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Es war stichdunkel in der Flur des Rathauses. Georg tastete vor jedem Schritt mit der Fußspitze. Hier fing die Treppe an. Von der Wucht der steinernen Last niedergestemmt fiel jeder Tritt schwer und hart auf die Stufen. Nach der letzten Stufe sank Georg in die Kniee. Mühsam richtete er sich wieder auf. Die Rathausthür war zum Glück offen, Georg trat ins Freie.
Die Nacht war schwarz. Die erleuchteten Fenster der umliegenden Häuser boten das einzige Licht. Vorsichtig war Georg einige Schritte vorwärts gegangen. Jetzt stand er an dem Wasserleitungsgraben.
Ich will dich da hinunterwerfen, sagte er zu dem steinernen Kopfe. Er war auf das Brett getreten, das den Graben überbrückte, und hielt sein Kunstwerk über den schwarzen Schlund.
Wenn sie dich im Grabe ließen! murmelte er. Aber sie werden dich ausgraben, und die Buben werden ihren Spott mit dir treiben. Du hast einen ehrlichen Tod verdient. Dann soll dich der Straßenwart begraben.
Er rückte vorsichtig und langsam zurück, bis er von dem Brett wieder auf den Boden getreten war; dann schritt er auf den Marktbrunnen zu.
Da ist dein Vorfahr zerschellt, hier sollst auch du sterben! Und er faßte das Bildwerk mit umspannenden Händen, und langsam hob er es in die Hohe, über seinen Kopf hinauf, und jetzt schleuderte er es auf die Trogwand des Marktbrunnens. Ein gewaltiger Schlag, ein dumpfes Gepolter, ein Klirren zerbrechender Scherben, – und dann war alles still.
Georg bückte sich und tastete. Hier sind Schilfblätter, hier ist eine Hand, hier ein Schädelknochen mit Ohr, hier eine Achsel mit dem Armstumpf und der rechten Brust, – o, es war eine schöne Frauenbrust!
Georg richtete sich in die Höhe und atmete tief auf. Er sah zum Himmel empor; der war sternenlos. Sein Blick schweifte an den erleuchteten Fenstern hin. Dort drüben stand des Altbürgermeisters Haus. Er murmelte: Die da ist tot, und die dort hinten erwartet ihren Mann. Wenn er heimkommt, dann erzählt er von mir, und es graust ihr vor mir, und sie schlüpft an sein Herz und flüstert: Gottlob, daß ich dich habe!
Er trat einen Schritt vor und sah sich um. Die hellen Fenster und die schwarzen Mauern jagen mich hinaus, flüsterte er. Ich weiß eine, der ich willkommen bin!
Er überschritt den Graben und bog in die durch Laternen erhellte Straße ein. Hier war der Wilde Mann. Georg trat ein. Die Wirtsstube war leer. Er schnallte die Tasche auf, zog ein frisches Hemd heraus und legte es an Zahlungsstatt vor die erstaunte Wirtin hin. Dann hängte er die Tasche über die Schulter und verließ ohne Gruß die Stube. Seinen Stock ließ er auf dem Tische liegen.
Er bog vor dem Hause in eine Seitengasse ein und ging auf Umwegen nach dem Marktplatz zurück, dann an dem Brunnen vorbei, ohne an das zerschmetterte Frauenbild zu denken. Seine Seele glühte in dem leidenschaftlichen Verlangen, einen Gruß der Liebe zu hören, willkommen zu sein, eine Heimat zu finden an einem warmen Herzen. Gertraud! Er ging die Hauptstraße entlang gegen den obern Ausgang des Städtchens zu. Jetzt lag das letzte Haus hinter ihm.
Und so schritt er in die finstere Nacht hinaus.
Da wars ihm, als höre er einen Schritt hinter sich. Er blieb stehen und lauschte. Aber er hörte nichts als das Rauschen des Baches ihm zur Seite.
An ihr Kammerfenster will ich pochen. Dann kommt sie und schließt es auf. Wer ist es? Ich bin es! Heiße mich willkommen! – Willkommen, du Lieber! Endlich bist du da! Und dann will ich sie umfassen. Küsse mich! Küsse mich!
Er eilte weiter. Kein Stern stand am Himmel. Kein Schein kündete, daß hinter der Finsternis eine Helle sei. Ein Windstoß kam das Thal herunter. Es rauschte dort drüben über dem Bach in der schwarzen Finsternis, wo der Wald aufstieg, eine Nacht in der Nacht.
Der Wind wehte heftiger. Den Hut riß er mit. Und das Sausen und Brausen drüben im Walde schwoll an und überwogte das Rauschen des Baches.
In ihr Auge will ich schauen und ihren Mund küssen, und ihr Lachen will ich hören und mit ihr lachen!
Er lachte laut auf. Dann sah er erschrocken um
sich. Der Wind war weit weg, der Wald war verstummt, und der Bach rauschte wieder.
Das Mühlrad ließ sich noch immer nicht hören.
Georg stand still. Er mußte schon weit gelaufen sein, wohl an der Mühle vorbei. Der Weg vor ihm stieg an. So mußte die Mühle hinter ihm liegen.
Er kehrte langsam zurück. Die Nacht war noch finsterer geworden. So ging er eine Weile, aufmerksam lauschend und mit den Blicken die Finsternis durchbohrend. Jetzt blieb er stehen. Dort lag ein bleicher Schein in der Finsternis. Er beugte sich nieder und tastete mit der linken Hand nach dem Rande der Straße.
Ja, hier ging die Brücke über den Wiesengraben, und dort drüben mußte die Mühle stehn.
Georg ging langsam über die Brücke. Dann hielt er zögernd den Fuß an, und dann that er noch einen Schritt. Und so ging er weiter und weiter.
Es knisterte seltsam unter seinen Füßen, Er stand wieder still und trat einen Schritt zur Seite. Er tastete mit der freien Hand umher und griff in die schwarze Luft. Noch einen Schritt, da stieß er den Fuß an, daß er schmerzte. Er tastete. Es war ein Balken, der auf dem Boden lag, und wie er zufaßte, bröckelte es von dem Balken ab, wie wenn er morsch und faul wäre. Ein eigentümlicher Dunst stieg aus dem Boden und versetzte ihm den Atem.
Georg richtete sich wieder auf. Die Haare sträubten sich ihm vor Entsetzen. Da zerriß ein Blitzstrahl den Himmel, und eine bleiche Helle huschte über den Boden hin.
Vor sich ein paar Schritte jenseits des Balkens hatte Georg etwas gesehen, das sich lang und schwarz am Boden hinstreckte. Zitternd stieg er über den Balken und ging in der Finsternis darauf zu. Jetzt stieß er an. Er griff vor sich. Es war eine Mauer. Hier war sie mannshoch, hier geborsten und in einen Steinhaufen zertrümmert.
Georg kletterte die Steine empor und setzte sich. Er war wie zerschlagen.
Gertraud! Gertraud! rief er in die Nacht hinaus.
Da flammte ein neuer Blitz, und wieder und wieder einer. Der Donner rollte die Berge entlang. Von allen Seiten des Firmaments zuckten die Strahlen. Sie beleuchteten mit sausender Fackel gespenstisch den Boden. Überall rußige Mauerreste, verkohlte Balken.
Gertraud! Gertraud! rief Georg, so oft ein neuer Blitz aufzuckte.
Einige Schritte vor ihm stand ein angekohlter Thürpfosten, an dem das eiserne Beschläg herunterhing. Ein blauer Schein huschte drüber hin bei jedem Blitze.
Da bist du ja! schrie er. Er sprang auf, kniete nieder und hielt beide Hände ausgestreckt.
So blieb er unbeweglich, bis es wieder am Himmel aufflammte. Er starrte mit aufgerissenen Augen nach dem Pfosten hin.
Dich kenn ich nicht! sagte er und fuhr schaudernd zurück.
Er wartete auf einen neuen Strahl.
Von rechts siehst du aus wie der Engel des Trostes und von links wie der Engel des Schmerzes ... wer ... bist du?
Und er stand auf und ging, immer nach dem Bilde schauend, langsam rückwärts.
Da schüttete der Himmel seinen grellsten Glast zur Erde nieder.
Was schaust du mich so an? schrie Georg in den brüllenden Donner hinein. Du gehörst ja gar nicht unser! Ich ... fürchte mich ... vor dir.
Er brach zusammen. Aber während über seinen todmüden Körper bleierner Schlaf sank, hatte seine Seele keine Ruhe, sondern spann unablässig weiter an den Wahnsinnsgebilden seiner Phantasie.
Es war ihm, als erhöbe er sich wieder von dem Trümmerhaufen, auf den er gesunken war. Er fühlte, daß es ihn zu dem Wasser zog, und während ihn das Gewitter umtobte, ging er langsam an dem Bache hinab.
Das Firmament war eine tosende Brandung aufgepeitschter Flammen. Die Feuerhelle wogte über die Erde und warf gigantische Schatten in einander. Der Donner brüllte, ohne Atem zu schöpfen. Wie ein Wasserfall kams den Wald herunter gerauscht. Das war der Sturm. Die Buchen von drüben und die Erlen von hüben warfen ihre Arme in einander. Es prasselte im Schilf.
Georg hatte sich niedergekauert in den empörten Schilf und weinte vor sich hin: Das ist nicht recht von dir, Gertraud, daß du nicht kommst!
Da legten sich weiche Arme um seinen Hals, und Frauenbrüste wallten ihm entgegen.
Wer bist du? stieß er hervor in schauderndem Entzücken.
Du hast mich gerufen, und da bin ich, flüsterte es an seinem Halse. Ich war dort, – weißt du noch? – dort. Nie ist es schöner im Schilf als im Wetter. Da hörte ich dich rufen. Und nun komm!
Wohin?
Wo ich war.
In den Schilf? rief er entsetzt.
Nein! flüsterte sie fast unhörbar. Wo ich vorher war.
Wo warst du denn?
Wo wir jetzt wohnen.
Wer?
Mein Vater und ich.
Ist dort Raum für mich?
Wir rücken zusammen.
Und dein Vater?
Der ist stumm und blind und ach, so kalt.
Ein eisiger Hauch wehte ihn an, daß ihm das Herz schauderte.
Da zerriß ein machtvoller Strahl den Himmel, und er sah sie vor sich stehn in ihrer unheimlichen Schönheit wie eine Nixe, die dem Wasser entstiegen ist. Die dunkeln Haarstränge hingen über die schimmernde Achsel. Er sah sie vor sich, die wehvoll und lustvoll gebrochnen Lippen und schaute hinein in die starren Augen, in denen die Gier flimmerte, wie ein Flammenblick im Eis.
Geh allein nach Hause! Ich kann nicht mit dir gehen! sagte er schaudernd.
Da strich es an ihm nieder in die Dunkelheit. Er hörte leises Weinen zu seinen Füßen. Er beugte sich nieder und griff in ihr triefendes Haar.
Weinst du, Gertraud?
Sie gab keine Antwort.
Da kniete er zu ihr nieder und legte den Arm um ihren Nacken.
Er spürte, daß sie zitterte. Du frierst! Sei vernünftig, geh nach Hause.
Mit dir! hauchte sie.
Du mußt allein gehen, Gertraud!
Warum hast du mir denn gerufen?
Da zog es ihn zu ihr nieder. Sie legte ihre Arme um seinen Hals. Komm!
Die Lippen begegneten sich. Ihr Kuß war ein langes, stilles Saugen. Ein heißer Strom brach aus seinem Munde, Flamme, Blut, Leben. Das Herz that ihm zum Sterben weh, und tötliches Entsetzen schütterte ihm das Mark.
Da durchzuckte ihn der Gedanke, was ihn retten könnte. Ein Wort! Wenn er dies eine Wort gewänne. Er knirschte mit den Zähnen und riß sich frei und rief: Maria! Da glitt es an ihm hinunter wie eine niederschlagende Welle.