Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

3

Es war tageshell im weiten Raume, und der blaue Himmel schaute herein, wer weiß, wie lange schon, als Georg aus dem Schlafe schreckte. Er richtete sich auf und sah um sich.

Es ist vollendet! war sein erster Gedanke. Dann kam ihm Gertraud in den Sinn. Das Lager war leer. Das Mädchen war verschwunden.

Er stand und griff sich an die Stirne. Hatte ihm alles geträumt? Das letzte, dessen er gewiß war, war die bäuerliche Musik, die vor Mitternacht in sein Atelier getönt hatte, und nun, daß er hier am Fuße seines Kunstwerks geschlafen hatte. Alles andre war doch wohl nur ein wildes Spiel seiner gepeitschten Phantasie gewesen. Aber dann sah er die steinerne Braut an. Ihr Antlitz hatte über Nacht eine dämonische Schönheit gewonnen, die ihm jetzt unbegreiflich erschien. Und über das Gesicht des Jünglings zuckte das Wetterleuchten einer noch fernen, aber heranfliegenden Angst. Auch daran hatte er vorher nie gedacht. Wie war das eine und das andre geworden? Das war gewiß, als er die Pfeifen und Schalmeien gehört hatte, da war er mit seinem Werke nicht zufrieden gewesen. Und jetzt? Es war vollendet. Er hatte ihm nichts mehr zu sagen. Er konnte gehen.

Hinaus! hinaus! rief es in ihm. Er hatte Verlangen nach frischer Luft und lichtem Tag, nach einer Wanderung in der Morgenkühle. Welche Stunde mochte es sein? Seine Uhr war stehen geblieben. Er öffnete die Thür. Eine warme Flut von Sonnenschein quoll ihm entgegen.

Noch einen Blick warf er auf sein Werk. Dann schritt er auf die Straße hinaus. Es war ein wunderschöner Tag. Der Rasen leuchtete, und das Gebüsch flimmerte im Sonnenschein, die Amseln flöteten, und die Lerchen trillerten.

Georg fühlte sich müd und abgeschlagen, aber ums Herz war es ihm froh und leicht. Er ging durch die Straßen der Stadt. Der Tagesverkehr war in voller Höhe. Nun kam er an einen Kirchturm. Es war neun Uhr vorüber. Wenige Schritte davon war das stattliche Haus des Professors. Georg stellte sich in den Schatten eines Altans, denn die Sonne schien grell über das Dach herüber, und er sah hinauf. Im dritten Stock waren zwei Fenster geöffnet, drei waren verhängt. Dort hinter den Gardinen schlief sie wohl noch. Langschläferin!

Horch, horch! Die Lerch im Äther blau.
Und Phöbus steigt bergan!

Wie kam er doch auf Shakespeare? Imogen! Nein, Perdita! Maria Perdita, Maria inventa! Daher der lange Schlummer in den Morgen hinein. Träumst du noch von deinem Schäferinnenkönigtum? So war also auch dies Wirklichkeit, kein Traum! Schlafe süß bis zum Mittag. Wenn du deine wunderschönen Augen aufschlägst, dann ist es Mittag, die Dämmerung und der Dämon sind weit, weit weg.

Halt! – Es war ihm ein Gedanke gekommen. Er schrieb auf eine Karte, die er auf einen Briefschalter auflegte, ein paar Worte an den Professor. Er bat ihn, sich seines vollendeten Werkes anzunehmen und ihm einen günstigen Platz im Ausstellungsraume zu erwirken, da er selbst sich auslaufen müsse und nach seiner Mutter sehen wolle. Er rief einen Dienstmann herbei und gab ihm die Karte, dann eilte er seiner Wohnung zu.

Er fand die Wirtin vor der verschlossenen Thür mit dem Frühstück stehen. Zum drittenmale bin ich da und klopfe, sagte sie. Wo hätte ich auch gedacht, daß Sie die ganze Nacht durchschwärmen würden! Aber es muß schön gewesen sein auf dem Künstlerfest. Sie sehen vergnügt aus, nicht wie einer, der die Nacht durchzecht hat, sondern wie ein Bräutigam, der in der Nacht vor der Hochzeit nicht hat schlafen können.

Georg lachte. Er nahm ihr das Frühstück ab und trat in sein Zimmer. Wie that es ihm wohl, die Arbeitskleider abzulegen, sich frisch zu kleiden und den Staub aus dem Gesichte zu waschen! Wie that ihm der Kaffee gut! Hastig packte er etwas Wäsche in die Reisetasche, steckte seine Brötchen hinein, hängte sie über die Schulter, griff nach seinem Stock und eilte auf die Straße zurück.

Sein Weg führte ihn über den Markt. Die Apfelsinen lachten ihn an. Er blieb stehen und kaufte sich einige. Während ihm die Hökerin herausgab, nahm sie ein unterbrochnes Gespräch wieder auf.

Es ist eine Schande, wie er sie geschlagen hat! rief sie ihrer Nachbarin zu. Auf offner Straße! Der Vater sein eignes Kind, und ein so sauberes, stolzes Mädchen! Mein Mann hats nimmer ansehen können und wollte ihm wehren. Da kam er schön an! Er war froh, wie er den Wüterich wieder los hatte. Wir haben ihnen noch lang nachgesehen. Er hat immer auf sie losgeschlagen und sie geschimpft vor den Schulkindern mit dem ärgsten Schimpfwort, das es für uns Weiber giebt. Es war eine Schande! Endlich kam ein Schutzmann und hat ihm gedroht, er würde ihn verhaften, wenn er das Mädchen nicht gehen lasse.

Die Nachbarin erwiderte: Sie wirds nicht anders verdient haben. Dem leichtfertigen Fleisch gehört es so.

Die sah nicht so aus! sagte die erste. So ein bildschönes Ding! Sie hat mich in der Seele gedauert, wie sie sich schlagen ließ und immer nur still vor sich hin weinte.

Georg hatte längst sein Geld herausbekommen. Aber er stand immer noch da.

Wollen Sie noch etwas? fragte ihn die Hökerin.

Wer war es?

Georgs Stimme bebte, als er fragte:

Wer?

Das Mädchen, von dem Sie erzählen?

Was weiß ich?

Was hat sie für ein Kleid angehabt?

Die Marktfrau kreuzte die Arme über der Brust und schwieg.

Bitte, antworten Sie mir doch, bat Georg.

Einen Unterrock und einen Überrock, sagte die Hökerin und ließ das Haupt auf die Brust sinken, als ob sie einnicken wollte.

Georg ging mit schwerem Herzen von dannen.

Wie wird Gertraud von ihrem Vater empfangen worden sein? Oder ist sie es selbst gewesen, das arme Ding, das still vor sich hin weinte, während der Vater sie mit Schlägen zum Bahnhof trieb?

Er hatte die staubige, rauchende Vorstadt hinter sich gelassen, die letzte Fabrik, den letzten Lagerplatz, die letzte Baustätte. Nun schritt er die schöne, sanft ansteigende Landstraße dahin zwischen hochgewachsenen breitastigen Nußbäumen, deren Ruten kräftige rostbraune Knospen trugen. Es war ein herrlicher Frühlingstag. Die Blütenbüschel der im Feld und in den Gärten stehenden Birnbäume waren im Aufbrechen, und die Abhänge des Gebirges, an dessen Fuß die Landstraße hinzog, schimmerten von der Pracht der Kirschenblüte. Die Meisen und Finken zwitscherten und pfiffen ihre kecken, hellen Liedlein, und in den Feldern und auf den Weinbergen arbeiteten die Landleute. Alles glänzte und klang von Freude und Hoffnung.

Georg sah die Frühlingsherrlichkeit und empfand sie tief im Herzen. Aber er konnte sich nicht mitfreuen. Der Gedanke an Gertraud lastete schwer auf seinem Gemüt, und die Müdigkeit, die wie ein Gewappneter über ihn kam, ihm auf den Augenlidern lastete und ihm die Kniee niederdrückte, that ihm nicht wohl, wie sie dem Bauern thut, wenn er des Abends die Hacke in den Stallwinkel stellt, sondern sie war verbunden mit dem Gefühl einer peinlichen innern Leere und mit einer Schlaffheit, die fast unerträglich war. Es war ihm, als wäre die Braut weggezogen aus dem Hause seines Gemütes, und als wäre nun alles, was darinnen vorhanden war, wertlos und bedeutungslos geworden. Alles hing in ihm darnieder. Keine Sehne war mehr gespannt, kein Bolzen mehr aufs Ziel gerichtet, und wenn er sich auch sagte, daß er von diesem qualvollen Zustand erlöst sein würde, sobald sein Herz einen neuen Gegenstand ergriffen hätte, und dadurch seinem Schaffen eine neue Aufgabe gestellt wäre, so kam es ihm doch zugleich unmöglich vor, daß ihm je wieder dergleichen gelingen könnte. Die gelösten Organe in seinem Innern kamen seinem Bewußtsein so unscheinbar und dürftig vor, daß er sich nichts zugetraut hatte. Das Kunstwerk, das er vor wenig Stunden vollendet hatte, erschien ihm als ein Rätsel, war ihm selbst durchaus unbegreiflich. Es war ihm schon so fern gerückt, daß sich ihm die Umrisse verwischten, und es war ihm so gleichgiltig geworden, daß der Gedanke, was daraus werde, keinen Augenblick sein Herz drückte. Dagegen befiel ihn die Sorge, es möchte mißlungen sein. Er konnte die Befriedigung nicht begreifen, in der er geschieden war, und vor dem Gedanken, es wieder zu sehen, fürchtete er sich fast; es wurde ihm immer mehr zur Gewißheit, daß es ihm verfehlt erscheinen müsse, wenn er es mit nüchternen Augen anschaue.

Unter der Last solcher Gedanken war er den Tag über dahingezogen, und das Wandern schuf ihm immer weniger Freude. Darum beschloß er, schon am frühen Abend die Nachtrast zu beginnen. Es war dies in einem Dorfe mit reichen Solquellen. Die Läden des großen Badehauses waren bis auf wenige geschlossen, in den Wegen des kleinen Parks lag das faulende Laub vom vorigen Jahre, die gemauerten Tischträger und die eisernen Bankgestelle ermangelten noch der Platten und Sitzbretter. Alles machte den Eindruck einer unbehaglichen, frostigen Verwahrlosung. Um so gemütlicher wars aber drinnen in der Wirtsstube. Es war, wie wenn der große Kachelofen von der Winterfeuerung her noch nachwärmelte. Während Georg sein Abendbrot verzehrte, kamen die Honoratioren des Badeorts: der Arzt, der Apotheker, der Salinenverwalter, ein Förster mit zwei Gehilfen. Sie setzten sich um den breiten Tisch, auf dem eine rotgewürfelte Decke lag. Die Häupter waren in Rauch gehüllt. Es wurde von den Vorbereitungen auf das bevorstehende Geburtsfest des Landesfürsten geredet, von dem Verlaufe der letzten Jagd, von der Pferdekrankheit im Stalle der Salinenverwaltung, von Mitteln gegen den Rheumatismus. Die Gespräche wickelten sich in langsamem Tempo ab. Sie waren von häufigen Pausen unterbrochen, während deren man nichts hörte als das gemütliche Paffen der Pfeife, das Ticken der Uhr, die über den Häuptern der Gäste ihren Pendel gleichmäßig hin und her schwingen ließ, das leise Ab- und Zugehen der Wirtin und die eintönigen Formeln des Zutrinkens. Und welch harmlose Friedlichkeit herrschte in dieser Gesellschaft! Diese Männer duzten sich alle. Sie nannten sich mit scherzhaften Titeln wie Oberforstrat, Medizinalrat, Geheimer Kamillenrat, sie kannten ihre Verhältnisse bis auf das Befinden des Dachshundes und den Zustand des Gartenzauns.

Als Georg zu Nacht gegessen hatte, trat einer von den jungen Forstleuten auf ihn zu und lud ihn im Namen der Gesellschaft ein, sich an deren Tisch hinüber zu setzen.

Georg dankte, er sei zu müde, ein erträglicher Gesellschafter zu sein. Aber diese Freundlichkeit that ihm überaus wohl. Es war die einzige, die ihm heute zu teil geworden war.

Er ging in sein Zimmer hinauf und legte sich zur Ruhe. Wie wohl that ihm die köstliche Stille! Als er im Einschlafen war, sah er einen langen Pendel vor sich, der sich in sanften, grauen Tabakswolken regelmäßig hin und wider schwang, und er hörte ganz deutlich ein stilles, behagliches Uhrticken. Darüber schlummerte er ein.

Am andern Morgen fühlte er den Körper erfrischt, aber das Herz war ihm noch schwerer geworden. Ihr glücklichen Menschen! sagte er still, als er beim Frühstück an den Tisch hinübersah, um den die Gesellschaft gestern vereinigt gewesen war. Jeder von euch thut sein Geschäft und küßt seine Frau und hat seinen Anteil an Einfluß und Ehre in eurer kleinen Welt.

Als er aufbrach, fragte er die Wirtin, ob die Herren heute abend wieder kämen. Natürlich, war die Antwort, alle Abend, nur am Donnerstag nicht; da gehen sie in die Krone. Georg trug einen freundlichen Gruß an die Tafelrunde auf und schied aus dem Gasthause.

Auch heute war es schön. Aber der Himmel war nicht mehr so klarblau wie gestern, er war dunstig, und die Sonne brannte schon am frühen Morgen. Georg bog in ein Thal hinein und wanderte aufwärts zwischen Wiesen und Obstgärten durch stattliche Dörfer, vorbei an klappernden Mühlen und reichen Höfen. Überall sah er die fröhlichste Thätigkeit. Die Straße führte vom Thale weg auf die Höhe und zog nun zwischen Ackerfeld hin. Hier keimte die zarte grüne Saat, dort hauchte das umgebrochne Blachfeld würzigen Erdgeruch. Georg stand und sah dem Sämann zu, wie er die Furchen hinschritt und den Samen ausstreute in der Haltung eines Erdgottes, dem die Schöpferkraft dienstbar ist. Er konnte sich nicht satt sehen an diesem Bilde. Wenn er hinter einem Wagen herschritt, der von Kühen gezogen langsam, langsam dem Dörflein zuschlich, und im Vorübergehen den Bauer sah, der freundnachbarlich neben dem leeren Dungfasse saß und die träumenden Kühe lenkte, dann hatte er die Kühe streicheln mögen und dem Bauer die Hand drücken, und hätte ihnen sagen mögen: freut euch mit einander! Die Stille friedlichen Tagewerks, die ihn rings umgab, erfüllte sein Herz mit unendlicher Wehmut. Er kam sich vor, als ob er in dieser warmen, friedevollen Welt ein Fremdling wäre, der nur hindurchgehen und denen Glück wünschen dürfe, die darinnen lebten, und dann wieder hineinsteige in die Wildnis seiner eignen Welt, wo die Straße aufhörte und der Pfad sich verlor, und es nur ein Entweder – Oder gab: schwing dich empor mit königlichem Fittich, oder laß die Flügel hängen und traure.

Die Straße bog sich um die Lenden eines Hügels herum und senkte sich in eine Mulde. Ein Dörflein lag da drunten. Rüstig schritt Georg aus. Da sprang von einem Feldwege ein hemdärmliger Bursche, der eine Soldatenmütze trug, hinter einem rollenden Schiebkarren auf die Landstraße.

Mutter, halt! rief er einer ältern Frau zu, die einen Korb voll Rüben, die sie aus dem Rübenloch auf dem Felde geholt haben mochte, auf dem Kopfe trug. Die Frau blieb stehen, griff mit der rechten Hand nach dem Rande des wankenden Korbes und wandte sich langsam um.

Her mit dem Korb! rief der Bursche.

Er hatte die Frau eingeholt und hob ihr den Korb ab und stellte ihn auf den Karren.

Du hast auch noch Platz, Mutter! Als drauf!

Wo nicht gar!

Hast du Sorg, ich werf um?

Nein, Johann, ich vertrau dir gern meine Knochen.

Georg war vorübergeschritten. Jetzt hörte er hinter sich das Knarren des Karrens. Er drehte sich um und sah in das lachende, glückstrahlende Antlitz der Mutter. Er hatte noch nie ein so runzliges Gesicht so voller Sonnenschein gesehen. Als das Fuhrwerk an Georg vorbeirollte, warf die Frau ihm einen Blick zu voller Mutterstolz, als ob sie sagen wollte: Gelt du, fremder Herr, ich hab einen! Der Sohn aber wandte kein Auge von seiner Last und sang vor sich hin:

Wirf nit um, Hans!
Wirf nit um, Hans!

Jetzt wurde er keck und fuhr bis dicht an den Graben und hob die linke Deichsel in die Höhe, sodaß die Last sich über den Rand beugte. Jetzt rief die Mutter:

Wirf nit um, Hans!
Wirf nit um, Hans!

bis der Bursche wieder in die Mitte der Straße gefahren war.

Georg war stehen geblieben und sah den beiden nach, bis sie in der Dorfgasse verschwunden waren. Glückliche Mutter! Arme Mutter! dachte er dann. Was hast du von deinem Sohne? Was hat er dir bisher gethan? Er hat dich in Schulden und Sorgen, um Gut und Haus gebracht. Und was bringt er dir mit? Zwei Arme, die dich tragen und schieben? O nein! Schulden bringt er mit. Er kommt nicht, dir zu helfen, Mutter! Er kommt dir zu sagen: gieb mir alles, was du hast, bis auf den letzten Pfennig. – Wozu, Georg? – Ich muß einen Stein bezahlen. – Einen Stein! Meinen Grabstein? – Ach nein, Mutter! – Was hast du denn zu Stand gebracht, all die lange Zeit her? – Ein Bildwerk, Mutter. – Was stellt es dar? – Zwei Heiden, Mutter, einen Jüngling und ein Mädchen. – Was schaffen die mit einander? Doch nichts Unrechtes, Georg? – Ach nein, Mutter, hab keine Sorgen! – Für wen hast du das gemacht? – Für mich, Mutter, für dich, für alle und für niemand. – Was soll ich denn damit machen? – Anschauen, Mutter! – Aber davon wird man nicht satt, und davon bezahlt man keine Zinsen. – Ich weiß es wohl. – Und der Stein ist noch nicht bezahlt? – Nein, Mutter! – Den soll ich dir bezahlen? – Wenn du so gut sein willst, Mutter!

Als Georg durch das Dorf ging, war sein Schritt so hastig, als ob ihn jemand jage, und sein Gesicht war gerötet, fast verstört.

Jenseits des Dorfes stieg die Landstraße bergan. Georg mußte langsam gehen. Und die Gedanken, die in alle Winde geflohen waren, stellten sich wieder ein.

Wie könnte es so ganz anders sein, Mutter! Du könntest die glücklichste Mutter sein im ganzen Lande! Du hättest keine Sorgen mehr, nur Freude! Dein Bügeleisen würden wir aufheben, damit einmal deine Enkel, die du auf den Knieen wiegst – lauter schöne Kinder! – daran denken, wie hart es ihre Großmutter gehabt hat. Ja, du wärest glücklich, Mutter!

Und ich? Ich nicht auch? Ich lebte im Wohlstand, vielleicht im Reichtum, Ich hätte es so gut, noch viel besser als die Männer, die ich gestern sah. Wer triebe ein ehrwürdigeres und einträglicheres Geschäft? Wer küßte eine schönere Frau als ich? Und von der Macht im Städtlein und von seinen Ehren hätte ich ein gutes Stück, so viel, als ich nur immer wollte.

Unter diesen Gedanken war er auf die Höhe gekommen. Schon von fern sah er einen Wegweiser. Nach rechts ging der Weg zur Eisenbahn, die er in der Stadt verlassen hatte. Wenn er diesen Weg einschlug, konnte er noch heute Nacht bei seiner Mutter sein. Aber links ging der Weg dem Städtchen zu, wo er als Geselle gearbeitet hatte. Wenn er rüstig zuschritt, konnte er bis morgen Mittag dort sein.

Was sollte er bei seiner Mutter thun? Wie sollte er unter ihre Augen treten? Er konnte ihr nichts andres sagen als das eine: Bis ich etwas besseres weiß, will ich auf dem Rathause schreiben, den Bogen für sechzehn Pfennig. Dies Glück konnte er seiner Mutter auch noch übermorgen bereiten!

Dagegen dort! Das Herz schwoll ihm vor Sehnsucht. Dort war er glücklich gewesen, dort allein. Wenn er das Wort Heimat hörte, dann dachte er dorthin.

Er hatte den Weg zur Linken eingeschlagen.

Was wollte er dort? Die Menschen wieder sehen, die heimatlichen. Meister Petermann war nimmer am Leben, das wußte er. Aber der Kunstschlosser blühte wohl noch. Er wollte sein Kunstwerk wieder sehen auf der Brunnensäule droben, und den Birnbaum und den Mühlbach. Er wollte Luise wieder sehen, heimlich, verstohlen, – und Gertraud!

Er sagte den Namen laut vor sich hin und erschrak. Er hörte Wasser rauschen. Ein Bächlein schoß neben der Straße hin. Es wurde ihm bang ums Herz, als ob sie nahe wäre. Er gedachte an die Erscheinung im Mühlbache, an den wilden Tanz auf der Wiese, er sah sie, wie sie ihm auf dem moosigen Waldwege entgegenlief. Komm mir noch einmal so, Gertraud! flüsterte er in sich hinein. Zweimal bist du mir nahe gekommen, wie die Braut dem Geliebten, und beide male bist du mir aus den Armen geschwunden. So kommt die Welle, schlägt an die Brust und zerfließt am Herzen. Wenn wir uns wiederfinden am Mühlbache, dann bin ich kein solcher Thor mehr. Dann soll dir nicht mehr in der Glut des Durstes der Atem verbrennen!

Er schritt in einem Hochthale hin. Eintönig murmelte das Bächlein neben der Straße. Mit träumenden Augen blickte Georg vor sich hin. Er sah Luise, deutlich, wie ein fernes, kleines Bild. Aber er spürte Gertrauds Nähe, wie wenn sie unsichtbar da wäre. Nach ihr sehnte er sich, aber hinter der Sehnsucht lauschten Grausen und Angst. Die Sonne brannte auf die weiße, stäubende Straße. Der Himmel war dick und dunstig. Wie er so hin ging, die geblendeten Augen halb geschlossen, vergingen ihm die Gedanken. Er hörte noch eine Weile seine Schritte, dann verschwand ihm auch dieser Laut. Das Bewußtsein der Wirklichkeit war dahin.

Die Bilder, die vor seiner Seele webten, wurden zu Traumbildern. Er sah sie nicht bloß, er lebte darinnen, er sah auch sich, und sein Selbst verlor sich aus der wirklichen in die träumende Welt. Es war ihm, als ginge er in den Straßen einer Stadt.

Er sah sich um nach einem Schatten in der grellen Sonnenhitze, Dort unter dem Altan war es dunkel und kühl. Er stellte sich dahin, um zu warten, bis die Hitze vorüber gegangen sei. Gegenüber stand ein Haus. Das war ja das Haus, worin er wohnte. Im zweiten Stock waren drei Fenster offen, und drei Frauen schauten zu ihm hernieder, aus jedem Fenster eine. Ihm zunächst stand Luise. Sie hatte ihr blaues Mieder an, und an der linken Brust steckte eine weiße Nelke. Aber ihr Haar war ungeordnet, und es fehlte etwas; die zierliche, weiße Krause, mit deren Fältchen Georg so wohl bekannt war.

Im dritten Fenster stand Gertraud. Sie hatte ein Hütchen auf, das zerknittert war, und dessen Feder geknickt herabhing. Über der Stirn klaffte eine Wunde, aber es floß kein Blut heraus. In den Augen flackerte Wildfeuer, und die verlangenden Lippen waren halb geöffnet.

Als Georg den Blick von ihr wandte, dem mittlern Fenster zu, sah er dort eine dritte Frau stehen. Er kannte sie nicht, und doch war sie ihm wohlbekannt. Nein, sie selbst nicht, aber die großen, sonnenhellen Augen. Er hatte sie seines Wissens noch nie gesehen, und doch war es ihm, als wäre sie bei all dieser Wanderung neben ihm gegangen. Es ist die Frau, die auf der Brunnensäule steht, sagte er sich. Da sah sie ganz anders aus, und es war doch dieselbe.

Georg! rief es von Luisens Fenster her. Georg sah hin. Luise bewegte nur die Lippen, aber er verstand alles.

Komm und hole mich ab. Die Eltern sind schon in des Onkels Biergarten. Ich will mich sputen, daß ich fertig bin, bis du oben bist!

Und die Gestalt verschwand vom Fenster.

Georg eilte auf die Hausthür zu. Sie stand offen. Er sprang die Treppe hinauf. Aber nun war es anders als in seiner Wohnung. Er stand in einem Gange mit drei Thüren. Er sah rechts und sah links. Von beiden Seiten führte eine Treppe herauf, dort sah es aus wie hier. Von welcher Seite war er heraufgekommen? Welches war die Thür zu Luisens Zimmer? Entweder jene dort oder diese hier; aber welche von diesen zweien?

Da hörte er hinter der einen Thür einen leisen Gesang. Er öffnete, und plötzlich strömte ihm Wasser entgegen und schwoll riesenschnell an seinen Füßen empor. Und dort im Schilf saß das Wasserweib, einen Schilfkranz ums Haar. Oder war es Gertraud? Sie breitete die weißen Arme aus, und die Wogen rauschten heran und schäumten an seiner Brust in die Höhe, und die rückwärts stürzende Flut zog ihn zu dem Weibe dort.

Da raffte er die letzte Kraft zusammen und floh das Ufer hinauf und zur Thür hinaus. Er suchte sie vergeblich hinter sich zuzuschlagen. In breitem Strom schoß ihm das Wasser nach, ihn zurückzuschwemmen. Er stürzte auf den Boden und klammerte sich fest nn der Schwelle, die unter der mittlern Thür lag. Die Klinke konnte er nicht erreichen. So lag er im wütenden Wasserstrom, und hielt sich fest, und sah empor an der Thür hinauf, und er weinte und flehte: o öffne du, o laß mich ein, schon tausendmal war ich bei dir, nein, einmal nur, ein einzigesmal! Ach nur einmal noch im Leben laß mich deine Lippen küssen, deine heilig kalten Lippen, die mein Meißel schuf, o laß mich in dem kühlen Tageslichte deines Auges Schatten finden!

Da stieß er mit der Stirn an einen Baum, an den er gerannt war. Er erwachte. Es flimmerte ihm vor den Augen, und er taumelte wie betrunken. Endlich kam er zur Besinnung und fand festen Halt mit den Füßen. Er sah zurück. Die Straße war zur abschüssigen Steige geworden. Die letzte Strecke mußte er im Rhythmus gerannt sein, denn sowie er weiter schritt, wollte sich der Rhythmus wieder seiner Füße bemächtigen. Er mußte auf die Seite biegen, um der Beine wieder Herr zu werden, und um natürlich gehen zu können.

Der Kopf schmerzte ihn, und seine Glieder waren bleiern schwer. Die Sonne sank glanzlos, bleich. Ihr Licht verschwamm im Dunst.

Im Grunde lag ein schönes Dorf mit hohen steinernen Häusern. Georg beschloß, hier zu übernachten. Er setzte sich im Wirtshause mit der Familie zu Tisch und aß saure Milch, Kartoffeln und Bauernkäse. Als die Leute ihre Abendlitanei hersagten, stand er von der Ofenbank auf und betete, was ihn die Mutter gelehrt hatte:

Abends, wenn ich schlafen geh,
Vierzehn Engel bei mir stehn.
Zwei zu meinen Häupten,
Zwei zu meinen Füßen,
Zwei zu meiner Rechten,
Zwei zu meiner Linken,
Zwei, die mich decken,
Zwei, die mich wecken,
Zwei, die mir weisen
Im Traum das Paradeis.

Ohne es zu wissen, hatte er es laut gesprochen.

Dann sagten ihm alle gute Nacht, Als er schon unter der Thür war, lief ihm ein blondhaariges Mägdlein nach, barfuß, im Hemdchen. Es reichte ihm die Hand und sagte:

Gelobt sei Jesus Christus!

In Ewigkeit. Amen! erwiderte Georg. Und er suchte sein rauhes, aber reinliches Lager auf.


 << zurück weiter >>