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28. Kapitel.

Kritik des Christentums im »Antichrist« (1888).


Nietzsche geht an seine Kritik des Christentums, ohne uns erst genau zu sagen, was er unter Christentum versteht. Und doch hat er selbst erkannt: »Das Wort schon ›Christentum‹ ist ein Mißverständnis –, im Grunde gab es nur Einen Christen, und der starb am Kreuz« (VIII, 265). Also haben wir genau zu unterscheiden, was im Christentum mißverstanden wurde, und was alles durch Mißverständnis aus dem Mißverstandenen wurde. Ferner ist das Christentum manches Christen nicht bloß ein Mißverständnis, sondern bewußtes Nichtchristentum oder gar Antichristentum. Hat sich etwa der von Nietzsche als Nichtchrist gefeierte Christ Cesare Borgia für einen Christen gehalten? Schwerlich. Und Nietzsche selbst ist, wenn ich nicht irre, als Antichrist Christ geblieben. Wer ohne diese Unterschiede im Christentum zu beachten, das Christentum in Bausch und Bogen kritisiert, gibt nicht eine Kritik des Christentums, sondern eine Kritik der Christenheit.

Ich scheide nun aus Nietzsches Kritik des Christentums alles aus, was sich auf das bloße Namenchristentum bezieht; und dessen ist nicht wenig. Sodann suche ich strenger als Nietzsche selbst es tut auseinanderzuhalten das Urteil über das Christentum des einzigen Christen: Jesu, – und das Urteil über das Christentum, das durch Mißverstehen seines Christentums entstand. –

Nietzsche glaubt als Historiker nicht, daß den Evangelien noch die äußere und innere Geschichte Jesu zu entnehmen sei. Doch steht ihm der Zweifel an der Geschichtlichkeit Jesu noch ferne; und er traut sich auch zu, den in den Evangelien freilich stark entstellten Typus des Erlösers noch herausstellen zu können. Als wesentlich für diesen Typus erkennt er (VIII, 258 f.):

Jesus hat einen tiefen Instinkt dafür, wie man leben muß, um sich »im Himmel« zu fühlen, um sich »ewig« zu fühlen; und er lebt ganz aus diesem Instinkt;

»im Himmel«, »ewig« fühlt sich Jesus, weil für ihn jedes Distanz- [und Gegensatz-] Verhältnis zwischen Gott und Mensch abgeschafft ist: Sünde, Schuld und Strafe gibt es für ihn nicht und ebensowenig Lohn;

damit ist für ihn zugleich jedes Distanz- und Gegensatz-Verhältnis zwischen den Menschen aufgehoben: er schätzt niemand gering, erzürnt sich gegen niemand, leistet dem, der gegen ihn böse ist, weder durch Wort noch im Herzen Widerstand;

und dies ist für ihn deshalb (und nur deshalb) möglich, weil ihm in dem Gefühl seiner Seligkeit, seiner Ewigkeit, alles zeitlich Wirkliche bloßes Symbol ist.

Daraus ergibt sich folgende Charakteristik Jesu (VIII, 257):

Er macht sich aus allem Festen nichts: alles was fest ist, tötet. Der Begriff, die Erfahrung »Leben«, wie er sie allein kennt, widerstrebt bei ihm jeder Art Wort, Formel, Gesetz, Glaube, Dogma. Er redet bloß vom Innersten; »Leben« oder »Wahrheit« oder »Licht« ist sein Wort für das Innerste, – alles Übrige, die ganze Realität, die ganze Natur, die Sprache selbst hat für ihn bloß den Wert eines Zeichens und Gleichnisses. Eine solche Symbolik par excellence steht außerhalb aller Religion, aller Kult-Begriffe, aller Historie, aller Naturwissenschaft, aller Welt-Erfahrung, aller Kenntnisse, aller Politik, aller Psychologie, aller Bücher, aller Kunst – sein »Wissen« ist eben die reine Torheit darüber, daß es Etwas dergleichen gibt. Die Kultur ist ihm nicht einmal vom Hörensagen bekannt, er hat keinen Kampf gegen sie nötig, – er verneint sie nicht … Dasselbe gilt vom Staat, von der ganzen bürgerlichen Ordnung und Gesellschaft, von der Arbeit, vom Kriege; er hat nie einen Grund gehabt die »Welt« zu verneinen, er hat den kirchlichen Begriff »Welt« nie geahnt … Das Verneinen ist eben das ihm ganz Unmögliche.

Durch diesen Typus Mensch kommt Nietzsche eigentlich in eine nicht geringe Verlegenheit. Ist Jesus das Verneinen ganz unmöglich, so hat er ja endgültig erreicht, was Nietzsche nur erstrebt: das unbedingte Ja zum Leben. Auch für Nietzsche fehlt wie für seinen Jesus Sünde, Schuld und Strafe. Trotzdem klingt es wie ein Vorwurf, daß für Jesus jedwedes »Distanzverhältnis« zwischen Gott und Mensch abgeschafft sei. In der Tat könnte mit der Ehrfurcht vor »Gott« (die es für Nietzsche so wenig gibt wie »Gott«) auch die Ehrfurcht vor sich selbst (die nach Nietzsche der vornehmen Seele eignet) aufhören. Und ganz zuwider muß es Nietzsche sein, daß Jesus keine Distanz zwischen den Menschen sieht (er schätzt niemand gering – schätzt also auch niemand hoch) und dem Menschen, der böse gegen ihn ist, keinen Widerstand leistet. Wird es Jesus durch den Selbsterhaltungstrieb widerraten, daß er dem Bösen widerstehe, so erkennt Nietzsche in diesem Egoismus doch schwerlich den der vornehmen Seele. Der wichtigste, entscheidende Einwand gegen Jesus ist aber für Nietzsche offenbar dessen »Instinkthaß gegen die Realität«: daß dieser »große Symbolist« »nur innere Realitäten als Realitäten, als Wahrheiten nahm, – daß er den Rest, alles Natürliche, Zeitliche, Räumliche, Historische nur als Zeichen, als Gelegenheit zu Gleichnissen verstand«. Jesus ist »Anti-Realist« – damit ist ihm das Urteil gesprochen.

Aber hier drängt sich nun die Frage auf, ob Nietzsche die Sache, Jesus, sich selbst richtig verstanden hat: ob er weiß, was er sagt.

Denn das Natürliche, Zeitliche, Räumliche läßt sich nicht bloß als »Zeichen«, als »Gelegenheit zu Gleichnissen« nehmen. Nicht einmal von einem Geisteskranken: auch dem gibt sich durch seinen Körper noch die Realität zu fühlen. Und Nietzsche nimmt doch nicht an, daß Jesus in einer ununterbrochenen Halluzination gelebt hätte. Nahm nun Jesus nur innere Realitäten als Realitäten, so dies doch nur im Unterschied von, im Gegensatz zu äußeren Realitäten, die er auch als Realitäten fühlte. Das Besondere an ihm ist also nur etwa, daß er sich in seinem Leben durch die inneren Realitäten unvergleichlich stärker bedingt sah als durch die äußeren Realitäten. Aber dabei war er Realist, – außer die inneren Realitäten, durch die er sich auch und mehr als durch die äußeren Realitäten bedingt und bestimmt sah, sind gar keine Realitäten. Dann ist er freilich Anti-Realist, Symbolist: nämlich eben verrückt.

Wenn nun aber Jesus doch auch unter dem Druck der (äußeren) Realität stand und sich durch diesen Druck nicht in der Praxis seines Lebens bestimmen ließ: so kann das nicht bloße »Unfähigkeit zum Widerstand« gewesen sein; wie es auch ein Widersinn ist, daß bei ihm die Unfähigkeit zum Widerstand »Moral« geworden sei. Unter Moral wird auch von Nietzsche verstanden, daß man glaubt etwas zu sollen, also tun zu sollen. Der Imperativ »widerstehe nicht dem Bösen« setzt sogar voraus, daß Jesus annimmt, der Mensch wolle unwillkürlich dem Bösen widerstehen und müsse sich dazu erst entschließen, dem Bösen nicht zu widerstehen; und das hat Jesus doch wohl auch von sich aus gewußt. Also ist Jesu Unfähigkeit zum Widerstand wohl eher eine ungewöhnlich große Fähigkeit zum Widerstand: daß er sich nämlich nicht zu der von dem Gegner beliebten Art des Kampfes herausfordern ließ. Wie man andrerseits durch bloße Unfähigkeit zum Widerstand es nicht zur Kreuzigung bringt. Die Feinde Jesu müssen ihn gefürchtet haben; deshalb kann Jesus nicht das Lamm gewesen sein, das Nietzsche in ihm sieht. Was den Wolf bestimmt, das Lamm anzugreifen, konnte Jesu Gegner ja nicht bestimmen. Übrigens traut Nietzsche selbst seinem Jesus zu, daß er nicht bloß keinen Schritt getan habe, der das Äußerste von ihm hätte abwehren sollen, sondern das Äußerste geradezu herausgefordert habe (VIII, 261), was mit dem Nicht-feind-sein- können doch auch nicht recht stimmt.

Merkwürdigerweise übergeht Nietzsche, daß Jesus gesagt haben solle: »die Gesunden bedürfen des Arztes nicht, sondern die Kranken«; und daß Jesus also für seine Aufgabe gehalten habe, den Kranken zu helfen. »Schädlicher als irgend ein Laster« ist ja für den Antichristen Nietzsche das Christentum als »das Mitleiden der Tat mit allen Mißratnen und Schwachen« (VIII, 218): so hätte Nietzsche doch zur Frage stellen sollen, ob Jesus selbst schon diesem Über-Laster fröhnte. Aber Nietzsche traut seinem Jesus eine Tat überhaupt nicht zu, also auch nicht ein Mitleiden der Tat, also auch nicht eine Agitation für ein Mitleiden der Tat. Dann hat er aber auch zu einem Kampf gegen Jesus keine Veranlassung, ja keine Möglichkeit. Will er Jesus etwa verwehren, sich als Kind Gottes selig zu fühlen? Oder will er ihn zwingen, andre Menschen gering zu schätzen? sich über andre Menschen zu entrüsten? dem, der gegen ihn böse ist, Widerstand zu leisten? Dadurch machte er sich ja nur lächerlich! Oder wie will er Jesus überführen, daß die »Realität« nicht bloß Zeichen und Veranlassung zu Gleichnissen ist? Was er sagen und tun mag: sein Jesus wird darin nur ein Zeichen und die Veranlassung zu einem Gleichnis sehen.

Nietzsche kann nicht gegen Jesus selbst kämpfen; und auch nicht gegen den wirklichen Nachfolger Jesu, der nach der »Praktik« Jesu lebt, also eigentlich selbst ein zweiter Jesus ist. In der Tat bekämpft sogar der Antichrist Nietzsche nicht eigentlich Jesus, sondern nur das Christentum; und nicht das Christentum, das in der Praktik Jesu besteht, sondern nur das Christentum, das durch ein Mißverstehen Jesu zu einer ganz andern, der Praktik Jesu geradezu entgegengesetzten Praktik des Lebens kommt. Und indem er dieses Christentum als nicht christlich, ja antichristlich entlarvt, kämpft er zwar nicht für Jesus, aber gegen die falschen Freunde, also schlimmsten Feinde Jesu. Für einen Antichristen eine wirklich sonderbare, tragikomische Lage!

Wie ist nun dieses Christentum, das eigentlich ein Antichristentum ist, entstanden? Nietzsche will uns die wirkliche Geschichte des Christentums erzählen. Ich begleite seine Erzählung mit Randbemerkungen. – nicht um seine Auffassung der Kirchengeschichte zu berichtigen, sondern um sein Verhältnis zum Christentum zu beleuchten. (VIII, 265 ff.)

Der Kreuzestod Jesu drängte seinen Jüngern die Frage auf: »was war das? warum gerade so?« Hatten sie also bis dahin mit Jesus als Symbolisten und Antirealisten in seliger Gedankenlosigkeit gelebt, so war ihnen das fernerhin nicht möglich. Sie mußten jetzt auch denken – wie vielleicht doch auch schon Jesus nicht bloß gefühlt, sondern gedacht hatte. Sonst wäre allerdings der Abfall von Jesus schon damit eingetreten, daß ihnen eine Frage aufstieg.

Die Frage: »was war das?« zerlegte sich den Jüngern in die beiden Fragen: »wer war der Feind, der ihn getötet hat?« und »wie konnte Gott das zulassen [oder gar wollen]«? Nietzsche findet diese letztere Frage absurd – weil »Gott« für ihn nicht existiert; einem Menschen, für den Gott existiert, liegt diese Frage so nahe wie die Frage nach dem Motiv, das die Feinde Jesu haben mochten. Und wenn die Jünger überhaupt fragen, also denken durften, ohne das Evangelium Jesu zu verleugnen, verleugneten sie es durch die zweite Frage so wenig wie durch die erste. Der Fehler konnte erst in den Antworten liegen, die sie sich gaben; und er lag auch nach Nietzsches Auffassung in der Tat erst in diesen.

Auf die Frage: »wer hat ihn getötet?« antworteten die Jünger: »das herrschende Judentum, sein oberster Stand«. Nietzsche gibt dieser Antwort die Deutung (VIII, 267 f.):

Man empfand sich von diesem Augenblick im Aufruhr gegen die Ordnung, man verstand hinterdrein Jesus als im Aufruhr gegen die Ordnung. Bis dahin fehlte dieser kriegerische, dieser neinsagende, neintuende Zug in seinem Bilde; mehr noch, er war dessen Widerspruch. Offenbar hat die kleine Gemeinde gerade die Hauptsache nicht verstanden, das Vorbildliche in dieser Art zu sterben, die Freiheit, die Überlegenheit über jedes Gefühl von Ressentiment –

und offenbar nimmt Nietzsche dieser kleinen Gemeinde mehr als das Mißverstehen des Meisters das übel, daß sie sich gegen den obersten Stand des herrschenden Judentums empört. Das könnte ihnen zwar nach Nietzsches guter Auffassung der Vornehmheit die Ehrfurcht vor sich selbst gebieten; nach Nietzsches schlechter Auffassung der Vornehmheit aber ist so was kleinen Leuten nicht erlaubt – sogar wenn der oberste Stand, gegen den sie sich empören, Priester sind. Denn daß kleine Leute sich gegen einen höheren Stand empören, kann überhaupt nur aus Ressentiment entspringen. Übrigens konnten es doch wohl nur die derzeitigen Machthaber sein, die Jesus hinrichten ließen; und es gehört zum Begriff des Aufruhrs, daß Aufruhr sich gegen die Ordnung richtet; und wem eine gültige Ordnung (wie alle Realität) nur ein Symbol ist, der steht, ob er das will oder nicht will, im Aufruhr gegen die Ordnung.

Auf das absurde Problem, wie Gott das zulassen [oder gar wollen] konnte,

fand die gestörte Vernunft der kleinen Gemeinschaft eine geradezu schrecklich absurde Antwort: Gott gab seinen Sohn zur Vergebung der Sünden, als Opfer. Das Schuldopfer, und zwar in seiner widerlichsten, barbarischsten Form, als Opfer des Unschuldigen für die Sünden der Schuldigen! Welches schauderhafte Heidentum! – Jesus hatte ja den Begriff »Schuld« selbst abgeschafft, – er hat jede Kluft zwischen Gott und Mensch geleugnet, er lebte diese Einheit von Gott und Mensch als seine »frohe Botschaft …« Und nicht als Vorrecht! (VIII, 269.)

Jesus hatte den Begriff Schuld also offenbar nicht »abgeschafft«; hatte offenbar nicht jede Kluft zwischen Gott und Mensch »geleugnet«. Und wenn er die Einheit von Gott und Mensch » lebte«, so brachte er seinen Jüngern dadurch wohl gerade zu Bewußtsein, daß andre Menschen (sie selbst eingeschlossen) die Einheit von Gott und Mensch eben nicht »leben«. Der höhere Mensch ist als solcher doch nicht die frohe Botschaft, daß alle Menschen höhere Menschen seien! Die Jünger lebten also selbst die Nicht-Einheit mit Gott und sahen, daß die andern Menschen die Nicht-Einheit mit Gott lebten; und diese in sich selbst erlebte, an andern beobachtete Nicht-Einheit mit Gott deuteten sie sich mit dem überkommenen Begriff »Schuld«; und die »Schuld« mußte und konnte nach der überlieferten Denkweise, in der sie noch befangen waren, aufgehoben werden durch ein Opfer. Geopfert wurde aber immer für den Schuldigen der Unschuldige: das liegt im Begriff des Opfers. Der Sündenbock ist als solcher unschuldig an der Sünde, für die er zu Asasel in die Wüste gejagt wird. Also war es zwar schrecklich, aber doch nicht so ganz absurd, daß sie sich den nach ihrer Meinung unschuldigen Tod Jesu als Opfer für die Sünde der schuldigen Menschen deuteten. Und sofern sie dadurch das Opfer überhaupt abgelöst fanden, war das sogar ein lebenfördernder Wahn von ihnen, den Nietzsche, für den die Falschheit eines Urteils noch kein Einwand gegen ein Urteil ist, für den die Frage nur ist, ob ein Urteil lebenfördernd ist (VII, 12), ihnen so sehr nicht verargen sollte. An dem Opfer Jesu starb (um in Nietzsches Sprache zu reden) der Gott, der ohne Opfer die Sünde nicht vergeben konnte; – und das war doch wohl kein Unglück: das Unglück trat erst dadurch ein, daß er wieder auflebte, weil er offenbar nur scheintot war.

Nietzsche sucht und findet den Fehler in der Entwicklung des Christentums an einer andern Stelle. Er erzählt weiter:

Von nun an tritt schrittweise in den Typus des Erlösers hinein: die Lehre vom Gericht und von der Wiederkunft, die Lehre vom Tod [Jesu?] als einem Opfertode, die Lehre von der Auferstehung, mit der der ganze Begriff »Seligkeit«, die ganze und einzige Realität des Evangeliums, eskamotiert ist – zu Gunsten eines Zustandes nach dem Tode!

In der Lehre vom Gericht, von Christi Wiederkunft zum Gericht, von der Auferstehung zum Gericht lebte eben der Gott, der strafen muß, wieder auf; aber der Glaube an die Auferstehung und an eine Seligkeit nach dem Tode ist mit dem Gedanken des Gerichts nicht unlöslich verbunden. Trotzdem beehrt Nietzsche gerade diesen Glauben mit seinem leidenschaftlichsten Haß. Denn (VIII, 271 f.):

Wenn man das Schwergewicht des Lebens nicht ins Leben, sondern ins Jenseits verlegt – ins Nichts –, so hat man dem Leben überhaupt das Schwergewicht genommen. Die große Lüge von der Personalunsterblichkeit zerstört jede Vernunft, jede Natur im Instinkte – alles, was wohltätig, was lebenfördernd, was zukunftverbürgend in den Instinkten ist, erregt nunmehr Mißtrauen. So zu leben, daß es keinen Sinn mehr hat zu leben, das wird jetzt zum Sinn des Lebens … Wozu Gemeinsinn, wozu Dankbarkeit noch für Herkunft und Vorfahren, wozu mitarbeiten, zutrauen, irgend ein Gemeinwohl fördern und im Auge haben? … Ebensoviel Versuchungen, ebensoviel Ablenkungen vom »rechten Weg« – » Eins ist not« … Daß Jeder als »unsterbliche Seele« mit Jedem gleichen Rang hat; daß in der Gesamtheit aller Wesen das »Heil« jedes Einzelnen eine ewige Wichtigkeit in Anspruch nehmen darf; daß kleine Mucker und Dreiviertels-Verrückte sich einbilden dürfen, daß um ihretwillen die Gesetze der Natur beständig durchbrochen werden: – eine solche Art Steigerung jeder Art Selbstsucht ins Unendliche, ins Unverschämte kann man nicht mit genug Verachtung brandmarken. Und doch verdankt das Christentum dieser erbarmungswürdigen Schmeichelei vor der Personal-Eitelkeit seinen Sieg, – gerade alles Mißratene, Aufständisch-Gesinnte, Schlechtweggekommene, den ganzen Auswurf und Abhub der Menschheit hat es damit zu sich überredet. Das »Heil der Seele« – auf deutsch: »die Welt dreht sich um mich«.

Als Nietzsche das niederschrieb, war er offenbar gerade unter dem Bann seines Teufels und Erzfeindes, des Geistes der Schwere (VI, 229). Da ich an keinen Teufel glaube, hat auch dieser Teufel keine Macht über mich. Ich nehme also Nietzsches Brandmarkung meines Glaubens gebührend leicht. Es ist ja auch das Schlimmste, was er zu sagen hat, nach seiner eigenen Meinung von gar keinem Belang. Da die Falschheit eines Urteils noch kein Einwand gegen ein Urteil ist, ist es auch kein Einwand gegen die Personal-Unsterblichkeit, daß sie eine »Lüge« sei. Sodann hat das, daß irgend jemand sich einbildet, um seinetwillen werden die Gesetze der Natur durchbrochen, mit dem Glauben an die Personal-Unsterblichkeit nur insofern etwas zu tun, als der Wunder-Wahn durch den Unsterblichkeits-Glauben überflüssig wird. Denn die Gesetze der Natur brauchen um meinetwillen doch nur dann durchbrochen zu werden, wenn für mich Glück und Unglück wesentlich von den Naturbedingungen meines Lebens abhängig ist. Das hört aber damit auf, daß ich »Seligkeit« erst von einem Leben erwarte, das durch die Natur nicht bedingt ist. Nur der Diesseitigkeits-Mensch braucht »Wunder«; der Jenseitigkeits-Mensch braucht kein »Wunder«.

Nun kann ich nicht einsehen, warum und wozu ich, wenn ich mich nun einmal jetzt nicht »selig« fühle, mir und andern einbilden soll, ich sei doch selig. Da ich die dazu nötige Kraft der Autosuggestion nicht besitze, wäre ein Evangelium, das so was von mir verlangte, für mich auch gar keine frohe Botschaft. Die Hoffnung, ohne Autosuggestion, also ohne Selbstbetrug, vor meinem Tode noch in einen Zustand der »Seligkeit« zu kommen, habe ich aus mich überzeugenden Gründen (weil ich auch an eine Durchbrechung der Gesetze meiner psychischen Entwicklung nicht mehr glaube) aufgegeben. Also gibt es für mich »Seligkeit« überhaupt nicht, oder erst nach dem Tode, in einem anderen Leben. Ich habe den Glauben, daß ich nach meinem Tode zwar nicht gerade in einen Zustand der Seligkeit, aber unter bessere, nicht meinen Wünschen, aber meinem Willen besser entsprechende Lebensbedingungen komme.

In diesem Glauben verlege nicht ich das Schwergewicht des Lebens ins Jenseits, verlegt sich vielmehr mir das Schwergewicht des Lebens ins Jenseits. Beides ist durchaus nicht dasselbe: das erste ist (wie ich durch Versuch festgestellt habe) eine eingebildete Bewegung von mir; das zweite (wie sich mir durch Erfahrung festgestellt hat) eine wirkliche Bewegung in mir. Nietzsche kennt offenbar nur jene, nicht diese. Dadurch aber, daß sich das Schwergewicht des Lebens verschiebt, wird dem Leben das Schwergewicht nicht genommen. Das weiß ich durch Erfahrung, sehe aber auch nicht ein, wie sich das anders verhalten sollte. Durch eine Verschiebung des Schwerpunkts wird doch das Gewicht des Körpers, dessen Schwerpunkt sich nur verschiebt, nicht geändert; und wenn diese Verschiebung dadurch eintritt, daß der Körper einen Zuwachs bekommt, wird sein Gewicht (sollte man meinen) vielmehr erhöht. Nur wenn sein Schwerpunkt dadurch sich verschieben würde, daß ein Stück von ihm wegfällt, wäre die Verschiebung des Schwerpunkts mit einer Verminderung des Gewichts verbunden. Das ist aber im vorliegenden Falle dadurch ausgeschlossen, daß das Leben nach dem Tode weitergeht: dadurch wird ja eben ausgeschlossen, daß ich mein Leben überhaupt verkürzen könnte. Auch das Gewicht des einzelnen Erlebnisses wird dadurch offenbar nicht vermindert, sondern erhöht, daß es eine nicht bloß zeitlich begrenzte, sondern ins Unendliche sich erstreckende Nachwirkung hat. Übrigens scheint Nietzsche zu meinen, das größere oder kleinere Gewicht eines Lebensmoments bestehe nur darin, daß ich es schwerer oder leichter nehme; während ich entdeckt habe, daß das Lebensmoment ein wirkliches Gewicht hat, das ich nur feststellen kann, – so daß es mir gar nicht überlassen bleibt, ob ich es leicht oder schwer nehmen will. Doch wird ein Mensch mit gesunden Sinnen ein Erlebnis offenbar deshalb auch nicht leichter nehmen, weil es für ihn Folgen hat, die sich, ob er will oder nicht will, ins Unendliche erstrecken. Nietzsche läßt den Unsterblichkeits-Gläubigen aus seinem Glauben Folgerungen ziehen, die durch seinen Glauben gerade ausgeschlossen sind. Eine sehr gewöhnliche Art, den Glauben zu bekämpfen! die bloß dadurch einen gewissen Sinn bekommt, daß man gemeinhin den Unsterblichkeitsglauben von Menschen bekämpft, die eine Unsterblichkeit gar nicht glauben! und die deshalb wohl auch selbst aus ihrem »Glauben« folgern was aus dem Glauben gar nicht folgt!

In dem wirklichen Leben wird dadurch nichts verändert, daß es sich über den Tod hinaus fortsetzt; und der wirkliche Mensch wird dadurch nicht anders, daß er mit einer Fortsetzung seines Lebens über den Tod hinaus rechnet. Das relative, meßbare Gewicht der einzelnen Lebensmomente bleibt objektiv dasselbe, ob das Leben mit dem Tode aufhört oder nicht, und bleibt für mich subjektiv dasselbe, ob ich eine Fortsetzung des Lebens über den Tod hinaus glaube oder nicht. Lust und Schmerz der Sinne, des Gemüts, des Geistes schmecken mit und ohne Unsterblichkeit gleich gut und gleich schlecht. Magen- und Herzweh wird durch den Glauben an eine Unsterblichkeit kein Vergnügen; daß man sich körperlich wohl fühlt, geehrt und geliebt wird, erreicht was man erstrebt, das wird durch den Glauben an die Unsterblichkeit kein Mißvergnügen. Leopardi findet sich ohne Glauben an die Unsterblichkeit veranlaßt, zu seinem Herzen zu sagen:

… Lange
Genug hast du geklopft. Nichts hier verdient
Dein reges Schlagen, keines Seufzers ist
Die Erde wert. Nur Schmerz und Langweil bietet
Das Leben, andres nicht. Die Welt ist Kot.

Der heilige Franziskus hatte in seinem Glauben an ein ewiges Leben seine kindliche Freude an Schwester Sonne, Bruder Mond usf. Goethe verliebte sich ohne Unsterblichkeitsglauben in Christiane Vulpius, mit Unsterblichkeitsglauben in Ulrike von Levetzow; und daß diese Liebe andrer Art war als jene, hatte seinen Grund doch wohl nicht in seiner Wiederbekehrung zum Unsterblichkeitsglauben. Der Unsterblichkeitsglaube ist es also nicht, der jede Vernunft, jede Natur im Instinkte zerstört: die Entartung der Instinkte hat, wo sie eintritt, ganz andre Ursachen. Aber die ob gesunde oder kranke, jedenfalls unvermeidliche Entwicklung des Menschen bringt es mit sich, daß er nicht bloß instinktiv (im Augenblick aus dem Augenblick für den Augenblick) leben kann. Er muß an seine Zukunft denken. Damit ist die Herrschaft des Instinktes gebrochen. Ob er nur mit seiner Zukunft vor dem Tod oder auch mit seiner Zukunft nach dem Tod rechnet, ist gegenüber dieser wesentlichen Veränderung in seinem Leben von untergeordneter Bedeutung. Denn er rechnet doch mit der einen und andern Zukunft im gleichen Sinn. Wer sich durch dieses Leben durchzuschwindeln hofft, hofft sich auch in jenes Leben hineinzuschwindeln. Wer überhaupt dankbar ist, wird im Glauben an ein ewiges Leben glauben, daß er dem Wohltäter ewig Dank schulde. Wer überhaupt Gemeinsinn hat, wird dadurch nicht an Gemeinsinn verlieren, daß er mit den Menschen, denen er sich jetzt verbunden fühlt, nach dem Tode weiterzuleben hofft. Kurz: im Glauben an eine Unsterblichkeit lebt der Mensch als der, der er nun einmal ist, nur mit erweitertem Horizont. Das ist alles.

Insbesondere hat die »unsterbliche Seele« mit dem »Rang« des Menschen gar nichts zu schaffen. Als unsterbliche Seele hat der Mensch überhaupt keinen Rang, also auch nicht gleichen Rang mit irgendwem und jedem; wie ein Mensch auf seine unsterbliche Seele, die ex hypothesi jeder hat, auch nicht wohl eitel sein kann. Eitel kann man sein auf seinen relativen Wert, also auf seinen Rang. Als unsterbliche Seele hat der Mensch nicht einen relativen Wert, sondern absoluten Wert; also nicht einen Rang, sondern Würde; und im Bewußtsein seiner Würde, die er als unsterbliche Seele hat, hat er Ehrfurcht vor sich selbst. Ist er sich dabei seines relativen Werts und Unwerts, also seines Rangs, bewußt: so ist er nach Nietzsches eigener, guter Auffassung eine vornehme Seele, also weder ein Mucker noch ein Dreiviertels-Verrückter. Wenn aber je jemand glaubte, seine unsterbliche Seele gebe ihm einen Rang, auf den er eitel sein könne: so ist daran nicht sein Glaube an die Unsterblichkeit schuld, sondern seine Dummheit; und genau besehen und genommen glaubt er dann überhaupt nicht an sich als unsterbliche Seele – wie Nietzsche überhaupt den Unsterblichkeitsglauben derer bekämpft, die eine Unsterblichkeit nicht glauben.

Merkwürdiger- aber nicht zufälligerweise übersieht Nietzsche, wie der Unsterblichkeitsglaube wirklich zu einer Gefahr wird. Das geschieht nämlich dadurch, daß Menschen, denen es gar nicht um das Jenseits, sondern gar sehr um das Diesseits zu tun ist, andern einbilden, sie haben die Verfügung über das Jenseits, das sie vielleicht selbst überhaupt nicht glauben. Der Glaube an das Jenseits hat sich als ein vortreffliches Mittel bewährt, die Menschen für das Diesseits auszunutzen: nämlich der Glaube anderer an das Jenseits. Wenn Cesare Borgia nach Nietzsches Wunsch Papst geworden wäre, hätte er den Glauben andrer an das Fegfeuer gewiß so gut ausgenützt wie Leo X. – der an das Fegfeuer wohl selbst auch nicht glaubte. Luther aber hat sich dagegen wohl eben deshalb empört, weil er an das Jenseits, an Himmel und Hölle und Fegfeuer, glaubte. Freilich, wenn dem Willen zur Macht alles recht ist, kann dem Unsterblichkeitsglauben das nicht zum Vorwurf gemacht werden, daß er sich von dem Willen zur Macht ausnützen läßt. Dann ist es eher ein Vorwurf gegen den Unsterblichkeitsglauben, daß er auch den kleinen Leuten ein Selbstgefühl geben kann, das sie für die großen Hansen weniger traktabel macht. Die Macht kann nur meinem sterblichen Leib etwas anhaben; als unsterbliche Seele bin ich nicht zu vergewaltigen. Das ist freilich schlimm. –

Die Personal-Unsterblichkeit ist keine Besonderheit des Christentums. Dessen eigentümliches Wesen liegt erst darin, wie es Zeit und Ewigkeit verbindet. Da für Nietzsche das Jenseits überhaupt »das Nichts« ist, kommt das für ihn nicht in Frage; und so hat auch seine weitere Kritik des Christentums kein Interesse mehr. Auch würde eine Würdigung seiner »ewigen Anklage« gegen das Christentum (vielmehr die Christenheit) zu geschichtlichen Untersuchungen nötigen, denen ich nicht gewachsen bin. Und letztlich und eigentlich habe ich es ja nicht mit Kirchen- und Kulturgeschichte zu tun, und auch nicht mit Nietzsches Auffassung der Kirchen- und Kulturgeschichte, sondern mit Nietzsche selbst. Ihn aber lernen wir leichter und besser kennen aus seiner Selbstdarstellung in » Ecce homo«.


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