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Nietzsche wurde zum »Antichristen«. Ob er sich darin richtig verstanden hat? Eigentümliche Schwierigkeiten der Aufgabe, seine religiöse Entwicklung darzustellen.
In Voraussicht, daß er über kurzem mit der schwersten Forderung an die Menschheit herantreten müsse, die je an sie gestellt wurde, schien es Nietzsche unerläßlich, der Menschheit zu sagen, wer er eigentlich sei. Und so erzählte er in »Ecce homo«, »wie man wird was man ist«.
Aber diese Schrift zeigt auf jeder Seite, daß er damals weniger als je die Fähigkeit besaß, über sich selbst ein giltiges Zeugnis abzulegen. Er war so übervoll von sich selbst, daß er nur noch sich expektorieren, nicht mehr sich ruhig sehen und unbefangen beurteilen konnte. Er täuschte sich denn auch so gründlich über sich selbst, daß er, unmittelbar vor dem körperlichen und geistigen Zusammenbruch, endlich zur »großen Gesundheit« gelangt zu sein glaubte. Und soweit war es auch deshalb mit ihm gekommen, weil er den Instinkt der Selbsterhaltung, dessen er sich jetzt gerade rühmte, gänzlich verloren hatte.
Wer sein Verhältnis zu sich selbst so verkennt, wird auch für sein Verhältnis zu Andern keinen klaren, sichern Blick haben. Wir dürfen es also Nietzsche nicht aufs Wort glauben, wenn er sich uns als »der Antichrist« vorstellt. Schließt er seine Expektoration mit dem Ausruf: »Hat man mich verstanden? Dionysos gegen den Gekreuzigten …«, so dürfen wir uns die Frage erlauben, müssen wir die Frage aufwerfen, ob er wohl sich selbst verstanden hat. Man ist der Antichrist so wenig wie der Christ schon dadurch, daß man so was zu sein glaubt oder wünscht. Vielleicht hat Nietzsches anspruchsvolles Antichristentum mit Christus nicht mehr zu schaffen als manches anspruchsvolle Christentum. Leidenschaft gegen das Christentum beweist so wenig wie Leidenschaft für das Christentum: beides kann Mißverständnis sein.
Immerhin: daß Nietzsche der Antichrist sein wollte, ist auch dann von großer symptomatischer Bedeutung, wenn er sich darin über das Christentum und über sich selbst getäuscht hätte. Nietzsche ermächtigt uns durch sein stark betontes Antichristentum jedenfalls zu dem Versuch, ihn aus seinem Verhältnis zum Christentum heraus zu verstehen. Und so sei denn dieser Versuch hiermit gewagt.
Ehe wir aber die Aufgabe, die wir uns gestellt haben, in Angriff nehmen, empfiehlt es sich, daß wir uns deren eigentümliche Schwierigkeit verdeutlichen.
Nietzsches Verhältnis zum Christentum hat selbstverständlich seine Geschichte gehabt. Nietzsche ist aus einem Christen erst ein Antichrist geworden. Und verharrte er auch ohne Unterbrechung in der Feindschaft gegen das Christentum, in die er sich frühe hineingedrängt sah, so hatte diese doch nicht immer ganz dieselben Beweggründe. Die sind aber von größerer Wichtigkeit als das monotone Pathos seiner Abneigung gegen das Christentum. Es gilt also, der Entwicklung seines Verhältnisses zum Christentum Schritt für Schritt zu folgen.
Dabei haben wir natürlich Nietzsches Aussagen über sein Verhältnis zum Christentum zu verwerten.
Da er sich aber mehr und mehr in die Rolle des Antichristen hineingearbeitet hat, dürfen wir die Entwicklung seines Verhältnisses zum Christentum nur den gleichzeitigen Zeugnissen entnehmen. Nachträgliche Erklärungen stehen unter dem Verdacht, daß sich ihm das Bild seiner Entwicklung unter dem Einfluß der gegenwärtigen Stimmung verschoben habe. Sie sind also, wenn je, nur mit Vorsicht zu benützen. Wenn sie gleichzeitigen Zeugnissen widersprechen, entscheiden diese.
Aber auch die gleichzeitigen Aussagen dürfen nicht ohne weiteres für den Tatbestand genommen werden, den sie uns zu konstatieren scheinen. Es ist immer mit der Möglichkeit zu rechnen, daß Nietzsche unter dem Einfluß einer herrschenden Stimmung das Christentum und sich selbst nicht richtig versteht. Denn er ist nicht nur Gelegenheitsdenker, sondern auch Stimmungsphilosoph. Das ist um so mehr zu berücksichtigen, je sorgloser er sich der fruchtbaren Stimmung überläßt. Nimmt er doch sogar die gehobene Stimmung, worin er einen Gedanken erzeugt, als Beweis für dessen Wahrheit.
Da namentlich in späterer Zeit der bloße Name des Christentums auf ihn wirkte wie das rote Tuch auf den Stier, haben wir sein wirkliches Verhältnis zum Christentum letztlich überhaupt nicht seinen Aussagen über das Christentum zu entnehmen, sondern indirekten Zeugnissen. Wir müssen beobachten, wie die Gedanken, die er ohne Beziehung auf das Christentum produziert, sich zum Christentum verhalten. Nur wo er gar nicht vom Christentum redet, nimmt er eine unbefangene Stellung zum Christentum ein. Und da zeigt es sich dann eben, daß es sich bei ihm um ein bloßes und reines Antichristentum durchaus nicht handelt.
Was aber ist Christentum? Eine allgemein anerkannte »wissenschaftliche« Auffassung des Christentums gibt es nicht. Also sollte ich wohl, um einen festen Ausgangspunkt für meine Untersuchung zu gewinnen, selbst erst das Wesen des Christentums bestimmen? Ich halte es doch für besser, daß ich zugleich mit Nietzsches Kampf gegen das Christentum das Christentum, das er bekämpfen zu sollen glaubt, zur Darstellung zu bringen suche. Dabei stellt sich dann auch heraus, daß wir uns auf die akademische Frage nach dem Wesen des Christentums überhaupt nicht einzulassen brauchen. Nietzsche selbst fühlte sich durchaus nicht veranlaßt, aus einem Christentum, dessen geschichtliche Wirklichkeit ihn abstieß, ein verstecktes Wesen herauszudestillieren, das er sich doch etwa zueignen könnte. Darin folge ich ihm um so lieber, als ich selbst in den scharfsinnigen und tiefsinnigen Untersuchungen über das Wesen des Christentums auch ein Hilfsmittel sehe, einer ernsten, klaren, entschlossenen Auseinandersetzung mit dem empirischen Christentum sich zu entziehen.