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Die Katastrophe von 1876. Was Nietzsche hätte tun sollen und nicht tat. » Menschliches, Allzumenschliches« (1878). Rechtfertigung des »Verrats« an Wagner und Schopenhauer.
Wie es zugegangen ist, läßt sich nur vermuten: aber über der Einweihung des Festspielhauses zu Bayreuth (für die er eben die vierte Unzeitgemäße Betrachtung: »Richard Wagner in Bayreuth«, geschrieben hatte) glaubte Nietzsche sich vollends zu überzeugen, daß Wagner der nicht war, den er in ihm gesehen, geliebt, verehrt, verherrlicht hatte: weder der große Künstler, noch der große Mensch, noch der große Held. Und zugleich glaubte Nietzsche sich vollends davon zu überzeugen, daß auch Schopenhauer der nicht war, den er in ihm gesehen, geliebt, verehrt, verherrlicht hatte: weder der große Denker, noch der große Erzieher. Die beängstigende Ahnung, daß er sich in Schopenhauer und Wagner getäuscht, in seinem Kampfe für Schopenhauer und Wagner vergriffen hatte, wurde ihm jetzt zur vernichtenden Gewißheit.
Das war um so schlimmer, als er eben im Kampfe mit aufsteigendem Zweifel ein feierliches Bekenntnis zu Schopenhauer und Wagner abgelegt hatte. Im Herbst 1873 hatte er für sich niedergeschrieben (IX, 246):
Welche Wirkung hat die Philosophie jetzt auf die Philosophen geübt? Sie leben so wie alle andren Gelehrten, selbst Politiker. Schopenhauer ist schon eine Ausnahme. Sie zeichnen sich durch keine Sitten aus. Sie lehren ums Geld. Man betrachte das Leben ihrer höchsten Exemplare, Kant und Schopenhauer – ist das das Leben von Weisen? Es bleibt Wissenschaft: sie stehen zu ihrem Werke als Artisten; daher bei Schopenhauer die Begierde nach Erfolg.
Also: Schopenhauer ist schon eine Ausnahme; Schopenhauer ist doch keine Ausnahme! Im Sommer 1874 aber läßt Nietzsche drucken (I, 398):
Mein Vertrauen zu Schopenhauer war sofort da und ist jetzt noch dasselbe wie vor neun Jahren.
Das war, mit Verlaub, nicht wahr! – Im Januar 1874 schreibt Nietzsche für sich Gedanken über Wagner nieder, die bereits verzehrende, ja giftige Zweifel an dem Künstler und Menschen Wagner, an dem Werk Wagners zum Ausdruck bringen: im Sommer 1876 ringt er sich einen Hymnus auf Richard Wagner in Bayreuth ab, der uns jetzt freilich durch seine Überschwänglichkeit verrät, daß diese Begeisterung nicht ganz echt ist! Der damalige Leser, und besonders der Wagnerianer, konnte darin nur das rückhaltlose Bekenntnis zu Wagner sehen. Sogar Wagner selbst, der auch schon unter Zweifeln an Nietzsches Hingebung an ihn und seine Sache litt, ließ sich, wenigstens für den Augenblick, täuschen. Er schrieb in seinem letzten Brief an Nietzsche: »Ihr Buch ist ungeheuer! Wo haben sie nur die Erfahrung von mir her?« (L. II, 242).
Das war eine schlimme Lage. Kein Wunder, daß Nietzsche in eine höchst ungute Stimmung geriet. In eine ganz unleidliche Stimmung.
Wie konnte er sich aus dieser bösen Klemme heraushelfen?
Die Antwort kann nicht zweifelhaft sein. Er mußte erst abwarten, bis sich seine Aufregung gelegt, seine Verstimmung geklärt hatte. Dann mußte er »in sich gehen«, mußte feststellen, wie er sich in diese böse Lage gebracht hatte. Dann mußte er für sich mit Schopenhauer und Wagner abrechnen: ruhig, kühl, entschlossen, gerecht. Dann mußte er das Ergebnis seiner Abrechnung öffentlich aussprechen; mußte ausdrücklich zurücknehmen oder auch ausdrücklich bestätigend wiederholen, was er über Schopenhauer und Wagner gesagt hatte. Dann mußte er, unbekümmert um Schopenhauer und Wagner, Schopenhauerianer und Wagnerianer, seinen eigenen Weg weitergehen.
Aber dazu fehlte Nietzsche die nötige Geduld. Und zu einer offenen, öffentlichen Abrechnung mit seiner Vergangenheit vielleicht auch der nötige Mut. Endlich zu der notwendigen stetigen Arbeit die nötige körperliche und geistige Kraft. Denn er war seit Jahren ein kranker Mann. Und er war zwar ein höchst geistreicher Kopf, aber kein Denker: sofern zum Denker auch gehört, daß er die ihm zuströmenden Gedanken beherrscht.
So ging er in der Verstimmung sofort hin und brütete und räsonnierte über sich und Schopenhauer und Wagner, glaubte sich unbefangen, wenn er verdächtigte was er früher verherrlicht hatte, hielt für eine neue, unzweifelhafte Erkenntnis, wenn er einen Irrtum, dem er früher gehuldigt hatte, auf den Kopf stellte. Und so voreilig er sich früher in seiner nicht immer ganz echten Begeisterung expektoriert hatte, so voreilig expektorierte er sich jetzt in seiner scheinbaren Ernüchterung. Aus der Not eine Tugend machend, verschmähte er es jetzt sogar, seine Einfälle zu sichten, gegen einander abzuwägen, mit einander zu einem wirklichen Gedankengang zu verbinden.
So entstand sein nächstes Buch » Menschliches, Allzumenschliches«; veröffentlicht nur zwei Jahre nach der Katastrophe in Bayreuth.
Nietzsche bringt sich offenbar die eigentümliche Schwierigkeit seiner Lage zum Bewußtsein, wenn er fragt (II, 403 f.):
Weil man Treue geschworen … weil man sein Herz hingegeben hat … einem Künstler, einem Denker, im Zustande eines verblendeten Wahns, welcher Entzückung über uns legte und jene Wesen als jeder Verehrung, jedes Opfers würdig erscheinen ließ – ist man nun unentrinnbar fest gebunden? Ja, haben wir uns denn damals nicht selbst betrogen? War es nicht ein hypothetisches Versprechen, unter der freilich nicht laut gewordenen Voraussetzung, daß jene Wesen, denen wir uns weihten, wirklich die Wesen sind, als welche sie in unserer Vorstellung erschienen? Sind wir verpflichtet, unsern Irrtümern treu zu sein, selbst mit der Einsicht, daß wir durch diese Treue an unserem hohem Selbst Schaden stiften?
Aber er verrät durch diese Fragen auch, daß ihm noch gar nicht klar geworden ist, um was es sich eigentlich handelt. Wer mutet ihm denn zu, einem »Irrtum« treu zu sein? Schopenhauer gewiß nicht; und auch Wagner nicht. Sie denken doch gar nicht daran, daß er sich ihnen im Wahn hingegeben habe! Sie würden sich doch seine fernere Hingebung verbitten, wenn er ihnen sagte, daß er sich in ihnen getäuscht zu haben glaube! Und was soll das überhaupt heißen: einem Irrtum treu sein? Eine Meinung noch für richtig halten, nachdem man sie als irrig erkannt hat? Kann man denn das? Die Frage ist doch vielmehr: ob man dem Menschen, dem man in einer gewissen Auffassung von ihm Treue geschworen hat, die Treue halten soll, wenn man entdeckt, daß man sich in ihm geirrt hatte. Die Frage ist: wie man einem Menschen die geschworene Treue halten kann, wenn man andrer Meinung über ihn wird. Das ist ein ernstes, schwieriges Problem des praktischen Lebens. Seine Lösung wird auch durch die Sorge bestimmt, daß man selbst an seinem höheren Selbst nicht Schaden leide. Nietzsche hat sich die Frage falsch gestellt und kann deshalb auch nicht die richtige Lösung des Problems finden, das in Frage steht.
Doch hören wir ihn weiter. Auf die Frage, ob wir verpflichtet seien, unseren Irrtümern treu zu bleiben, gibt er sich die Antwort:
Nein, es gibt kein Gesetz, keine Verpflichtung der Art; wir müssen Verräter werden, Untreue üben, unsere Ideale immer wieder preisgeben. Aus einer Periode des Lebens in die andere schreiten wir nicht, ohne diese Schmerzen des Verrats zu machen und auch daran wieder zu leiden.
Wir sind versucht, mit Mephisto zu fragen:
Wie magst du deine Rednerei
Nur gleich so heftig übertreiben?
Einen Irrtum als solchen erkennen und bekennen ist nicht »Verrat«. Wenn das Irrtum war, daß ein Mensch meinem Ideal entspreche, so gebe ich mit diesem Irrtum doch nicht mein Ideal preis! Im Gegenteil: ich halte mein Ideal fest, indem ich dem betreffenden Menschen die Idealität aberkenne. Daß wir aber nur durch Irrtum hindurch, indem wir also den Irrtum immer wieder als solchen erkennen, zur Wahrheit kommen: das ist eine Tatsache, über der ein Philosoph nicht sentimental werden sollte. Fragen wie diese:
Wäre es nötig, daß wir uns, um diesen Schmerzen zu entgehen, vor den Aufwallungen unserer Empfindung hüten müßten? Würde dann die Welt nicht zu öde, zu gespenstisch für uns werden?
– solche Fragen wirft ein Philosoph nicht einmal auf, um sie abzulehnen. Sie kommen ihm garnicht in den Sinn. Der Philosoph wird auch nicht mit Nietzsche fortfahren:
Vielmehr wollen wir uns fragen, ob diese Schmerzen beim Wechsel einer Überzeugung notwendig sind, oder ob sie nicht von einer irrtümlichen Meinung und Schätzung abhängen.
Denn er bekümmert sich, als Philosoph, um diese notwendigen oder vermeintlichen Schmerzen nicht. Leidet er je darunter, so interessiert ihn auch nicht, was für Nietzsche offenbar von Wichtigkeit ist:
Warum bewundert man den, welcher seiner Überzeugung treu bleibt, und verachtet den, welcher sie wechselt?
Er »fürchtet« auch nicht mit Nietzsche, die Antwort müsse sein:
Weil Jedermann voraussetzt, daß nur Motive gemeinen Vorteils oder persönlicher Angst einen solchen Wechsel veranlassen.
Er findet diese Antwort sogar falsch, weil er das nicht voraussetzt. Deshalb sieht er darin auch nicht mit Nietzsche »ein schlimmes Zeugnis für die intellektuelle Bedeutung aller Überzeugungen«. Glaubt »man« im Grunde, »daß niemand seine Meinungen verändert, so lange sie ihm vorteilhaft sind, oder wenigstens so lange sie ihm keinen Schaden bringen«: so schließt er daraus nur, daß »man« von Überzeugung nichts versteht, weil »man« keine Überzeugung hat. Und damit ist »man« für ihn abgetan. Übrigens dachte Nietzsche im Ernst natürlich nicht anders: warum wirft er dann aber überhaupt die sinnlose Frage auf: sind wir verpflichtet, unsern Irrtümern treu zu sein?
Was geschieht denn nun, wenn ein Mensch seine Überzeugung wechselt? Er erkennt eine Meinung, die ihm früher überzeugend schien, als irrig und findet dafür eine andre Meinung überzeugend, die ihm zuvor nicht bekannt war oder irrig schien. Dieser Vorgang vollzieht sich im hellen Lichte des Bewußtseins; und so wäre es wohl, wenn man zur Klarheit kommen will, nützlicher, ihn zu untersuchen, statt wie Nietzsche die allgemeine Frage aufzuwerfen, »wie Überzeugungen entstehen«. Tatsächlich kommt ja auch für den notwendig gewordenen Wechsel der Überzeugung gar nicht in Betracht, wie die Überzeugung, die sich nicht bewährt und deshalb aufgegeben werden muß, entstanden war. Nun wird, wer seine Überzeugung wechseln mußte weil er seine bisherige Überzeugung als irrig erkannte, mit der Möglichkeit rechnen, daß er sich mit seiner neuen Überzeugung wieder irre. Wenn also »Überzeugung«, wie Nietzsche erklärt, »der Glaube« wäre, »in irgend einem Punkte der Erkenntnis im Besitz der unbedingten Wahrheit zu sein«, so könnte der vorsichtige Denker eine »Überzeugung« überhaupt nicht haben. Aber Nietzsche nimmt doch an, daß es einen »Wechsel der Überzeugung« gebe: also sollte, wer eine »Überzeugung« aufgeben mußte und deshalb mit der Möglichkeit rechnen muß sich wieder zu irren, doch eine »Überzeugung« haben können! Will denn etwa Nietzsche selbst dadurch, daß er seine Schopenhauersche Überzeugung aufgab, ein Mensch ohne »Überzeugung« geworden sein? Oder hat er jetzt etwa, und gerade jetzt, den Glauben, im Besitz der unbedingten Wahrheit zu sein? Wir wollen nicht hoffen: sonst wäre er nach seiner eigenen Erklärung nicht »der Mensch des wissenschaftlichen Denkens«, sondern stände noch »im Alter der theoretischen Unschuld« (II, 405). Die Frage ist also gerade, wie man ohne den Glauben im Besitz der unbedingten Wahrheit zu sein eine Überzeugung haben kann.
Dies ist das Problem der Überzeugung. Nietzsche hat es nicht erkannt, geschweige denn gelöst. Die Ursache ist leicht zu erraten: er hat seinen Wechsel der Überzeugung nicht mit klarem Bewußtsein vollzogen.