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9

Am Tage vor seiner Abreise saß der Professor mit seiner Tochter beim Frühstück. Der fleißige Mann hatte schon eine Stunde gearbeitet, ehe er zum Kaffee herübergekommen war, und es that ihm jetzt wohl, ein Stündchen bei seinem Kinde zu sitzen, ehe die eigentliche Arbeit des Tages begann. Die Preisverteilung sollte heute stattfinden.

Wie hast du unsern Tisch heute so schön geschmückt! Die schönsten Azaleen aus deinem Zimmer. Und du hast dich auch selbst geputzt. Was ist denn heute?

Der Professor sah Maria an und strich ihr liebkosend über das braune Haar.

Sie wurde verwirrt und errötete.

Es ist heute ein so herrlicher Frühlingstag, und ich bin so froh; es ist mir zu Mut, als ob ein Festtag wäre!

Der Professor lächelte. Ich glaube, er selber kann nicht glücklicher und stolzer sein, wenn er den Preis bekommt, als du sein wirst, sagte er.

Ja, das ist wahr, rief Maria feurig, ich freue mich unendlich darauf!

Der Professor machte sich zum Gehen fertig. Maria hatte ihn auf die Flur begleitet.

Und doch heißt er Schumacher! sagte er spottend. Wie kann ein Mensch, der so einen Handwerkernamen hat, ein großer Künstler sein? hat einmal jemand gesagt!

O, rief Maria, damals hatte ich noch nichts von ihm gesehen!

Sie sah in die Weite, wie wenn zwar die Rede zu Ende wäre, aber nicht der Gedanke.

Der Professor ergänzte die Rede, indem er sagte: Und ihn selber auch noch nicht.

Maria rief: O du bist häßlich! Aber sie entzog ihm die Wange nicht, als er sie zum Abschied küßte, und mit einemmale schlang sie die Arme um seinen Nacken und flüsterte ihm ins Ohr: Du giebst ihm den Preis! Wenn du es thust, dann sagen alle andern ja.

Ich will mir zuerst noch einmal sein Werk anschauen, ohne alle Liebe; wer weiß, Maria, am Ende stimme ich doch mit nein.

Sie schüttelte energisch den Kopf und sah ihn siegesgewiß an.

Es war ihre Gewohnheit, den Vater die Treppe hinunter zu geleiten bis zur Hausthür. So that sie auch heute.

Ich komme heute nicht zum Essen. Aber weißt du was? Iß du heute in der Ausstellung. Wir werden um ein Uhr eine Pause machen. Dann essen wir zusammen, nicht im großen Saale, sondern im kleinen Zimmer zur rechten Hand, wo die kleinen Tische stehen. Wir essen dann selbdritt. Ich werde noch einen mitbringen.

Maria war blutrot geworden. Wen? stammelte sie.

Einer, der nein gesagt hat, sagte der Professor scherzend.

Die giebt es nicht! rief Maria und nickte dem grüßenden Vater freundlich zu.

Sie eilte die Treppe hinauf und setzte sich ans Klavier. Aber bald stockte ihr Spiel, und sie sah sinnend vor sich nieder.

Wie war es doch gekommen, daß ihr das Geschick dieses Mannes so am Herzen lag, so, daß ihr selbst das Herz klopfte bei dem Gedanken an seinen bevorstehenden Sieg? Ihr Vater hatte ihr viel von dem jungen Handwerker erzählt, in dem ein großer Künstler stecke. Sie hatte über seinen Namen die Lippen gekräuselt, weil ihr Vater über die Teilnahme gescherzt hatte, die sie dem jungen Künstler zuwandte. Der Professor pflegte oft mit ihr über die Angelegenheiten seiner Kunst und seines Berufes zu sprechen. Er gab auf ihr Urteil große Stücke, ohne sich eigentlich dessen bewußt zu werden, und da keiner seiner Schüler seinem Herzen so nahe stand wie Georg, so hörte Maria immer wieder seinen Namen und sah immer wieder seine Arbeiten. Und da sie einmal den Satz aufgestellt hatte, daß ein Mensch, der Schumacher heiße, kein Künstler sein könne – ein Satz, an dessen Wahrheit sie am wenigsten glaubte –, so strengte sie allen Scharfsinn ihres seit früher Kindheit geübten künstlerischen Urteils an, Fehler in Georgs Arbeiten zu entdecken. So war es auch Maria gewesen, die in dem Modell der Nausikaa den bürgerlichen Zug entdeckt hatte. Sie ist vollendet schön, hatte sie zu ihrem Vater gesagt, aber sie ist kein Königskind. Als sie aber dann Zeugin war von dem Schmerze des Künstlers, wurde sie von dem tiefsten Mitleide für ihn erfüllt, und es war ihr ein Trost bei dem schmerzlichen Gedenken an jenen Auftritt, daß sie dem Tiefbetrübten ein warmes Wort hatte mitgeben dürfen. Damals hatte sie ihn auch zum erstenmale gesehen, und er hatte ihr nicht mißfallen. Von jenem Tage an war ihr Urteil über Georg wie umgestimmt. Wenn der Vater ihn des Trotzes anklagte, nahm sie ihn in Schutz, und wenn der Professor von seines Schülers Undank sprach, dann versicherte sie, daß er wiederkommen werde. Sie hatte dabei die geheime Überzeugung, daß auch das Wort, das sie ihm gesagt hatte, mithelfen werde, ihn zurückzuführen. Wie triumphierte sie, als der Professor eines Tages voller Freude erzählte, daß Georg bei ihm gewesen sei! Mit welcher Spannung hörte sie zu, als der Vater von Georgs Plan sprach, die Braut von Korinth zu gestalten! Und da jene Arbeitersfrau, die Georg zum Modell gedient hatte und zu demselben Dienste zu dem Professor kam, nicht genug gutes von dem Herrn Schumacher erzählen konnte, und da der kleine Peter, der auch Marias Liebling war, mit Händen und Füßen vor Vergnügen strampelte, wenn seine Mutter ihn fragte, ob er zum Herrn Schumacher wolle, so wurde Maria überzeugt, daß Georg auch ein rechtschaffnes Herz habe und ein edler Mensch sei. Der Altar, den das Künstlerkind dem großen Künstler, die Professorentochter dem Schüler ihres Vaters, das warmblütige Mädchen dem wackern Jüngling aufgebaut hatte, war festgegründet im innersten Herzen, und eine warme Flamme brannte darauf bei Tag und bei Nacht.

Und wie horchte sie dann auf, als ihr Vater ihr erzählte, daß ihm Georg den Auftrag gegeben habe, sein fertig gewordnes Werk zur Ausstellung zu bringen! Sie war voller Glück, als ihr Vater tief bewegt von Georgs Atelier zurückkam und mit wenigen aber vielsagenden Worten seiner Bewundrung Ausdruck gab. Und als sie nun selbst in dem stillen Atelier vor dem Werke stand, da wurde sie vom Eindruck überwältigt. Ihre Augen waren feucht, als sie schied. Still ging sie neben ihrem Vater her, und daheim schloß sie sich in ihr Zimmer und schüttete ihr Herz in Thränen ans. Bei jedem Besuch der Kunstausstellung erfuhr sie den gewaltigen Eindruck von neuem, und sie wurde durch die Wahrnehmung beglückt, daß es den andern Besuchern gerade so erging. Es war für sie wie ein persönlicher Triumph, wenn sie die stille Schar der Betrachtenden beobachtete und nie den Weg an Georgs Kunstwerk vorbei finden konnte, ohne durch ein Gedränge zu schlüpfen. Sie konnte sich nicht mehr verhehlen, daß ihr Georg so teuer geworden war, wie kein Mensch außer ihrem Vater. Eine stille, sichere Freude kam in ihr Herz. Sie wußte, daß sie ihn bald sehen werde, und daß es dann auch ihm ein Bedürfnis sein werde, ihr in die Augen zu schauen und ihrer Verheißung zu gedenken: Sie werden es besser machen. –

Und dann war sie in die Ausstellung gegangen zu dem verabredeten Stelldichein, und der Vater war gekommen und hatte die beglückende Botschaft gebracht, daß Georg den Preis errungen habe. Sie hatte ihre Bewegung kaum verbergen können. Und doch war eine Enttäuschung in der Fülle ihres Glückes, denn der dritte, den der Vater mitgebracht hatte, war nicht, wie ihr Herz gehofft hatte, Georg gewesen.

All das fuhr ihr wieder durch den Sinn, während sie neben dem auf so seltsame Weise gefundnen der Ausstellung zufuhr. Und heute, wie war es da gewesen?

Der Vater war seit zwei Tagen fort, und sie erwartete ihn erst morgen zurück. Sie hatte sich an das Klavier gesetzt und gespielt. Dann war sie aufgestanden und ruhelos von einem Zimmer ins andre gegangen. Sie hatte zum Fenster hinausgehorcht auf den Amselschlag im Garten. Wie die Zeit sich schleppte! Sie war dann in ihr Zimmer hinauf gegangen, um sich in ihrer eignen bescheidnen Kunst zu üben, und hatte eine Weile gezeichnet. Dann war sie aufgesprungen und zu ihren Büchern geeilt. Sie hatte Goethes Gedichte herausgeholt und das Büchlein aufgeschlagen. Ich wußte doch, daß du kommen würdest! dachte sie.

Welcher Unsterblichen
Soll der höchste Preis sein?
Mit niemand streit ich;
Aber ich geb ihn
Der ewig beweglichen
Immer neuen
Seltsamen Tochter Jovis,
Seinem Schoßkinde,
Der Phantasie.

Dann hatte sie die Braut von Korinth aufgeschlagen. Aber sie hatte das Buch beiseite gelegt. Er braucht keinen Dolmetsch, hatte sie gedacht, und wenn der Dolmetsch Goethe heißt.

Wie die Amseln lockten und die Finken schlugen! Es hatte sie gedrängt, hinaus zu gehn in die Frühlingswelt. Da war sie in den Park geeilt und ging nun langsam zwischen dem jungsprießenden Rasen unter den breitästigen knospenden Kastanienbäumen dem flimmernden See entgegen. Sie hatte an ihn gedacht, wann er wohl kommen werde, wie er wohl aussehen werde in seinem Glück, wie ihre Begegnung wohl verlaufen werde. Sie war ihm einigemale begegnet, ohne von ihm bemerkt zu werden, als er aus seinem Atelier nach Hause eilte. Sie kannte seinen Gang, seine Miene. Ob ihm wohl der nachdenkliche Zug immer eigen sei, oder ob er auch anders in die Welt hineinschauen könnte?

In solche Gedanken vertieft hatte sie mit einemmale vor dem gestanden, mit dem sie sich all die Zeit her in ihrem Herzen beschäftigt hatte. –

Der Wagen war vor dem prächtigen Portale des Ausstellungsgebäudes vorgefahren. Ein Diener eilte herzu und öffnete den Schlag. Maria stieg aus und befahl dem Kutscher zu warten.

Kommen Sie mit, das ist alles, was Sie zu thun brauchen, sagte sie zu Georg.

Sie traten in die vordere Halle ein. Zwischen den Porphyrsäulen, die das Gewölbe trugen, standen die ausgestellten Werke der Bildhauerkunst. Maria führte Georg zu einem Sofa, das in einem lauschigen Winkel zwischen Lorbeer- und Orangenbäumen stand, und von einer plötzlichen Regung ergriffen, eilte sie auf einen der Lorbeerbäume zu, brach einen Zweig und reichte ihn Georg.

Dem Preisgekrönten! sagte sie mit lieblichem Lächeln, während ihr Thränen in die Augen traten und ihre Wangen sich röteten.

Als er auffuhr und sie fragend ansah, bat sie nur eilig: Warten Sie hier auf mich; wills Gott, so komme ich bald wieder. Schauen Sie derweilen dort hinüber!

Sie verschwand, indem sie unter die Menge eilte.

Georg zitterte vor Aufregung, als er seinen Blick nach der bezeichneten Richtung hinwandte. Hoch erhöht auf einem dunkeln Sockel stand sein Bildwerk. Es war umdrängt von einer staunenden, flüsternden Menge. Halblaute Ausrufe der Bewunderung wurden laut. Georg vernahm nichts davon. Das Herz schwoll ihm von namenlosem Glück; ein Hochgefühl, wie er es noch nie empfunden hatte, hob ihm die Seele. Er fühlte, wie ein Thränenstrom ihm das Herz befreite. Dem Dämon, der aus den Augen der steinernen Braut schaute, war die Gewalt genommen. Er sah nichts mehr als nur sein Werk. Alles Geräusch der Welt war verklungen. Seine Seele war voll von dem einen Gefühl und dem einen Gedanken: Es ist gelungen!

Währenddem eilte Maria durch das Gedränge.

Spähend durchwanderte sie einen Saal nach dem andern. Ihr Herz klopfte hoch. Es war erfüllt von der Sorge, daß sie den nicht treffen möchte, den sie suchte. Wenn er hier nicht war, sie wußte nicht, wo sie ihn finden sollte!

Sie war bis an das Ende gelangt und eilte nun mit steigender Angst zurück. Sie hatte Georg so zuversichtlich Hilfe zugesagt. Wie konnte sie vor ihn treten, ohne ihm Hilfe zu bringen?

So kam sie wieder in die Skulpturenhalle zurück. Dort saß der Mann, der auf ihre Hilfe hoffte. Was sollte sie thun? Wie sie unschlüssig um sich blickte, hörte sie plötzlich neben sich eine Stimme, deren Klang sie wie ein Blitzstrahl durchzuckte. Sie drehte sich um: da stand er, der Gesuchte, der Dritte vom letzten male, der alte Freund ihres Vaters. Es war der Direktor einer großen Galerie. Er hatte während des Mahles an jenem Mittag mit großer Bewunderung von Georgs Kunstwerk gesprochen und war immer wieder auf den Wunsch zu reden gekommen, die Braut von Korinth für seine Anstalt zu erwerben.

Maria begrüßte den Freund ihres Vaters mit strahlender Freude.

Ich danke Ihnen, gnädiges Fräulein, daß Sie mich aus dem Banne der dämonischen Augen retten! Freilich nicht zur Freiheit, fügte er lächelnd hinzu, denn jetzt muß ich Ihnen in die Augen schauen!

Ist es Ihnen Ernst mit der Absicht, die Gruppe zu kaufen? fragte Maria.

Gewiß! Ich habe ja Ihren Vater gebeten, mit dem Künstler zu verhandeln.

Das können Sie jetzt selbst thun. Der Künstler ist hier. Und nun bitte, kommen Sie mit mir einen Augenblick auf die Seite.

Der Direktor führte Maria in den Schatten einer Gruppe von Orangenbäumen. Maria erzählte ihm in fliegender Hast, was sie von Georgs Lage wußte und ahnte. Ich habe noch einen Käufer in Sicht, sagte sie, einen russischen Fürsten. Darum bieten Sie nur einen guten Preis!

Der Direktor lächelte. So viel als ich überhaupt für diesen Zweck zur Verfügung habe, erwiderte er; seien Sie unbesorgt. Und nun führen Sie mich zu dem Künstler.

Dort sitzt er! sagte Maria und wies auf Georg.

Bitte, stellen Sie mich vor!

Maria ging auf Georg zu, und als sie die beiden Männer mit einander bekannt gemacht hatte, ging sie still beiseite.

Zu ihrer Freude sah sie den warmen Blick der Teilnahme aus den klugen und guten Augen des alten Direktors, und dann den hellen Schein des Glücks in dem Antlitze Georgs.

Rasch war das Gespräch der beiden zum Abschluß gekommen. Der Direktor sah sich nach Maria um. Sie trat freudig herzu und fragte: Ist alles in Ordnung? Georg überließ dem Direktor die Antwort. Ihm selbst war das Herz zu voll.

Sie verließen zusammen die Halle und traten auf den freien Platz hinaus, wo der Wagen wartete. Die beiden Herren stiegen ein.

Wohin? fragte der Kutscher.

Zum Bahnhof! erwiderte Maria, die am Wagenschlag stand.

Zuerst aber zur Reichsbank! entschied der Direktor.

Die Pferde zogen an. Die beiden Herren sahen sich umsonst nach Maria um. Sie war in der ab- und zuströmenden Menge verschwunden. Hinter einer Säule verborgen sah sie dem davonrollenden Wagen nach. Er soll vor meinen Augen nicht die seinen niederschlagen und: Danke! stammeln, sagte sie zu sich selbst.


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