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Aus: Festschrift zum »Düsseldorfer Presse-Ball 1913«;
Professor Mauzfies und andere Tragödien, München 1941
Ich mochte früher Herrn Redakteur Durchschuß furchtbar gern. Er schenkte mir bisweilen Freibilletts für Konzerte von blinden Pianisten. Diese Konzerte fanden nie statt, da die Pianisten wegen ihrer Blindheit den Weg zum Konzertsaal nicht fanden. Da konnte Herr Durchschuß nichts dafür. Er meinte es gut. Ich schenke heute solche Freibilletts meiner Waschfrau, die sie ihrerseits bei wohltätigen, frommen, leichtgläubigen Familien mit einem Aufschlag unterbringt.
Durch Herrn Durchschuß, der dank seinem Beruf als Kritiker im Theater die besten Beziehungen hatte, lernte ich die Souffleuse, Fina Baltes, deren Mann Komiker in Elberfeld war und nur gelegentlich herüberkam, kennen. Sie war nicht schön, aber eben vom Theater. Nachher stellte er mir noch eine Choristin mit Brezeln über den Ohren vor, die erwiesen, daß die Trägerin zur Kunst gehörte. Eine Karte für den Abend der Nackttänzerin oder, strenger gesagt, Reformtänzerin hat er mir nicht gegeben. Das sei nichts für mich, ich sei noch zu naiv; ich weiß, er war in allen Wiederholungen, sein Opernglas soll glühend gewesen sein, und doch hat er geschimpft, wie so viele ernste Männer mit Teleskopen, die keine Vorstellung versäumten und schon früh morgens an der Kasse um Plätze in der ersten Reihe schrieen, wie all die Moralisten, die mit Abscheu »Pfui!« sagten und die Zugabe der Tänzerin abwarteten. Das verstimmte mich ein wenig gegen Herrn Durchschuß, daß er mir keine Karte für diese Veranstaltung gab.
Eines Tages traf ich ihn auf der Elektrischen. Er war sehr freundlich und bot mir eine Zigarette an. »Sie sind doch Dichter, Sie haben unbedingt eine Ähnlichkeit mit Frau Marlitt!« Errötend gestand ich, geschmeichelt: »Ga, ga, das steht auch im Kürschner, natürlich nur im Äußern, im Gesichtsschnitt und in der Figur.«
Da er jetzt an der nächsten Haltestelle aussteigen mußte, bat er mich, mit ihm auszusteigen, er habe mir Wichtiges zu sagen. – Ich habe geradeaus, entschuldigte ich mich, aber er zog mich herunter.
»Sehen Sie, da Sie Dichter sind, da Sie ein außergewöhnlicher Künstler sind, möchte ich Sie bitten, uns für unsere Damenspende, die bei unserem Pressefest erscheinen soll, ein Gedicht aus Ihrer poetischen Feder zu widmen.« Das schmeichelnde Gerede übte einen gewissen Einfluß auf mich aus. Sich gedruckt zu sehen in der Damenspende, war auf jeden Fall ehrend. Ich hatte aber keine Ahnung, was das war: Damenspende?... Spamendende? Demdenspane?
Ohne Überlegung sagte ich zu. »In zehn Tagen muß ich es in Händen haben«, bemerkte Herr Durchschuß und glich um ein Haar Napoleon, als er die Schlacht bei Austerlitz befahl.
Am ersten und zweiten Tage war ich noch wohlgemut. »Wirst schon dichten können«, sagte ich, mir Mut machend. Ich murkste herum, fand aber keinen Anfang. Am dritten Tag traf ich Herrn Durchschuß. Ich vermied es peinlich, ihm in die Augen zu sehen. Er hatte mir unbedingt aufgelauert. »Nun, wie steht's mit dem Gedicht?« fragte er; »sieben Tage sind rasch herum.« Dieses Gedicht lag wie ein Alp auf mir. Tag und Nacht schrieb ich Anfänge von Gedichten: Presseball, o große Lust – – Oder: Damenspende, Damenspende, sei gegrüßt! In dieser Art beschrieb ich Bogen auf Bogen, bis ich bis zum Bauch in Makulatur saß.
Der fünfte Tag. Lieber wäre mir schon eine schwere Blinddarmentzündung oder eine Gürtelrose gewesen als die Lausverpflichtung, dieses Gedicht Herrn Durchschuß zu liefern. Durchschuuuß! schnitt es mir durch das Hirn wie mit glühenden Stricknadeln. Ich befahl der Magd, niemandem die Tür zu öffnen; ich wollte das Gedicht erzwingen. Ich riß die Gedichtbände Goethes und Schillers aus dem Bücherschrank. Ja, das waren Gedichte! Ob die wohl alle bekannt waren?
Plötzlich stürzte die Magd herein, es sei jemand da, der mich unbedingt sprechen müsse.
»Ich will niemand sehen!« schrie ich, »ich dichte!«
»Es ist der Geldbriefträger«, sagte die Magd.
»Herein mit ihm, herein mit ihm!«
Der Geldbriefträger trat ein. Entsetzt prallte ich zurück, dieser vermeintliche Geldbriefträger war ja Herr Durchschuß. Weh mir! Herr Durchschuß! »Wie steht es um das Gedicht?« klang es ehern und bestimmt auf mich ein. Ich warf ihm den Sofapuff ins Gesicht, daß sein Kneifer zersplitterte, und sprang zum Fenster hinaus.
Als ich spät in der Nacht betrunken nach Hause kam und mich ermattet ins Bett prallen ließ, wurde ich auf einmal durch ein Geräusch unter meinem Bett aufgeschreckt. Herr Durchschuß, o Schrecken, kroch wie ein Einbrecher unter dem Bett hervor und leuchtete mir mit der Blendlaterne in die entsetzt aufgerissenen Augen: »Haben Sie Ihr Gedicht gemacht? Zwei Tage Frist noch, Unglücklicher! Ich komme wieder.«
Ich rettete mich in den Kleiderschrank und verriegelte ihn von innen. Herr Durchschuß war weg am andern Morgen. Ich frug die Magd, ob sie dichten könne. Sie schaute mich kopfschüttelnd an und ging in die Küche. Ich verbarrikadierte mit allen meinen Möbeln die Tür. Ich mußte einsam sein; Dichter müssen einsam schaffen, die Muse kommt nicht ins Getümmel. Ich vergrub mich in Schiller und Goethe und fand einige gute Gedichte, die wohl so allgemein bei den Leuten nicht bekannt waren. Ob man es riskieren sollte? Auf einmal bewegte sich der Ofen und fiel polternd um. Herr Durchschuß kroch heraus. In der glühenden Asche waren ihm die Füße abgesengt worden. Er war einen Kopf kleiner geworden: »Dichten Sie, dichten Sie, Elender, gedenken Sie Ihrer Ahnfrau, der großen Marlitt!« Herr Durchschuß verschwand mit einem zersetzenden Blick, um sich bei einem Bandagisten neue Füße anmessen zu lassen. Ich fraß vor Verzweiflung den Docht aus der Lampe.
Am Abend besuchte mich meine greise Muhme Brigitte aus Wersten und brachte mir ein Fliegenglas mit zwei Fliegen drin. Ich hatte kalligraphisch ein Gedicht von Goethe auf einen weißen Bogen geschrieben und stolz meinen Namen daruntergesetzt. Ich fragte die Muhme: »Ist das schön? Das ist ein Gedicht, das ich gemacht habe.« Ich errötete nicht. Die Muhme hatte Gott sei Dank die Brille vergessen. Zu meiner Sicherheit bat ich die Muhme, während der Nacht vor meiner Tür zu wachen und zu bellen, wenn sich irgendein verdächtiges Geräusch hören lassen sollte. Ich klemmte mir zwischen jede Hand und zwischen die Zehen der Füße Brownings. Ich fühlte mich so gefeit. In dieser Nacht geschah nichts; aber die beiden Fliegen waren morgens nicht mehr im Fliegenglas. Mit ihnen war die Muhme verschwunden, bis auf ihr Holzbein, das im Garderobenständer stand.
Der letzte Tag brach an. Heute hatte ich sicher meinen Todfeind Durchschuß zu erwarten, das war das Ende. Da hieß es Vorkehrungen treffen. Ich ließ die Treppe im Hause zusammenreißen, als radikalstes Mittel, mich vor dem Feind zu schützen.
Ich hatte am Eingang des Hauses zwei Tigerfelle aufgebaut, die mir mein Onkel, der Eisverkäufer in Sumatra war, gegen einen alten Gehrock eingetauscht hatte. Sie konnten, geschickt hingelegt, wie echte Bestien wirken, und Herrn Durchschuß, der kurzsichtig war, zurückschrecken. Wie ein Irrer saß ich auf meinem Zimmer und stierte auf das weiße Blatt mit dem schön geschriebenen Gedicht. Ich las es Wort für Wort und meinen Namen am Ende. Ein Hoffnungsstrahl!
Plötzlich schreckte mich das scharfe Geläut der Feuerwehr und das Klatschen von Pferdehufen auf. Herr Durchschuß hatte die Feuerwehr alarmiert! Die Presse hat die Macht. Wenn alle Mittel, die höchsten Mächte, selbst die Polizeistellen versagen, steht die Feuerwehr da, als letzte sichere Hilfe. Das ist ein alter, wahrer Spruch! Ich wandte mich zum Fenster. Im Rahmen des Fensters stand Herr Durchschuß. Mit Hilfe einer Feuerleiter hatte er das Fenster erreicht. »Das Gedicht, das Gedicht!« klang es wie ein Beilhieb vom Fenster her. »Hier ist's!« Ich nahm das weiße Blatt mit dem schön geschriebenen Gedicht und reichte es frohlockend meinem Feinde hin. Er las mit sonorem Organ:
Über allen Gipfeln
Ist Ruh';
In allen Wipfeln
Spürest du
Kaum einen Hauch;
Die Vöglein schweigen im Walde,
Warte nur, balde
Ruhest du auch.
Hermann Harry Schmitz.
Als Herr Durchschuß meinen Namen las, fiel die Goethebüste von meinem Bücherschrank und zerbrach. Ich erbleichte. Herr Durchschuß ließ das Blatt sinken. Mit der Miene eines Redakteurs, der ein Feuilleton von einem notleidenden Schriftsteller zum Honorarabdruck annimmt, sagte er: »Ist zu brauchen.« Schon war er durch das Fenster über die Feuerleiter verschwunden. In der Nacht hatte ich einen schrecklichen Traum. Die zerbrochenen Gipsstücke der Goethebüste kletterten auf mein Bett und legten sich schwer auf meine Brust. Ich war der Erstickung nah.
Ich schleppte mein böses Gewissen wie einen schmerzhaft schweren, eckigen Rucksack auf heißem, wundem Rücken.
Der Tag des Pressefestes kam heran, mein Gedicht erregte Aufsehen. Dann ging bald eine Unruhe durch die Säle. In Gruppen stand man zusammen, zeigte auf mich und warf mir verdächtige, zweifelnde Blicke zu. »Das ist von Schiller, dies Gedicht«, rief ein alter Herr mit einem langen Bart. »Ja, ja, von Schiller«, riefen die Umstehenden. Von Goethe, meinten einige schüchtern, von Uhland meinte ein Schwabe, von Lenau, von Bierbaum. Ein wirres Durcheinander von Dichternamen. Und wieder der Ruf. »Plagiat!«
Der Tumult wuchs. Ich war entlarvt.
Ich bin auf einen hohen Baum geklettert, wo Stare nisten, und habe ihnen mein Leid geklagt. Nie haben Stare so gelacht.