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Drei Winter waren ins Land gegangen, und der letzte von ihnen war gerade dabei, durch Rückzugsgefechte seinen Abmarsch zu verdecken. Das Wintersemester fing an, an allen Ecken und Enden aus dem Faden zu gehen, und die berühmte Akademie der Künste sah aus, als ob ihr das Kleid stückweise vom Leibe fallen wollte.
Die Lehrsäle und Ateliers lichteten sich, und selbst die Vorlesungen, deren Zugkraft am größten war, hatten von Stunde zu Stunde einen dünnern Besuch. So konnte es geschehen, daß eines Tages dem Professor ein Gast auffiel, der auf einer der hintersten Bänke Platz genommen hatte und mit der größten Aufmerksamkeit seinem Vortrage über die Geschichte der griechischen Plastik folgte. Er erinnerte sich, daß der Fremde vor der Thür des Hörsaals gestanden hatte, wo die Gäste ihn zu erwarten pflegten, um sich vorzustellen. Diese Zeremonien waren dem Professor unangenehm, und auch diesmal hatte er sich dadurch geholfen, daß er auf die Seite blickend dem Gruße des Fremden ausgewichen und durch die Thür geschlüpft war, ehe der andre seine sieben Worte hatte sagen können. Immer wieder kehrte der Blick des Professors zu dem Gaste zurück, und jetzt mußte er ihn erkannt haben. Eine herzliche Freude leuchtete in seinem Gesichte auf, er hielt einen Augenblick in seinem Vortrag inne, und als er fortfuhr, klang seine Stimme weich und bewegt, sodaß die Zuhörer unwillkürlich aufschauten. Die Augen der beiden Männer hatten sich gefunden und hatten sich gegrüßt.
Als es auf dem Läutewerk zehn Uhr schlug, verließ der Professor den Katheder und schritt durch die Reihen der grüßenden Akademiker. Er ging gradeswegs auf Georg zu, streckte ihm beide Hände entgegen und begrüßte ihn ebenso herzlich wie verbindlich, nicht wie einen Schüler, sondern wie einen Kollegen. Die Studierenden vermuteten in dem gebräunten Manne mit dem lockigen Haar und dem Vollbarte einen namhaften Künstler und traten ehrerbietig auf die Seite.
Als die beiden auf dem Gange waren, sagte der Professor zu Georg: Ich wußte, daß Sie wieder kommen würden! Dann sah er ihn mit scharfem Blick in die Mienen und sagte: Sie sehen anders aus! Er schien mit diesem Befunde zufrieden zu sein.
Während sie langsam die Straße hinschritten, berichtete Georg von seiner Reise und beschloß den kurzen Umriß mit der Mitteilung, daß er den letzten Winter in Paris und Kopenhagen zugebracht habe, daß er jetzt von Berlin und Dresden komme und im Begriffe sei, zu seiner Mutter zu reisen.
Er hatte den Professor bis an dessen Wohnung begleitet und folgte gern der Einladung, mit hinauf zu kommen.
Als sie in das hohe Studierzimmer traten, sah Georg unwillkürlich zuerst nach dem Tische, auf dem sein Modell gestanden hatte; es wurde ihm eigen zu Mute, als er daran dachte, wie er damals mit verwundetem Gemüt, in bitterm Groll, die Trümmer seiner Nausikaa im Arme durch eben diese Thür geschieden war.
Der Professor folgte seinem Blick und erriet Georgs Gedanken. Er sah ihm voll ins Antlitz und fragte:
Sind Sie mir noch böse?
Georg griff nach seiner Hand und erwiderte herzlich:
Sie hatten Recht. Ich bin Ihnen dankbar und ....
Und? ... wiederholte der Professor lächelnd.
Georgs Wangen wurden dunkel, ein heller, freudiger Blick traf den Professor. Aber er schwieg. Es war, als ob er nach dem rechten Ausdruck suchte.
Der Professor nahm ihm das Wort: Und Sie wollen mir zeigen, daß Sie jetzt etwas besseres machen können.
Ja! sagte Georg, und die Blicke der beiden Männer begegneten sich wieder: das ist der Grund, weshalb ich zu Ihnen komme.
Und nun erzählen Sie mir von Ihren Arbeiten und Entwürfen! Aber bevor wir uns gemütlich niedersetzen, und Sie zu erzählen beginnen, müssen Sie mir eine Bitte erfüllen!
Auch ich trage eine solche auf den Lippen.
Also? fragte der Professor.
Als Georg schwieg und ihn fragend anschaute, sagte er: Ich möchte Sie um die Erlaubnis bitten, gerade so aufrichtig und so streng gegen Sie sein zu dürfen, wie ich damals war, als Sie mein Schüler waren.
Das ist es gewesen, worum auch ich Sie bitten wollte! rief Georg.
Der Professor führte seinen Gast in einen traulichen Winkel seines Zimmers; sie setzten sich auf das kleine schwarze Sofa, das dort stand, und Georg erzählte.
Er fing mit dem Geständnis an, daß er eine zähe, schwerflüssige Natur sei. An Einfällen, woraus Entwürfe, an Eindrücken, woraus Bilder werden könnten, fehle es ihm nicht. Aber was ihn einmal gefaßt habe, das halte ihn fest und lasse ihn nicht mehr los, wie ein hartnäckiger Gläubiger. Und wenn es zum ersten, zum zweiten und zum dritten male mißlungen sei, so verbohre er sich nur um so eigensinniger hinein und ruhe lieber ganz, rege lieber Monate hindurch keine Kohle und keinen Meißel an, als daß er sich etwas neuem zuwende. Und wenn er sich auch zehnmal sage, daß es ihm nie gelingen werde, das Bild, das er immer tiefer erkenne, das sich ihm immer bedeutender offenbare, jemals aus seiner Seele hinauszustellen in die Welt, so kehre er doch immer wieder zu dieser qualvollen Sisyphusarbeit zurück, und hundert glückliche Ideen, die währenddem wie von selbst Knospen trieben, gingen darüber zu Grunde. Das sei die Ursache, weshalb er all die Zeit her nicht viel mehr geschaffen habe als Entwürfe, die er wieder habe fallen lassen; er habe an den großen Kunststätten mehr mit dem Auge studiert, als mit der Hand geschaffen.
Der Professor fragte ihn, was das für Entwürfe seien, mit denen er sich jetzt trage.
Den einen kennen Sie, erwiderte Georg.
Nausikaa?
Gewiß.
Und der andre?
Die Braut von Korinth.
Wie Sie zur Thür hereinkommt?
Nein, wie sie sich langsam und groß vom Lager erhebt, und wie, während sie die Mutter ansieht, die lebensaugende Lust allmählich der Todesstarre weicht.
Sind die beiden Ideen Ihre freie Wahl?
Georg schüttelte mit dem Kopfe, und der Professor sah nachdenklich vor sich hin.
Und welche wollen Sie zuerst ausführen?
Das ist es, was ich nicht weiß! rief Georg schmerzlich. Ich wollte das eine Bild festhalten, aber immer wurde es durch das andre verdrängt.
Der Professor lächelte und sagte: Sie wollen zuerst die Nausikaa schaffen, um einem gewissen Menschen zu zeigen, daß er jetzt kein Recht mehr habe, Ihnen das Modell zu zerschlagen.
Georg errötete und schlug die Augen nieder.
Der Professor ergriff seine Hand und fuhr fort: Wir beide wollen solchen Ehrgeiz und solche Triumphe andern überlassen; sie sind Ihrer nicht wert, und sie sind meiner nicht wert. Versündigen Sie sich nicht ein zweites mal an der holden Nausikaa. Sie ist zu liebenswürdig, als daß Sie etwas andres zu ihr ziehen dürfte, als ihr eigner Zauber. Und noch etwas, Georg! Nur dem wird es möglich sein, dies lichte Menschenkind in all seiner würzigen Lieblichkeit zu schauen, wer selber ein heiteres, klares, festes Gemüt hat. So muß der Spiegel sein, der ihr Bild trinken soll. Ich weiß nicht –
Der Professor sah Georg an.
Ist es Ihnen klar, warum sie Ihnen das erste mal mißglücken mußte?
Georg nickte. Ich hatte meine künstlerische Freiheit verloren, als ich mein Schaffen einem Vorsatze dienstbar gemacht hatte, sagte er. Dann ließ er den Kopf sinken und fügte mit leiser Stimme hinzu: denn dieser Vorsatz kam aus einem bösen Gewissen.
Der Professor war aufgestanden und ging im Zimmer hin und wieder. Plötzlich blieb er vor Georg stehen und sagte zu ihm mit fast herber Stimme:
Böses Gewissen? – das schadet uns nichts. Aber Sorgen und Grillen können wir keine brauchen. Fühlen Sie sich frei, Georg, zu unbesorgtem Schaffen? Brauchen Sie Hilfe? Kann ich etwas für Sie thun?
Der Professor hatte wieder Georgs Hand ergriffen und sah ihn mit dringender Freundlichkeit an.
Georg zog seine Hand zurück und sagte: Ich danke Ihnen, nein.
Wohlan! So gehen Sie an die Arbeit und schaffen Sie uns eine Braut von Korinth, vor der es uns graust, hinter deren rührender Schönheit der Vampyr lauert, und deren Blut kocht von der Lust aber nicht vom Leben – kocht ohne Herz. Was Sie in sich tragen an Zwiespalt und Verwirrung, an schmerzlich großen Erinnerungen und – und an bösem Gewissen, das legen Sie hinein! Und vergessen Sie alles andre! Auch die Kunst hat das Recht, zu sagen: Wer Vater oder Mutter, Sohn oder Tochter mehr liebt, denn mich, der ist meiner nicht wert.
Auch Georg war aufgestanden. Das Herz klopfte ihm hoch. Er sah seinem frühern Lehrer in die sprühenden Augen und auf die zuckende Lippe; er griff nach seiner Hand, und ohne zu wissen, was er that, beugte er sich nieder und küßte sie.
Der Professor achtete nicht darauf. Sein Gesicht war bleich geworden, und die schneeweiße Locke, die vorn übergefallen war, sah aus, als ob sie von der Hand des Todes in die Stirn gestrichen wäre. Aber die blauen Augen leuchteten in wunderbarem Glanze.
Georg hatte ihm zum Abschied die Hand gedrückt und stand an der Thür.
Der Professor legte ihm den Arm über die Schulter und sagte:
Frisch ans Werk! Zur Ausstellung müssen Sie fertig sein. Georg, ich will die Freude erleben, daß das Werk meines – das Werk eines Künstlers, der früher mein Schüler gewesen ist, die Welt in Staunen setzt.
Georg stand vor der Thür in der Hausflur und atmete tief auf.
Einige Augenblicke stand er da, dann ward er inne, daß er stand, und fragte sich verwundert, warum er nicht ginge. Da fiel es ihm ein, und er lächelte. Dort neben der Glasthür hatte damals des Professors Tochter gestanden und hatte ihm den verheißungsvollen Gruß mitgegeben: Sie werden es besser machen! Er wartete darauf, daß sie aus einer der Thüren komme. Es war ihm, als müsse er einen Blick aus den schönsten Augen, die er je gesehen hatte, mitnehmen. Aber alles blieb still. In dem Zimmer, aus dem er gekommen war, hörte er den Professor auf und nieder gehen. Was stand er noch hier? Er ging. Aber unwillkürlich trat er in den Winkel, wo sie damals gestanden hatte, als ob er von dort einen Hauch ihrer Gegenwart mitnehmen konnte. Dann ging er die Treppe hinunter und schritt in tiefem Sinnen aus dem Hause.
In seinem Gasthofe fand Georg einen Brief von seiner Mutter. Als er die erste Zeile gelesen hatte, erschrak er, und als er zu Ende war, war er todesbleich geworden. Er starrte auf den Brief, und seine Hand zitterte. Die Mutter schrieb ihm, daß an Martini des letzten Jahres zwei Zinse für die aufgenommnen Pfandschulden fällig gewesen seien, und daß es ihr bis jetzt unmöglich gewesen sei, sie zu bezahlen. Die Darlehnskasse, bei der die Schulden stünden, habe bis jetzt zugewartet und neuerdings noch eine vierzehntägige Frist gegeben. Nachdem nun auch diese abgelaufen sei, habe der Verwaltungsrat in seiner letzten Sitzung beschlossen, beim Gerichte die Zwangsvollstreckung zu beantragen. Von einem Mitgliede des Verwaltungsrates habe sie gehört, daß in der Sitzung hauptsächlich von Georg die Rede gewesen wäre. Ein Teil der Herren hatte gemeint, man solle noch zuwarten, es werde aus Georg doch wohl noch etwas werden, man dürfe die Hoffnung auf den jungen Mann nicht aufgeben. Die andern aber hätten gesagt, er sei ein mißratener Künstler, und das sei die allerschlimmste Sorte von Leuten, aus denen niemals mehr etwas ordentliches werde. Schließlich sei darüber abgestimmt worden, ob Georg verbummelt wäre oder nicht. Mit Mehrheit von zwei Stimmen sei dann festgestellt worden, daß Georg verbummelt wäre, und daraufhin sei der einstimmige Beschluß gefaßt worden, ein gerichtliches Urteil zu erwirken. So werde sie wohl also bald aus dem elterlichen Hause gehen müssen. Und wohin? – Vielleicht ins Armenhaus.
Vielleicht ins Armenhaus! Mit diesen Worten schloß der Brief. Kein weiteres Wort der Klage, kein einziges Wort des Vorwurfs.
Georgs erster Gedanke war: Heim zur Mutter!
Aber was konnte er thun? Was brachte er ihr mit? Nichts. Wenn er mit leeren Händen kam, ohne etwas geleistet zu haben, dann verdoppelte er ja nur ihr Elend! Mit Fingern würde man auf sie und ihren mißratenen Sohn weisen, und die Herren, die gegen ihn gestimmt hatten, konnten sagen: seht ihr, wir haben recht gehabt!
Er warf sich auf das Bett und grub den Kopf in die Kissen. Was sollte er thun? Wenn die Ausstellung eröffnet wurde, mußte sein Werk vollendet sein. Gelang es ihm, dann war wohl der Mutter geholfen. Das war das einzige, was er für sie thun konnte. Aber wie konnte er mit freier Seele schaffen, wenn sein Herz bei der Mutter war, und wenn die fürchterliche Sorge auf ihm lastete? – Sorgen können wir Künstler keine brauchen! Ja, der Professor hatte recht! Er sprang auf und eilte im Zimmer auf und nieder. Dann warf er sich wieder aufs Bett und brach in heiße Thränen aus. Lange weinte er so. Dann wurde er still. Er stand auf und trat ans Fenster. Es kann nicht anders sein! Ich muß dich jetzt vergessen! Nur im Traum darf ich noch an dich denken!
Er schrieb ein paar Zeilen und trug sie auf die Post. Als er zurückgekommen war, nahm er den Brief der Mutter, der auf dem Tische lag, und drückte die Lippen auf den geliebten Namen, wieder und wieder. Es war ihm, als nehme er Abschied, ehe er in ein ander Land ziehe. Thränen fielen auf den Namen, sodaß der selber zu weinen schien und in Thränen zerfloß.
Georg zerknitterte das Papier, legte es auf den Fenstersims und zündete es an. Als die Flamme erloschen und die Asche verglüht war, blies er sie in den Frühlingswind hinaus.
Jetzt an die Arbeit! rief er aus.
Als der Tag verging, hatte Georg alles vorbereitet, um mit dem kommenden Morgenlicht ans Werk zu gehen. Er hatte sich von den Ateliers der Akademie, die während der Ferien leer standen, das günstigste gemietet und einen Block weißen Marmors von seltener Reinheit und Schönheit gekauft. Von dem Reisegeld, das ihm noch übrig war, hatte er so viel zurückgethan, als er für die folgenden Wochen bei den bescheidensten Ansprüchen fürs Leben brauchte, der Rest reichte gerade hin, für den gekauften Marmor die geforderte Anzahlung zu machen.
Das war nun alles abgethan, Georg warf sich mit den Kleidern auf das Bett und verbrachte eine unruhige Nacht. Lange vor Tag wachte er auf und ging nun den Rest der Nacht ruhelos im Zimmer auf und nieder. Er hatte von seiner Mutter geträumt, und jetzt dachte er an seine Arbeit. Er rang mit den Schatten, die ihn besuchten. Er hielt sie fest, wenn sie fliehen wollten, und zwang sie zu bleiben, Auge in Auge. Und wenn sie ihn übermannen wollten, dann kämpfte er mit ihnen Brust an Brust, bis er sie überwältigt hatte und sie ihm bekannten: wir sind dein eigen, und du bist unser Herr.
Als die graue Dämmerung zum Fenster herein schaute, löschte er die Lampe, verließ das Haus und eilte durch die hallende Straße nach dem Atelier.
Und als er dann in den großen, schweigenden Raum trat, in den die Mitternacht geflohen zu sein schien, denn es war hier finster, und der Marmorblock gab einen gespenstischen Schein, da ward er von der Größe seiner Aufgabe überwältigt.
Er sank auf die Kniee und griff mit den Armen empor in die grauschwarze Höhe und griff nach etwas Unendlichem, Übermenschlichem, es herabzuziehen an sein Herz. Er wußte nicht, ob er betete, ob er träumte, ob er mit seiner Stimme schrie oder nur mit seinem Herzen. Es war ihm, als ob es um ihn rausche und herniederflute, und als müsse er demütig stille halten und schweigen mit allen Sinnen, damit der Segen ihn weihe.
Als er aufstand, schaute das bleiche, kühle Morgenlicht zum Fenster herein. In Gottes Namen! rief er fröhlich, und mit hochgemuter Seele ging er ans Werk.