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9. Kapitel

Die » Unzeitgemäßen Betrachtungen« (1873-76). Fortschreitende Verweltlichung der Auffassung der Kultur.


In der Tat wird Nietzsche in den »Unzeitgemäßen Betrachtungen« (1873-76) ganz und gar zum Kulturkämpfer, und seine Auffassung der Kultur verweltlicht sich immer mehr. Wir übergehen die schwierige Frage, welche Ursachen diese Verschiebung in seiner Denkweise hat, und deuten nur ihren tatsächlichen Verlauf an.

Daß er eine andere Richtung eingeschlagen hat, verrät sich sofort in der ersten »Unzeitgemäßen Betrachtung«. Bestand ihm zuvor die Kultur in den Reizmitteln, durch die der gierige Wille seine Geschöpfe im Leben festhält, so definiert er sie jetzt als »Einheit des künstlerischen Stils in allen Lebensäußerungen eines Volks« (I, 183). Damit läßt er eine gefährliche und anstößige Paradoxie fallen; aber er entleert und veräußerlicht damit auch die Kultur. Eine Korrektur, die doch den ursprünglichen, wenigstens tiefer gemeinten Sinn der Kultur nicht wiederherstellt, bringt er in der zweiten »Unzeitgemäßen« an. Da verwirft er eine romanische Auffassung der Kultur als einer bloßen Dekoration des Lebens, und bekennt sich zu dem griechischen Begriff der Kultur: »als einer neuen und verbesserten Physis, ohne Innen und Außen, ohne Verstellung und Konvention«; »als einer Einhelligkeit zwischen Leben, Denken, Scheinen und Wollen« (I, 384). Vielleicht charakterisiert er damit die griechische Kultur richtiger als zuvor: aber mit den kräftigen Wahnvorstellungen und lustvollen Illusionen, worin sie ihm früher ihren höchsten Sieg feierte, ist jetzt auch der Kampf mit den Schrecken und Entsetzlichkeiten des Daseins ausgeschaltet; und Nietzsche betont jetzt ganz korrekt, daß den Griechen durch die höhere Kraft ihrer sittlichen Natur der Sieg über alle andren Kulturen gelungen sei. Nach der dritten »Unzeitgemäßen« ist die Kultur »das Kind der Selbsterkenntnis jedes Einzelnen und des Ungenügens an sich«. Wer sich zur Kultur bekennt, spricht damit aus (I, 443):

Ich sehe etwas Höheres und Menschlicheres über mir, als ich selber bin; helft mir alle es zu erreichen, wie ich jedem helfen will, der Gleiches erkennt und an Gleichem leidet: damit endlich wieder der Mensch entstehe, welcher sich voll und unendlich fühlt im Erkennen und Lieben, im Schauen und Können, und mit aller seiner Ganzheit an und in der Natur hängt, als Richter und Wertmesser der Dinge.

Endziel der Kultur wäre also wieder unendliches Leben. Aber das unendliche Leben erlebt der Mensch nun nicht mehr in einem ekstatischen Erlebnis, das ihn über die zeitliche Bedingtheit des Lebens erhebt, sondern in dem endlosen Streben nach einem Höheren; also nur in unendlicher Annäherung; also nie. Daß der Mensch sich »unendlich« fühle, ist zur bloßen Hyperbel geworden; und ebenso die »Ganzheit« des Menschen. Für den wirklichen Menschen gibt es nur noch ein Mehr und Weniger von Lebensgefühl, von Lebensfülle; eine immer nur relative Steigerung, Bereicherung, Abrundung des Lebens. Allerdings lesen wir auch noch (I, 411), daß Nietzsche unter der wahren Kultur die Sehnsucht des Menschen verstehe, als Heiliger und als Genius wiedergeboren zu werden, und daß er das Ziel aller Kultur in der Erzeugung des Genius sehe. Die Kultur sollte also nicht durch eine allmähliche Annäherung an ein unendlich fernes Ideal, sondern durch eine Neuschöpfung verwirklicht werden: durch ein metaphysisches Geschehnis. So erwähnt denn auch Nietzsche noch den Glauben an eine metaphysische Bedeutung der Kultur; doch nur, um für seine Betrachtung davon abzusehen. Er schreibt nämlich ziemlich orakelhaft (I, 462):

Man muß es sogar für wahrscheinlich halten, daß das nächste Jahrtausend auf ein paar neue Einfälle kommt, über welche einstweilen die Haare jedes Jetztlebenden zu Berge stehen müßten. Der Glaube an eine metaphysische Bedeutung der Kultur wäre am Ende gar nicht so erschreckend: vielleicht aber einige Folgerungen, welche man daraus für die Erziehung und das Schulwesen ziehen könnte.

Vielleicht soll die metaphysische Bedeutung der Kultur darin liegen, daß die Natur zu ihrer eigenen Aufklärung über sich selbst des Philosophen, des Künstlers, des Heiligen bedürfe (I, 440). Doch wird dieser Gedanke nur beiläufig hingeworfen. Der Nachdruck fällt für Nietzsche auf die Folgerungen für die Erziehung und das Schulwesen, für die Kulturpolitik. Die Ratschläge aber, die er dafür gibt, daß die Erzeugung des Genius ermöglicht werde, lassen deutlich erkennen, daß er an eine Wiedergeburt im metaphysischen Sinne nicht mehr denkt. Tatsächlich handelt es sich nur darum (I, 411): »Macht zu gewinnen, um durch sie der Physis nachzuhelfen und ein wenig Korrektor ihrer Torheiten und Ungeschicklichkeiten zu sein«; – also nur um physikalische Mittel. Es liegt aber im Begriff, daß physikalische Mittel keinen metaphysischen Effekt erzielen können. Eine Kultur, die durch Korrektur der Physis gewonnen wird, hat keine metaphysische Bedeutung. Die »Wiedergeburt« ist für Nietzsche kein »Mythus« mehr, sondern zur bloßen Phrase geworden.


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