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Zarathustra. Er kann die wirkliche Bejahung des wirklichen Lebens nicht lehren.
Es ist nun leicht zu begreifen, daß Zarathustra sich des in ihm, durch ihn schaffenden Willens mit höchstgesteigertem Selbstgefühl bewußt wird. Was er will, ist ohne Zweifel etwas sehr Hohes und möge meinetwegen das Höchste sein, das ein Mensch überhaupt wollen kann. Das darf uns aber doch nicht abhalten, genau zuzusehen, wie er sein Wollen zu verwirklichen versucht. Denn mit dem bloßen Wollen ist es nicht getan.
Zarathustra verkündigt: »Gott ist tot«. Das ist eigentlich eine wunderliche Rede. Entweder ist Gott: und dann stirbt er nicht; oder ist Gott nicht: und dann stirbt er auch nicht. Was sterben kann, ist nur der Glaube an Gott – wenn Gott nicht ist. Denn wenn Gott ist, wird er sich auch immer wieder Anerkennung verschaffen. Darum betrachten wir auch den »Mörder Gottes« nicht mit dem Grauen Zarathustras, sondern mit mitleidiger Ironie. Dieser arme Tropf hat gewiß nicht Gott umgebracht, nur etwa den Glauben an Gott. Ist Gott, so hat das gar nichts zu bedeuten: Gott schadet es nicht, daß man ihn leugnet; und ein Glaube an Gott, der sich umbringen läßt, war kein Glaube an Gott – nur ein Glaube an die Rede gewisser Menschen von Gott. Ist Gott nicht: so sollte doch gerade Zarathustra es nicht tragisch nehmen, daß ein Wahn als solcher entlarvt wird. Wollte der Mörder Gottes sich Gottes entledigen als eines lästigen Zeugen seiner Häßlichkeit, so verrät sich darin nur, daß er nicht weiß, was er will. Seine »Rache am Zeugen« ist gleich sinnlos, ob Gott ist oder nicht ist. Das wäre das Beste, was ihm Zarathustra zu sagen hätte. Aber Zarathustra selbst ist sich über seine Stellung zu Gott ganz unklar. »Gott ist eine Mutmaßung«, sagt er. Also fragt es sich, ob diese Mutmaßung richtig ist oder falsch. Die Gottsüchtigen, auf die Zarathustra tief herabsieht, schließen: »Wenn kein Gott wäre, wie hielten wir es aus Menschen zu sein? Also ist Gott.« Zarathustra schließt: »Wenn Gott wäre, wie hielte ich es aus, nicht Gott zu sein? Also ist Gott nicht.« Ist Gott nicht, so schaffen jene durch ihren Schluß Gott nicht her; ist Gott, so schafft Zarathustra durch seinen Schluß Gott nicht weg. Gott ist, wenn er ist, nicht im Glauben an Gott – sondern ist, wenn er ist, oder ist nicht, wenn er nicht ist, ob an ihn geglaubt wird oder nicht. Das Dasein Gottes wird durch ein Postulat so wenig widerlegt wie bewiesen. Ist es aber Zarathustra unerträglich, daß er nicht erst die Welt schaffen sollte: so wird er sich in dieses Unerträgliche doch wohl oder übel finden müssen. Er hat nun einmal die Welt nicht geschaffen, ist selbst in eine schon geschaffene Welt erst eingetreten; er wird sie nicht einmal Kraft seines Willens nach seinem Bilde umschaffen. Hält er so das Leben nicht aus, so muß er das Leben eben – verneinen. Da ist ihm nicht zu helfen. Auch sein Wille, den er als Wende aller Not preist, wird diese Not nicht wenden. Übrigens hat Gott, wenn Gott ist, dem Schaffen der Menschen genügenden Spielraum gelassen: er läßt sich ja sogar leugnen, ohne seine vornehme Zurückhaltung aufzugeben. Es sind immer nur Menschen, die durch ihre Lehre von Gott die Freiheit des schaffenden Willens einschränken wollen. Dessen erwehren wir uns aber nicht dadurch am besten, daß wir das Nicht-Dasein Gottes postulieren; der nächste und wirklich beste Weg ist doch wohl, daß wir, ob Gott ist und wer oder was Gott ist, als die offene Frage behandeln, die es ist.
Zarathustra sagt mir einerseits, daß meine Geschichte mit meinem Tode aus sei; und er sagt mir andrerseits, daß ich das Leben, das ich lebe, unendlich oft wieder leben werde, wie ich es schon unendlich oft gelebt habe. Man sollte denken, daß er diese beiden Behauptungen aus dem Tatbestand des Lebens, das wir leben, erschließt. Doch läßt er sich nicht dazu herbei, die Frage, was im Tode mit uns geschieht, als eine offene Frage zu behandeln und sachlich zu erörtern. Der Ton, wie er davon redet, legt die Vermutung nahe, daß ihn die »ewige Wiederkunft« als stärkster Zwang zur Bejahung dieses Lebens begeistert und daß ihn das »ewige Leben« abstößt weil es dieses Leben entwerte. Aber gerade darin täuscht er sich auf die wunderlichste Weise. Allerdings, wenn ich mir jetzt ein Leben schaffen würde, das ich in infinitum wieder und wieder wiederholen muß, so müßte ich alle Kraft anwenden, diesem Leben den höchstmöglichen Gehalt zu geben. Aber ich muß ja schon dieses Leben nur wiederholen, wie ich es in zahllosen früheren Existenzen gelebt habe. Wenn ich daran denke, wie kann ich mir dann überhaupt noch ein Ziel setzen? Dagegen hat mein jetziges Streben gerade dann einen guten Sinn, wenn ich auf eine Fortsetzung rechnen darf, mit einer Fortsetzung rechnen muß, die durch meinen jetzigen Erfolg bedingt ist. Welcher Schüler wird eifriger lernen: der weiß, daß er nur die Klasse, in der er jetzt ist, in infinitum repetieren muß? oder der weiß, daß er von der Elementarschule in die Mittelschule, von der Mittelschule in die Hochschule promoviert werden wird, wenn er je sein Pensum richtig absolviert hat? Und sollte das in infinitum fortgehen, so daß jede höhere Schule eine höhere Aufgabe bringt, und also auch eine höhere Freude, sie zu lösen: so würde darin ja eben ein Anreiz zu einem unendlichen Streben nach einem unendlich hohen Ziel liegen. Der Übermensch werden zu wollen, der ich gewiß bis zu meinem Tode nicht werden werde – hat das einen Sinn, wenn mit meinem Tode meine Geschichte aus ist? wenn ich den Anlauf, den ich etwa nehme, nur wieder und wieder wiederholen kann? Aber das hat Sinn, jetzt die Aufgabe »Mensch« gründlich zu erledigen, damit ich nach meinem Tode die Aufgabe »Übermensch« in Angriff nehmen kann. In der Richtung von Zarathustras Denken liegt nicht die »ewige Wiederkunft«, sondern das »ewige Leben« – gedacht als ewig fortschreitendes, sich steigerndes Streben. Das kann Zarathustra nur verkennen, weil er an der üblichen bequemen, albernen Auffassung des »ewigen Lebens« scheu geworden ist. Aber ist es eines großen Denkers würdig, sich durch die Albernheit scheu machen zu lassen?
Nicht ganz so unheilbar wie an »Gott« und dem »ewigen Leben« ist Zarathustra an der »Hinterwelt« scheu geworden: das Selbst, das er hinter den Gedanken und Gefühlen des Ich's, als des Ich's Beherrscher, entdeckt, ist doch auch eine Hinterwelt. Daß aber dieses Selbst der Leib sei, das ist eine Behauptung, die sich weder beweisen noch widerlegen läßt. (Das Gehirn ist ein so bequemes refugium ignorantiae wie die Seele.) Ich halte diese Behauptung Zarathustras für falsch, kann ihm aber ruhig seinen Glauben lassen, da er so wenig wie ich der Meinung ist, daß ich dem Leib, als des Ich's Beherrscher, einfach zu gehorchen habe; – wie er andrerseits mit mir der Meinung ist, daß ich dem Selbst unbedingt gehorchen müsse. Aber ich wünschte von ihm zu hören, wie ich den Willen des Selbst, das ich als meinen Gebieter anerkenne, feststellen soll. Denn so steht es doch nicht, daß ich jeden Einfall meines Leibes oder Geistes als Gebot des Selbst betrachten wollte. Zarathustra ist schwerlich andren Sinnes. Er wird sich so wenig wie ich durch ein Gefühl des Schmerzes oder der Lust des Leibes oder der Seele vorschreiben lassen, daß er nachdenke, wie er nicht mehr leide oder wieder sich freue. Der Weichling ist er doch nicht! Aber ernsthafte Gedanken über das schwierige, gespannte, immer zweideutige Verhältnis von Ich und Selbst scheint er sich auch nicht gemacht zu haben. Wie ich mich mit mir selbst (also meinem Selbst) auseinandersetzen muß und verständigen kann, sagt er mir nicht; dafür kann er mir auch nicht als Vorbild dienen. Was er von seiner »stillsten Stunde« erzählt (VI, 215), kann ich nicht auf mich übertragen. Meine Auseinandersetzung mit mir selbst vollzieht sich nicht im Einschlafen, sondern im Aufwachen; nicht unter dem wollüstigen Schauder eines mysteriösen Erlebnisses, sondern in ernstem, klarem, ruhigem Denken. Oder: im Verlauf meiner Auseinandersetzung mit mir selbst geht jener Schauder in dem Ernst der Besprechung mit meinem Selbst unter. Und so eben gelange ich zu einer Verständigung mit mir selbst, von der mir Zarathustra keine Ahnung zu haben scheint.
Zarathustra spricht den heilen, gesunden Trieb rein. Gut! Aber da bleiben doch noch erhebliche Schwierigkeiten. Erstens: wann ist der Trieb gesund? Etwa dann, wenn der Mensch sich darin gesund fühlt? Das scheint Zarathustras Meinung zu sein. Aber das Gefühl der Gesundheit ist ein ganz unzuverlässiges Kriterium der Gesundheit. Die »Guten und Gerechten« z. B. fühlen sich offenbar gesund (deshalb sind sie für sich die »Guten und Gerechten«) – und sind nach Zarathustras Urteil durchaus morbid. Andrerseits ist Zarathustra für sich selbst ebenfalls ein »Guter und Gerechter«: er schafft ja (wie jeder »höhere Mensch«) durch Selbstbejahung den Wert »gut«. Wie unterscheidet sich nun Zarathustras echte, gesunde Selbstgerechtigkeit von der unechten, ungesunden Selbstgerechtigkeit der Pharisäer? Zarathustra sieht je und je einem Pharisäer verzweifelt ähnlich. Zweitens entsteht die Frage, ob Zarathustra wirklich alle elementaren Lebenstriebe rein zu sprechen vermag. Das Mitleid behandelt er mit unverhohlener Verachtung. Gibt es denn gar kein gesundes Mitleid? Doch wohl! Denn Zarathustra läßt den höheren Menschen fragen und klagen (VI, 15):
Was liegt an meinem Mitleiden? Ist nicht Mitleid das Kreuz, an das der genagelt wird, der die Menschen liebt? Aber mein Mitleiden ist keine Kreuzigung.
Gut! Schön! Aber die »Liebe« (von ihm »schenkende Tugend« genannt) scheint er nur als Äußerung des Triebs zu herrschen bejahen zu können (VI, 278). Ich erlaube mir zu behaupten, daß sie damit falsch gedeutet ist. Wenn ich liebe, will ich nicht herrschen, sondern dienen; und wenn ich herrschen will, liebe ich nicht. So steht die Sache für mich. Und ich habe im Lieben und Dienen ein ebenso gutes Gewissen wie im Herrschen. Zarathustra (der kein »Egoist« ist) scheint das Mitleiden, Dienen, Lieben vor sich selbst erst durch Umdeutung rechtfertigen zu müssen. Drittens. Die elementaren Triebe des Lebens sind alle rein. Aber ich bin im Leben durch eine Mehrheit von Trieben bestimmt. Und sie widerstreiten einander. Wie habe ich diesen Widerstreit im einzelnen Fall zu schlichten? wie soll ich die Befriedigung der verschiedenen Triebe verbinden, damit ich zu einem einheitlichen Leben gelange? Diese Schwierigkeit ist damit nicht gehoben, daß ich in jedem einzelnen Trieb (sogar während die Triebe mit einander kämpfen) das beste Gewissen habe. Zarathustra kennt sie natürlich auch; aber er hat sie nicht nach Gebühr gewürdigt. Damit, daß er die »Unschuld« preist und das »Spiel des Schaffens«, ist es wirklich nicht getan. Das Schaffen ist nun einmal kein Spiel, wo es Mannigfaltiges, Gegensätzliches in Eins zu schaffen gilt!
Und vollends gar, daß die Unschuld erst wieder hergestellt wird; daß der schaffende Wille ein unerträgliches »Es war« umschafft, bis er sagen kann: »So habe ich es gewollt!« – das geht offenbar nicht im Spiel! Dazu genügt ja nicht, daß man den Trieb, durch den man in die Schuld hineingetrieben wurde (gibt es Unschuld, so gibt es auch Schuld), nachträglich vor sich selbst rein spricht; dazu muß ein Plan des Lebens ersonnen und verwirklicht werden, dem die Schuld sich so einfügt, daß sie nachträglich gewollt werden müßte, wenn sie nicht zufällig, unwillkürlich, wider Willen eingetreten wäre! Übrigens: kann ich denn nachher jemals sagen: »So habe ich das gewollt«, wenn ich es vorher so eben nicht gewollt habe? Was ich erst umschaffen muß, damit ich es gewollt haben kann, das habe ich doch eben nicht gewollt! Darüber hilft kein schaffender Wille weg, nur eine – Lüge! Zarathustra will uns verleiten, es mit der intellektuellen Redlichkeit nicht genau zu nehmen, die Nietzsche als die jüngste, schwerste und erhabenste der Tugenden entdeckt – oder wieder entdeckt hat. Denn so ganz unbekannt war diese Tugend auch vor Nietzsche nicht. Wir halten es mit Nietzsche und lehnen Zarathustras wohlgemeinten, aber schlechten Rat ab.
Aber darin hat Zarathustra Recht: wer sein Leben unbedingt bejahen will, muß auch seine Vergangenheit bejahen lernen. Wie das zugehen soll, weiß er uns freilich nicht zu sagen. Und so ist seine Anweisung zur Bejahung des Lebens im besten Falle nur für den Menschen brauchbar, der kein fatales »Es war« hinter sich hat. Also für das noch »unschuldige« Kind – das für Zarathustras Lebensweisheit doch noch nicht reif ist. Also ist Zarathustras Anweisung zur Bejahung des Lebens für den wirklichen Menschen, der sie brauchte, überhaupt nicht zu brauchen. Zarathustra selbst ist eben kein wirklicher Mensch, kann also den wirklichen Menschen auch nicht leben lehren.
Damit soll nicht geleugnet sein, daß Zarathustra über das Menschenleben sehr viel sehr Scharfsinniges, Feinsinniges, Tiefsinniges, Hochsinniges zu sagen hat. Nur wie seine Weisheit auf das wirkliche Leben anzuwenden ist, weiß er nicht zu lehren. Wer aber nach Zarathustras Anweisung leben will, wird bald entdecken, daß das nicht bloß sehr schwer ist, sondern einfach nicht geht. Wie er das im großen Ganzen angreifen sollte, wird er aus Zarathustras Reden nicht herausfinden; und was ihm im Einzelnen einleuchtet (dessen mag sehr viel sein), muß er sich für die Anwendung erst umdeuten. Der beste Gewinn, den er von Zarathustra haben wird, ist, daß sich sein Geschmack für das Leben verfeinert. Aber mit dem feinsten Geschmack ist man noch kein Künstler; und auch mit dem feinsten Geschmack für das Leben noch kein Lebenskünstler.