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Mit der Zerfahrenheit und Zerklüftung des politischen Frankreich geht die Zersplitterung der Presse in Parteiorgane Hand in Hand.
Das Centralisationssystem Frankreichs bringt es mit sich, daß nicht eigentlich die französische, sondern speciell die Pariser Presse in allen Fragen der inneren und äußeren Politik den Ton angibt. Die Provinzpresse ist von untergeordneter Bedeutung; sie zählt kein Journal, das sich mit der »Frankfurter Zeitung«, der »Breslauer Zeitung«, der »Allgemeinen«, den »Hamburger Nachrichten« und vielen anderen Organen des deutschen Reiches an politischem Einfluß messen könnte.
Die Pariser Presse ihrerseits ist nur zum geringen Theil Ausdruck der öffentlichen Meinung. Das Zeitungswesen liegt in den Händen einzelner Parteihäupter und dient stets in höherem oder geringerem Grade den Parteiinteressen.
Die Monarchie verstand es, einzelne Zeitungen zu schaffen, die sich im Publicum Bahn brachen, viel gelesen wurden und die Meinung der Regierung unterstützten. So war seinerzeit der »Moniteur« eine Macht, so gelangte der »Figaro« zu gewaltigem Ansehen.
Die dritte Republik verfügt über eine große Menge von Journalen, jedoch über kein einziges werthvolles Regierungsorgan.
Der jeweilige Cabinetschef bringt ein Blatt ans Ruder, das seine Ideen entwickelt und vom Schauplatze verschwindet, sobald ein neuer Mann mit neuen Ideen in den Vordergrund tritt.
Es herrscht die Gepflogenheit, die Leitartikel zu unterzeichnen.
Jeder Franzose treibt Politik auf eigene Faust, er liest das Ereigniß, kritisirt es in seiner Weise und sucht, wie nach Salz und Pfeffer, in diesem und jenem Blatte nach der Ansicht seines Leibjournalisten.
Die Preß- und Stempelfreiheit, der Straßenverkauf erzeugen vereint mit dem großen Lesebedürfniß des Parisers einen Ueberfluß an Tages- und Wochenjournalen. Im Augenblick entsteht eine neue Zeitung, im Augenblick verschwindet sie wieder.
Eine große Anzahl von Blättern ist dem Ausländer völlig unbekannt. Die Wogen der Pariser Hochflut tragen sie empor und verschlingen sie mit rasender Schnelligkeit. Die Pariser Presse ist nicht, wie die deutsche, eine fast anonyme Großmacht, in der sich die Individuen dem großen Ganzen unterordnen, sondern eine Verbindung von Männern, die, ohne ihr Ich aufzugeben, ihren Zwecken zustreben. Der Politiker, der Deputirte, der Senator, der Minister ist in Frankreich gleichzeitig Journalist. Er gründet ein Blatt, um darin sein politisches Glaubensbekenntniß zu verkünden, Macht und Anhänger zu gewinnen und einen Druck auf seine Partei auszuüben. Diese Journale haben einen beschränkten Leserkreis und sind nichts weniger als glückliche financielle Speculationen.
Der französische Politiker braucht ein bedeutendes Vermögen. Er ist ohne eigenes Journal nicht denkbar.
Die großen politischen Gruppen verfügen über mehrere Blätter, die von den Führern gemeinsam erhalten werden. Die Zahl der Journale, welche ohne Unterstützung kein Deficit ausweisen, ist verschwindend klein.
Die wenigsten Pariser sind Abonnenten der Zeitung, welche sie täglich lesen. – Sie kaufen das Blatt auf der Straße, an dem ersten Kiosk, an dem sie vorbeikommen, von dem Ausrufer, der ihnen begegnet. An den Plätzen der Omnibus- und Tramwaystationen befinden sich stets Zeitungskioske, die gute Geschäfte machen.
Der Pariser, welcher gezwungen ist, viele Strecken im Omnibus zurückzulegen, kauft tagsüber mehrere Journale. Er liest überall, um keine Zeit zu versäumen, sogar während der Zwischenacte im Theater.
Ein Autor, welcher unlängst ein Buch über Deutschland veröffentlichte, tadelte lebhaft, daß die Berliner in den Zwischenacten nichts mit der Zeit anzufangen wüßten.
Die Pariser Zeitungen fußen auf einem eigenartigen System. – Jedes Blatt zählt eine oder zwei berühmte Federn, durch deren Geistesfunken es die Köpfe seiner Leser erwärmt.
Es handelt sich fast immer nur um Nachrichten aus Paris. Bis ins kleinste Detail wird die Parisina durchgekostet.
Von der Provinz wird nur das Wichtigste erzählt, aus dem Auslande nur das Ungewöhnliche, Außerordentliche gemeldet.
Der telegraphische Theil ist von verschwindender Kleinheit. Originalcorrespondenzen aus der Ferne kommen fast nicht in Betracht. Dem Deutschen erscheint diese Presse schal und leer.
Der Apparat der Zeitung kostet verhältnißmäßig wenig.
Allerdings werden hervorragende Federn glänzend bezahlt, aber die Ausgaben für Depeschen und so weiter reduciren sich auf ein Minimum. Die Anzahl der Mitarbeiter ist, da keine Vielseitigkeit gefordert wird, nicht bedeutend.
Kaum sind die Morgenblätter durchflogen, so ist auch schon die Abendausgabe der »France« vergriffen. Dieses Blatt erscheint um vier Uhr Nachmittags. In den folgenden Stunden werden »Paris«, »Le Parlement«, »Le Telegraphe«, »La Liberté«, »Le Temps« und andere ausgegeben, bis um halb zehn Abends der »Soir« die Reihe beschließt.
Fast sämmtliche Abendblätter tragen das Datum des folgenden Tages.
Die genannten Abendblätter sind selbstständige Zeitungen ohne Morgenblatt. Alles ist darauf berechnet, die Neugierde des Publicums zu erwecken, einen Reiz auf dessen Nerven auszuüben. So werden einzelne Journale in Localen gedruckt, deren Riesenspiegelfenster den Vorübergehenden in die Augen springen müssen. Man bleibt stehen, sieht die arbeitende Maschine, interessirt sich für die weißen Bogen, die so rasch bedruckt find, und wartet wohl auch ein Stündchen auf die heiße Waare.
Es gibt auch Morgenblätter, die vom nächsten Tage datirt sind – eine unangenehme, den fremden Leser störende Einrichtung.
Das Annoncenwesen ist weniger entwickelt als in Deutschland und England. Dagegen treibt die Reclame üppige Schößlinge. Man ist in keinem Theil des Blattes vor Reclame behütet. Ist der politische Standpunkt consequent festgehalten, so handelt es sich nur noch darum, Geschäfte zu machen. Ethische Principien spielen eine kleine Rolle.
Wir heben aus der überreichen Pariser Presse nur einige besonders charakteristische Organe heraus. Eines der gelesensten ist der »Figaro« mit einer Auflage von etwa achtzig- bis neunzigtausend. Der »Figaro« vertritt Has legitimistische Princip; seine politische Haltung war sehr schwankend, verfügt aber über die ersten feuilletonistischen Kräfte, die, Albert Wolf an der Spitze, für interessante actuelle Artikel sorgen und die pikantesten Primeurs auftischen. Von einem der Pseudonymen, Ignotus, erzählt man einen witzigen Ausspruch.
Ignotus heißt in Wirklichkeit »Platel«. Er ist Mitglied des Conseil général de la Loire inférieure, in diesem Departement begütert. Ein versöhnlicher Charakter, wenig republikanisch gesinnt, erwiederte er, als ihn Jemand um seine politische Ansicht befragte: »Meine Meinungen sind weder roth, noch blau, noch weiß, sie sind grau.«
Pierre qui roule, Pseudonym für Poupard d'Avrilly, Verfasser des vielgegebenen Schauspiels » La maitresse légitime«, gehörte zur republikanischen Partei, für die er mit Heftigkeit eintrat. Vor geraumer Zeit hatte er das Unglück, ohne seine Schuld sein Vermögen zu verlieren und in unangenehme geschäftliche Lage zu gerathen. Er wandte sich an seine Parteigenossen, fand jedoch nur mitleidiges Achselzucken, keine thatkräftige Hilfe. Verbittert zog er sich zurück, lebte einige Jahre nur der Arbeit, bis er mit literarischen Producten erschien, die seinen Ruf begründeten. Von seiner Partei geschieden, trat er in die Redaction des »Figaro«.
St. Genest, eigentlich Monsieur de Bucheron, war durch seine heiteren, liebenswürdigen Plaudereien lange Zeit der Liebling der Pariser. Vor einigen Monaten starb die Mutter Monsieurs de Bucheron, eine in jeder Beziehung ausgezeichnete Frau. Seither hat St. Genest fast nichts geschrieben. Ein Theil seiner Freunde nimmt als Ursache die Kränklichkeit St. Genest's an, ein anderer Theil behauptet, der Schriftsteller sei daran gewöhnt gewesen, seine Arbeiten der Mutter vorzulesen, welche dieselben redigirte, und könne sich nun nicht entschließen, ohne ihren Rath in die Oeffentlichkeit zu treten.
»Etincelle«, nom de guerre für Madame la Vicomtesse de Perroney – schreibt das Tagebuch eines Weltmannes – elegante Plaudereien aus der Gesellschaft. Die Dame besitzt in hohem Grade das Talent anmuthiger Causerie, ist in den Memoiren und Hofgeschichten aller Länder ein wenig, in denen Frankreichs sehr gut bewandert, eine Feindin der Republik und Anhängerin aller wie immer genannten Kronenträger.
Der »Figaro« ist in der ganzen und in der »halben« Welt verbreitet. Der Ton ist in hohem Grade frivol, aber in dieser Hinsicht noch lange nicht mit dem anderer Pariser Blätter zu vergleichen.
Viele hervorragende Romane sind zuerst im »Figaro« erschienen.
Der financielle Theil des Blattes ist von der Banque Parisienne gepachtet, welche dafür jährlich hunderttausend Franken bezahlt. Die Zeitung gehört einer Actiengesellschaft. Die Actien sind in festen Händen und geben ein annehmbares Erträgniß, denn der »Figaro« ist Reclameblatt par excellence.
Wer in Paris seinen Weg gehen will und mit der Oeffentlichkeit zusammenhängt, kann des »Figaro« nicht entrathen. Da die Zeile Reclame mindestens vierzehn Franken kostet, liegt die Einträglichkeit dieser Rubrik auf der Hand.
Zwei Wochenbeilagen enthalten Bibliographisches und literarische Causerien.
Wir haben den »Figaro« aufmerksamer behandelt, weil das Blatt in der dritten Republik noch gleichsam den Duft der gestürzten Monarchie bewahrt, weil sich nach seinem Muster die meisten Organe der socialen Presse gebildet haben.
Der »Gaulois«, bonapartistisch, wurde eine Zeitlang von Jules Simon redigirt, er ist jetzt in der Hand Arthur Meyer's, eines ungemein ehrgeizigen Mannes von mehr geschäftsmännischem als journalistischem Talent.
Das Blatt ähnelt in seiner Anlage dem »Figaro«, ist aber weit weniger bedeutend als dieser und arbeitet sich mühsam durch financielle Schwierigkeiten hindurch. » Pot Bouilles« von Zola erschien zuerst in diesem Journale.
»Gil-Blas«, ein geistvoll gemachtes republikanisches Blatt, dessen lüderlicher, frivoler Ton die Halbwelt cultivirt, in bekannten Geschichten aller Art sich hervorthut und von der guten Gesellschaft verstohlen gelesen, öffentlich verdammt wird. Zola's Schöpfung » Le bonheur des dames« wurde von diesem Blatte veröffentlicht. Die Hauptkraft »des Gil-Blas« ist Hector de Banneville, der Pariser Geschichten selbst für den Gaumen dieser absonderlichen Stadt pikant zu bereiten versteht.
Politisch unbedeutend, jedoch durch drei ausgezeichnete Feuilletonisten interessant, kann das republikanische Journal »L'Evènement« immerhin auf einen gewissen beschränkten Leserkreis rechnen. Die drei glänzendsten Federn sind: Aurélien Scholl, Maquet und Monselet.
Als orleanistisch kirchlich gesinnt ist »Clairon« zu nennen, der, in socialen Dingen gut unterrichtet, der Haltung der übrigen Presse häufig stricte widerspricht. Seine Behandlung von Tagesfragen ist lesenswerth.
Die Gambetta-Presse hat durch den Tod ihres Führers einen heftigen Stoß erlitten. Die »République Française«, das Leibjournal des Mannes von Cahors, war nur bedeutend, so lange man darin nach den Anschauungen desselben suchte. Spuller und Ranc haben vielleicht den Willen, aber gewiß nicht die Kraft, das geistige Erbe Gambetta's fortzuführen.
»Voltaire«, anticlerical, opportunistisch, hat gute Reporter, kräftige Mache und nebst Ranc einige gute Federn.
»Paris« verfolgt die gleiche Richtung und wird von dem noch sehr jungen Journalisten Laurent, einem Sohn der Schauspielerin Marie de Laurent, geleitet.
»Le Mot d'Ordre« ist das Organ des talentvollen Republikaners Henri Maret, der sich im »Charivari« seine Sporen verdiente. Maret ist ein ganz originelles Talent und selbst stolz auf seine Eigenart. Als 1870 wie alljährlich » le banquet de la jeunesse« stattfand, war auch Maret gegenwärtig. Er bemerkte die Söhne Jules Simon's und Pelletan's und fragte sie, was sie daher führe, worauf diese, da Maret durchaus nicht mehr jung ist, antworteten: der Platz gebühre weit eher ihnen als ihm. »Ihr glaubt auch jung zu sein«, sagte dieser, «aber ihr seid im Irrthum, ich bin meine eigene Jugend, ihr seid nur die Fortsetzung eurer Väter.«
Der gleichen politischen Richtung mit Maret gehört der »Rappel« mit La Croix und Gautier an.
Sancy findet sein Organ im »XIX. Siècle«, der sich durch seine anticlericale Haltung bemerkbar macht.
In »La France« entwickelt Camille Sarcy Anschauungen, die mit denen Rochefort's Vieles gemein haben.
Als ernstes, von bedächtigen Leuten gerne gelesenes Blatt gilt der »Siècle«, in welchem Hugo Pessard gemäßigt politisirt.
Eines der bedeutendsten und ältesten französischen Journale, das »Journal des Débats«, ist gleichfalls von gemäßigter Färbung.
Folgende Thatsache wirft ein interessantes Licht auf die inneren Zustände dieser Zeitung.
Der Gründer derselben, Mr. de Bertin, hinterließ zwei Töchter, denen der Löwenantheil des Blattes als Erbe zufiel. Eine der Damen ist mit Léon Say, die andere mit dem Juwelier und Hoflieferanten der Orleans, Herrn Bapst, vermält. Léon Say wollte niemals Director des Journals werden, der eigentliche Director war stets Herr Bapst und so kam es, daß dieses Blatt zuweilen eine Ansicht verfocht, die der Léon Say's entgegengesetzt war. Man trachtete einzulenken, sowie Say das gewahr wurde und darüber klagte. Mr. Bapst hat seine Beziehungen zur Familie Orleans aufrecht erhalten; er ist häufig in Chantilly der Gast des Herzogs von Aumale. Der streng republikanische Sinn der »Débats« ist wohl nicht sehr ernst zu nehmen, obwohl das Journal eifrig für Gambetta eingetreten ist.
Maßgebend für einen Theil des Publicums ist »Le Temps«, leider so schwerfällig geschrieben, so trocken und ungenießbar, daß man nur hin und wieder daraus sich Rath holt.
»Le Petit Journal« wird für einen Sou verkauft und, wie es heißt, in 500 000 Exemplaren gedruckt. Es ist die Quelle, aus der das Volk die Kenntniß der Tagesereignisse schöpft. Der kleine Anzeiger vermittelt Wohnungen, Kauf- und Verkaufsgeschäfte.
Grevy, Wilson, Clemenceau, Brisson, Floquet, Cassagnac, Spuller, Simon, Pelletan, About und wie die französischen Führer noch heißen, haben jeder ihr Organ, das für die Partei kämpft und geschickt gegen die Schwäche des Gegners operirt.
Die klerikale Partei hat in Paris nicht so viele Anhänger als in der Provinz und ist auch dort kräftiger vertreten. Im Allgemeinen kann man alle monarchistischen Journale bis zu gewissem Grade clerical nennen.
»Le National« wird von der Armee gelesen, die selbstverständlich sehr gute militärische Mitarbeiter aufweist.
Eine eigenthümliche Stellung in der französischen Presse nimmt Rochefort ein. Seine Unverfrorenheit, sein kaustischer, schlagfertiger Witz, sein rother Republikanismus vereinigen sich zu einem absonderlichen Bilde. Er schont weder Himmel noch Hölle, weder Freund noch Feind, er geht seine eigene Bahn und ist ein durch und durch originelles Talent, dabei eine unabhängige Natur, so weit sich dies auf Politisches bezieht. »Was sagt Rochefort dazu?« ist nach jeder wichtigen Sitzung, nach jedem bedeutenden Ereigniß die allgemeine Frage.
Die Blätter Rochefort's erhalten sich denn auch durch ihren massenhaften Verkauf. Sie sind auf dem ordinärsten Papier gedruckt, ihr nichtpolitischer Theil ist gleich Null, der politische ist durch einen Feuerartikel Rochefort's gebildet. An Tagen, an welchen der Schriftsteller diese Flammen anzündet, werden Hunderttausende von Exemplaren des kleinen Blättchens abgesetzt und die Casse für eine zahme oder todte Woche gefüllt.
In der französischen Presse ist es erlaubt, durch sonderbare Mittel Abonnenten heranzuziehen.
Das eine Blatt übersendet vor dem Weihnachts- und Neujahrsfeste ein Inhaltsverzeichniß von Spielwaaren und Hanshaltungsgegenständen, die es fünfzig Procent billiger als jedes Magazin seinem Leser liefert. Ein anderes Blatt läßt zu einem sehr billigen Preise für seine Abonnenten Kaminuhren oder Theeservice anfertigen. Ein drittes liefert künstliche Blumen oder exotische Vögel. Der »Figaro« kaufte unlängst die Marmortrümmer der Tuilerien, er ließ Briefbeschwerer daraus arbeiten, sie vom Präsidenten der Demolirungscommission mit der Unterschrift versehen und jedem Abonnenten für fünf Franken zukommen.
Ein häßlicher Auswuchs der Pariser Presse und der Preßfreiheit sind die Boulevard-Enten, welche in Form kleiner Flugblättchen jedes halbwegs bedeutende Ereigniß begleiten. Ohne Unterlaß schreit der Ausrufer die absonderlichsten Dinge mit gellender Stimme über die Straße. Da werden Kranke todtgesagt, Freie für verhaftet, Verhaftete für verurtheilt und Verurtheilte für geköpft erklärt. Aus einem Hunderttausendfranken-Bankerotte wird ein Millionendiebstahl; Selbstmorde von Leuten, die nie ans Sterben dachten, werden verkündet. Jede Lüge, jede Gemeinheit, jede Niederträchtigkeit, die sich im Zusammenhange mit einer Tagesfrage erfinden läßt, wird gedruckt unter dem haarsträubendsten, auffallendsten Titel in großen Lettern, mit schwarzem oder rothem Rand versehen, als Wahrheit ausgegeben. Die Ehre, die Wohlfahrt der Menschen sind Null für die schmutzige Bande, welche darauf speculirt, aus den Börsen der Leichtgläubigen die Münzen für ein elendes Machwerk zu ziehen. Der Pariser geht selten auf den Leim, dagegen bleibt der fremde Spaziergänger neugierig stehen, im Augenblick sind solche Blättchen in seiner Hand. Bevor eine echte Ministerliste zu Stande kommt, werden hundert falsche verkauft. Aber nicht allein Blätter politischen Inhalts, sondern auch obscöne Schmutzfinken solcher Art werden losgelassen. Der größte Demokrat muß als ehrlicher und anständiger Mensch wünschen, daß die Regierung diesem Gelichter das Handwerk untersage.
Ein zweiter, ebenfalls geschmackloser Auswuchs sind jene Blätter, die nur hie und da erscheinen, »so oft der Verfasser etwas zu sagen hat«. Da gibt es eine Zeitung »Paris, wenn es lügt«; eine andere »Journal für Trunkenbolde «; eine grüne, eine rothe, eine blaue Zeitung; ein Journal für Jene, die nach dem Tode verbrannt zu werden wünschen; eine Zeitung für Austernesser, eine solche für Pastetenfreunde. Da gibt es ein Organ »Die Wahrheit«, ein anderes »Die Lüge«, ein drittes für den »Haß« u.s.w. Bliebe es nur bei unschuldigen Spielereien, so möchte man darüber schweigen. Zumeist bilden aber frivole, obscöne Geschichten den Inhalt dieser Literatur. Häufig sind Erpressungsversuche der Hintergrund. Kein Verbot der Polizei schafft in diesen Dingen Ordnung, und so kann auch das erhabene Antlitz der Göttin Freiheit zuweilen wie eine Fratze erscheinen.
Die wissenschaftlichen Vereine haben alle ihre Organe. Diese Fachschriften sind von großer Bedeutung.
Die französische Illustration steht auf einer hohen Stufe. »Le Journal amusant« mit seinem leichtgeschürzten Inhalt, »La Vie parisienne« mit ihren Pikanterieen und üppigen Bildern geben eine unterhaltende, jedoch höchst frivole Lecture ab. Allerdings hat »Gavarni« mit unerschöpflichem Humor Volkstypen geschaffen, aber sein Beispiel ist ziemlich vereinzelt geblieben. Der derbe Volkswitz und seine kräftige Muse werden von der »Cocotte« aus dem Felde geschlagen.
Der Franzose hat überhaupt weniger Anlage zum derben, ursprünglichen Humor als zur Satire. Er ist auch da, wo er lacht, kritisch und zersetzend. Gerade in dem letzten Decennium hat sich diese Richtung mehr und mehr entwickelt.
Ganz vorzüglich sind jene illustrirten Blätter, die gleichsam die Chronik der Zeit bilden. »L'Illustration«, »Le Monde illustré« etc. werden erstaunlich rasch erzeugt. Nach wenigen Tagen steht das letzte actuelle Ereigniß bereits als Bild vor dem Leser.
Bevor wir von den Organen der Pariser Presse scheiden, sei auch der Journale in fremden Sprachen gedacht.
Die »Deutsche Pariser Zeitung« erringt verschwindend wenig Leser, trotzdem ihre Herausgeber, die Doctoren Aßmus und Löwenstein, den besten Willen einsetzen. Der Deutsche in Paris hält eben ein Journal aus seiner deutschen Heimat, wenn er noch so viel Interesse an Deutschland hat, oder er liest die französische Zeitung.
Die englischen Blätter, von denen eines pietistisch, machen gute Geschäfte.
Eine spanische Zeitung, ein türkisches, ein arabisches Journal dringen in kleine Kreise.
Ein Blick auf die Modezeitungen von Paris zeigt eine sonderbare Einrichtung. Man sagt, daß in Paris vierundsechzig Modezeitungen erscheinen, in Wahrheit steht die Sache anders. Ein und dieselbe Verlagshandlung, ein und dieselbe Gesellschaft gibt unter zehn bis zwanzig verschiedenen Titeln dasselbe Journal heraus. Gleicher Text, gleiche Bilder, nur Papier, Anordnung und Ausführung sind verschieden. Das Ganze ist eine sinnlose Lockpfeife für das Publicum. Aus der geringen Concurrenz entspringt die Einförmigkeit der Mode für das Ausland und die Unmöglichkeit, mit Paris Schritt zu halten, wo nicht die in einer Hand vereinigten Modeblätter, sondern die ihren eigenen Geschmack verfolgenden Ateliers sammt ihren Specialzeichnern maßgebend sind.
Wir wollen schließlich noch eines Umstandes gedenken, der die französische Presse auszeichnet. Die Journalistik gilt dem Staatsmann, dem Schriftsteller, dem Dichter und dem Künstler als der Boden, in welchem sie Wurzeln fassen müssen und der die edelsten Geistesblüten treibt. Die öffentliche Meinung ist gleichsam eine geheiligte Macht und ein Organ dieser Meinung zu sein, ein ehrenvolles Amt. Das gleiche Streben wird zum Bundschuh unbesiegbarer Schaaren geistiger Streiter.
Die individuellen Ziele, von denen wir gesprochen haben, werden als im Interesse der Parteisache liegend aufgefaßt. Niemand erhebt sich dagegen. Das Wort: »Ich bin Journalist« spricht auch der Bedeutendste mit Stolz und Befriedigung aus.
Thatsächlich hat die Laufbahn der größten Franzosen in den Redactionsbureaux begonnen und häufig auch geendet.
Gambetta, in dem seine Gegner Cäsarengelüste witterten, blieb bis zu seinem Tode »Directeur de la République française«.
Der hervorragendste Schriftsteller nennt sich stolz »Journalist«. Zwischen diesen beiden Ständen gibt es keine Rangordnung. Der Franzose ist ein Mensch der That und des Augenblicks. Er hängt am frischen, vollen Leben und schwimmt gerne im Strome der Gegenwart. Vom Tage für den Tag zu schreiben, entlockt kein spöttisches Lächeln und kein Achselzucken. Man sieht in der Wirkung auf die Zeitgenossen eine Kraft, die Niemand gering schätzt.
Die »Bohème« ist weit mehr in jener Welt, welche wir die literarische bezeichnen, zu Hause, als in der Journalistik, die ihren Mann nährt und ehrt.
Sicherlich ist im Bilde der Presse nicht Alles hell.
Es fehlt an unabhängigen, auch von der liberalen Partei unabhängigen Männern, die kühn und starkgeistig die Führung des Volkes übernehmen und diesem die Wege des Heils zeigen würden, ohne an einen Ministerfauteuil oder an das Band der Ehrenlegion zu denken.
Dennoch aber drängt sich dem Beobachter die Empfindung auf, daß in der Achtung, welche die Journalistik genießt, eine Gewähr der nationalen Freiheit liegt.