gründlich geändert hat. Von dem »metaphysischen Trost«, den die Tragödie gewähre, ist nicht mehr die Rede – wenn er nicht zwischen den Zeilen geradezu abgelehnt wird. Denn Nietzsche erklärt jetzt (I, 520 f.):
Man könnte uns nicht mehr Unrecht tun, als wenn man annähme, es sei uns um die Kunst allein zu tun: als ob sie wie ein Heil- und Betäubungsmittel zu gelten hätte, mit dem man alle übrigen Zustände von sich abtun könnte. Wir sehen im Bilde jenes tragischen Kunstwerks von Bayreuth gerade den Kampf der Einzelnen mit Allem, was ihnen als scheinbar unbezwingliche Notwendigkeit entgegentritt, mit Macht, Gesetz, Herkommen, Vertrag und ganzen Ordnungen der Dinge. Die Einzelnen können gar nicht schöner leben, als wenn sie sich im Kampfe um Gerechtigkeit und Liebe zum Tode reif machen und opfern.
Die dionysische Kunst hat nicht mehr den Selbstwert, daß sie uns wenigstens für kurze Augenblicke in einen Zustand versetzt, da wir das Urwesen selbst sind: sie hat nur noch den Wert eines Mittels zum Zweck, indem sie uns den Kampf der Einzelnen um Gerechtigkeit und Liebe vor Augen stellt. Und sie stärkt für diesen Kampf nicht mehr, indem sie bewirkt, daß wir uns in Furcht und Mitleid doch als die glücklich Lebendigen fühlen, und uns so von der ewigen Lust des Daseins überzeugt: sie soll überhaupt nicht mehr ein aufs höchste gesteigertes Leben vermitteln, sondern die unerträgliche Spannung des Lebens für kurze Augenblicke wohltätig entspannen. Sie ist »die Tätigkeit des Ausruhenden«. Denn (I, 522 f.):
Die Kämpfe, welche sie zeigt, sind Vereinfachungen der wirklichen Kämpfe des Lebens; ihre Probleme sind Abkürzungen der unendlich verwickelten Rechnung des menschlichen Handelns und Wollens. Aber gerade darin liegt die Größe und Unentbehrlichkeit der Kunst, daß sie den Schein einer einfacheren Welt, einer kürzeren Lösung des Lebensrätsels erregt. Niemand, der am Leben leidet, kann diesen Schein entbehren, wie niemand des Schlafs entbehren kann. Je schwieriger die Erkenntnis von den Gesetzen des Lebens wird, um so inbrünstiger begehren wir nach dem Scheine jener Vereinfachung, wenn auch nur für Augenblicke, um so größer wird die Spannung zwischen der allgemeinen Erkenntnis der Dinge und dem geistig-sittlichen Vermögen des Einzelnen. Damit der Bogen nicht breche, ist die Kunst da.
Damit ist die »Unentbehrlichkeit« der Kunst bewiesen und zugleich auch bewiesen, daß es das Höhere wäre, die Kunst entbehren zu lernen. Ihre »Größe« wäre also durch diese Betrachtung eher widerlegt. Denn es ist doch nur die Schwäche des Menschen, die sie notwendig macht. Das Bedürfnis nach Kunst steht zwar in geradem Verhältnis zu der Schwierigkeit des Lebens, aber in umgekehrtem Verhältnis zu der Kraft des Menschen. Der große Mensch sollte die Kunst entbehren können. Und könnte das, daß man sich durch die Kunst den Schein einer einfacheren Welt vorspiegeln läßt, die Tauglichkeit für das wirkliche Leben nicht auch gefährden? Könnte man durch die Kunst nicht auch richtig betrogen werden? Das dürfte nicht so selten vorkommen. – Was aber gewiß nicht entbehrt werden kann, ist daß man sich in den unendlich verwickelten Verhältnissen des wirklichen Lebens zurechtfindet. Schlechthin unentbehrlich ist nicht der Schein der Kunst, sondern die Wahrheit der Wissenschaft. Indem die Kunst die metaphysische Bedeutung verliert, muß sie zugleich der Wissenschaft den Vorrang einräumen.
Diese Konsequenz hat Nietzsche noch nicht mit Bewußtsein gezogen, tatsächlich aber wird ihm, was hinter der »Erscheinung« sein mag, gleichgültig, das Leben in der »Erscheinung« zur Sache, um die sichs eigentlich handelt. Von dem »Urwesen« ist nicht mehr die Rede; ob das Denken an dem Leitfaden der Kausalität bis in die tiefsten Abgründe des Seins reicht, wird nicht mehr gefragt; der Gegensatz von Sein und Erscheinung beschäftigt Nietzsche überhaupt nicht mehr. Denn er bekennt jetzt:
Mir scheint die wichtigste Frage aller Philosophie zu sein, wie weit die Dinge eine unabänderliche Artung und Gestalt haben: um dann, wenn diese Frage beantwortet ist, mit der rücksichtslosesten Tapferkeit auf die Verbesserung der als veränderlich erkannten Seite der Welt loszugehen (I, 514).
Übrigens hat Nietzsche diesen Gedanken, indem er ihn ausspricht, bereits überholt; denn er hält »die Lehren vom souveränen Werden, von der Flüssigkeit aller Begriffe, Typen und Arten, von dem Mangel aller kardinalen Verschiedenheit zwischen Mensch und Tier« zwar für »tötlich«, aber für »wahr« (I, 366 f.) – Eine unabänderliche Artung und Gestalt der Dinge gibt es also für ihn überhaupt nicht mehr. Andrerseits hat der Philosoph die Aufgabe, den Wert des Daseins neu festzusetzen (I, 414 f.). Aber Nietzsche denkt dabei nicht mehr an eine Urlust, einen Urschmerz des Lebens; er fragt nicht mehr, ob und wie wir uns in den Schrecken der Individualexistenz doch als die glücklich Lebendigen fühlen können – obgleich er auch noch sagen kann, daß der Philosoph »ein gerechtes Urteil über das gesamte Menschenleben abgeben will«. Denn er fährt fort: »nicht also nur über das durchschnittliche, sondern vor allem auch über das höchste Los, das einzelnen Menschen oder ganzen Völkern zufallen kann«. Das wesentliche Los des Menschen ist ihm zum durchschnittlichen Los der Menschen geworden; und mehr als dies interessiert ihn die verschiedene »Höhe« des Loses der einzelnen Menschen und Völker: mehr als der absolute, der relative Wert des Lebens. So kann Nietzsche auch, daß der Philosoph die Aufgabe habe den Wert des Daseins neu festzusetzen, mit der geschichtlichen Bemerkung begründen: »denn das ist die eigentümliche Aufgabe aller großen Denker gewesen, Gesetzgeber für Maß, Münze und Gewicht der Dinge zu sein«. Es handelt sich für ihn also nicht sowohl um den »Wert des Daseins«, sondern vielmehr um den Wert der Dinge im Dasein. Übrigens unterliegt das spezifische Gewicht (nicht der Dinge, sondern) der Stoffe keiner menschlichen Gesetzgebung, nur das Marktgewicht (nicht der Stoffe, nicht einmal der Dinge, sondern) der Waren. Auch Maß und Münze sind nur willkürliche Bestimmungen für den Verkehr. Gibt es ein spezifisches Gewicht, das nur festzustellen, nicht vorzuschreiben wäre, überhaupt nicht? Und ist der Philosoph in seiner Gesetzgebung nicht auch an ein Gesetz gebunden? Wodurch soll der Philosoph andre bestimmen, sich von ihm Gesetze vorschreiben zu lassen? Ist das letzte Wort des Philosophen: » sic volo, sic jubeo«? …
Nietzsche kehrt wieder von Schopenhauer zu sich selbst zurück. Deshalb ist auch, was er über Schopenhauer als Erzieher sagt, mehr charakteristisch für Nietzsche geworden als für Schopenhauer. Deshalb kann er Schopenhauer verherrlichen, ohne dessen Verdienste um die »Metaphysik« zu erwähnen. Denn wenn er es auch nicht sagt, so denkt er doch wieder wie 1868: »Es gibt keine Frage, die notwendig nur durch die Annahme einer intelligiblen Welt gelöst wird« (L. I, 354).