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Am andern Morgen kam Georg später als gewöhnlich zur Arbeit. Ein stilles Glück leuchtete aus seinen Augen. Der Meister sah ihn zuweilen lächelnd an. Die Kur war geglückt.
Georg dachte an den gestrigen Tag, und immer wieder strömte durch sein Herz die süße Wonne, die er empfunden hatte, als er friedvoll und wunschlos in der finstern Laube die Geliebte umschlungen hielt. Aber dann trat auf einmal die Gestalt der schönen Müllerin vor seine Augen, wie sie im Abendsonnenglanze an dem Heckenpförtlein gestanden und ihm den lockenden Gruß herübergerufen hatte. Er suchte sie zu verscheuchen, aber er ward sie nicht los, so innig er auch an Luise dachte, und schließlich gab er den Kampf auf; wahrend er einem Engel des Trostes die letzte Vollendung gab, sah er dies Bild unverrückt in klarer, strahlender Schönheit vor seinem Auge stehen.
So arbeitete er lange; dann trat er einmal zurück, um zu prüfen, was er fertig gebracht hätte. Er hatte sich mit dem Mund und mit den Augen beschäftigt, war aber ganz in Gedanken verloren gewesen bei seiner Arbeit. Aber wie erschrak er, als er nun sein Werk betrachtete! Das war nicht der Engel des Trostes, dessen Züge er im Schlaf hätte meißeln können! Die Augen waren weit geöffnet und grüßten voll lockenden Übermutes in die Ferne. Auf den schwellenden, üppigen Lippen lagen Kraft und Sinnlichkeit und großherzige Laune. Das war keine Gestalt aus Himmelshöhen, es war ein sündhaftes Menschenkind voller Erdenlust, und sein Holdrio! gellte wie eine Lästerung durch die frommen Gespräche der himmlischen Gesellschaft rings in der Werkstatt.
Wie kommst denn du hierher? fragte Georg. Dann aber fanden sein Auge und sein Herz Freude an dem Gesicht, er fing wieder an zu meißeln und nahm all seine Kunst zusammen. Vor seiner Seele stand klar und deutlich das schöne Müllerskind, und in voller Lust vollendete er die Arbeit. Als er endlich den Meißel weglegte und von der Fensternische aus sein Werk betrachtete, war er zufrieden. Das Antlitz trug den Ausdruck quellender Erdenlust in solch berückender Wahrhaftigkeit, daß er beim Anschauen von einem Schauer durchrieselt wurde. Da mußte er plötzlich an Luise denken, er wußte nicht, wie es kam. Er fühlte ihre Wange an der seinen und hielt ihre Hände fest, und über sein Gemüt kam es wie eine leise zudeckende Wolke; es ward Ruhe, wohin ihr Schatten fiel. Aber dabei zitterte doch sein Herz in heimlicher Angst. Es war ihm, als ob in der Tiefe seiner Brust etwas sei, wovor seine Gedanken schaudern müßten, und als ob er nie ein glücklicher Mensch sein könnte, bis das Verborgne, Unbekannte heilvoll oder vernichtend aus dem dunkeln Schoß emporgestiegen sei. Die Erregung ging vorüber, und eine tiefe Traurigkeit lastete auf seiner Seele.
Georg! rief ihm sein Meister zu. Es ist Essenszeit.
Sonst hatte er ihm dies so fröhlich zugerufen. Heute klang es matt und traurig. Sie gingen mit einander die Stiege hinauf.
Ob er wohl gesehen hat, was ich angestellt habe? fragte sich Georg, und er sah seinen Meister forschend von der Seite an.
Der Meister aber war still über Tisch. Es gab eine von seinen Lieblingsspeisen, jedoch er schob den Teller zurück und wollte nichts essen. Margarethe jammerte, Petermann sei krank geworden, und sie wollte zum Arzte laufen. Aber Petermann wehrte ab und sagte: Mir kann kein Doktor helfen. Dabei machte er ein so gramvolles Gesicht, daß Georg das Gewissen schlug, und daß er seinen Meißel verwünschte.
Nach dem Essen gingen sie wieder in die Werkstatt hinunter. Georg machte sich an einen neuen Stein und sah immer wieder nach seinem Meister hinüber. Der stand da vor seiner Arbeit und ließ die Arme hängen, wie unter der Last des schwersten Unglücks, und jetzt rollten Thränen über seine Wange.
Da konnte es Georg nicht mehr aushalten. Er trat an das Weltkind heran, setzte den Meißel über die Lippen, ein kräftiger Schlag mit dem Hammer, und der holde Reiz sprang auseinander. Dann setzte er den Meißel an das rechte Auge, ein Schlag, und eine unförmliche Höhlung klaffte im Gesicht, ein neuer Schlag, und die Stirne samt der Braue fiel über das linke Auge hinunter.
Es war Georg, als ginge dabei ein aufgeregtes Geschwirr durch all das himmlische Gefieder, das ihn in der Werkstatt umstand. Jetzt war es ruhig. Die sündhaften Augen waren blind, der Lästermund war verstummt. Unserm Freunde aber zog sich das Herz zusammen vor Weh. Er entsetzte sich, als hätte er ein Verbrechen begangen, und das verstümmelte Antlitz erfüllte ihn mit Schauder, als sei es Abels Antlitz, und er Kain, der Mörder. Sein Meißel fiel klirrend auf den Boden, der Hammer wurde in den Winkel geschlendert, daß er hoch aufsprang, Georg selbst aber sank auf einen Schemel und verbarg sein Gesicht in den Händen; er zitterte wie im Fieberschauer. Der alte Petermann aber kniete vor ihm, schlang die Arme um seinen Leib und küßte ihn auf die Wange.
Du guter Junge! du guter Junge! rief er. Gott soll dir lohnen, was du deinem Meister thust. Ich bin ein alter, blöder Werkstattsmann – ein dummer, steifer Pedant! Aber so bin ich, ich komm in keinen andern Tritt mehr hinein, und wenn der Gaul neben mir nicht gleichen Schritt hält – ich glaube, mein armer Verstand würde verrückt. Lockt es dich, ein Künstler zu sein, dann gehe in Gottes Namen! Willst du aber bei mir bleiben, dann – gelt, Georg? – dann thust du mir solches nicht wieder an?
Niemals! versprach Georg. Er stand auf. Seid so gut, Meister, sagte er traurig, und verhängt das Ding dort. Ich kann es nimmer sehen.
Petermann warf ein Packtuch über den verstümmelten Körper. Georg reckte seine Glieder, als ob er aus einem Traum erwache. Ich kann heute nichts mehr arbeiten, sagte er. Erlaubt mir, Meister, daß ich gehe.
Grüße Luise von mir, erwiderte der Steinmetz. Sie wird dich wieder froh und gesund machen.
Georg schlug den Weg zum Hause des Bürgermeisters ein. Er sehnte sich darnach, Luisens Hände zu halten und stille zu werden an ihrer Brust.
Im Hofe traf er die Magd und hörte von ihr, daß der Herr aufs Feld gefahren sei, die Frau ihr Mittagsschläfchen halte; Luise aber sei im Hause. Er suchte sie im Wohnzimmer, in der Küche, in der Speisekammer – vergeblich. Von der Speisekammer führte eine Thür in das Lädchen. Die Thür war halb offen, und Georg konnte in den kleinen Raum sehen. Es standen fünf oder sechs Frauen und Kinder darin. Hinter dem Ladentisch war Luise; Georg konnte sie nicht sehen, aber er hörte ihre Stimme.
Haben Sie heute schon wieder große Wäsche?
Nein, heute nur Kindswäsche, war die Antwort.
Man hörte das Geräusch einer aufgezognen Schublade; dann ward es stille. Wenn Georg den Kopf ein wenig vorgebeugt hätte, hätte er Luise von der Seite sehen können. Aber er fürchtete sich, es zu thun. Er wußte, daß sie jetzt Seife abwog, und es bangte ihm davor, in ihrem Gesicht den profitlichen Zug zu finden, ohne den er sich die Mutter beim Geschäft des Abwägens nicht vorstellen konnte.
Leise ging er aus der Vorratskammer in die Küche zurück und von hier in den Hausgang, Er wollte in den Garten hinaufgehen und droben unter dem Holunderbaum Luise erwarten.
Wie er nun unter den Obstbäumen hinschritt auf die Laube zu, war es ihm, als ob jemand an seiner Seite ginge und sagte: Hier kommt die Villa hin.
War es nicht Luise, die da neben ihm her schritt? Er sah halb zu ihr hinüber und dachte bei sich: Die ausgeschlüpfte Mutter!
Er stand vor der Laube und die unsichtbare Gestalt neben ihm.
Kommt hier die Villa auch hin? fragte er.
Natürlich.
Der Holunderbaum kommt also weg. Und der Birnbaum dort?
Dort kommt die Villa auch hin.
O wie schade!
Georg war zu dem Pförtchen hinausgegangen und schritt in Gedanken den Pfad hin, der nach dem Gipfel des Hügels und weiterhin zum Walde führte.
Die Gestalt war mit ihm gegangen bis an die Gartenthür. Hier blieb sie stehen, und ohne Gruß trat Georg hinaus. Er sah sich nicht um, als er den Hügel hinanschritt, aber vor seinen Augen stand die Gestalt, von der er geschieden war. Er sah sie, wie sie den Gartenpfad hinunterschritt und die Falten ihres Schurzes glättete. Gerade wie die Mutter, sagte sich Georg.
Als er eine Strecke emporgestiegen war, blieb er stehen und fragte sich, was er denn eigentlich wolle, wohin er laufe. Es war seine Hoffnung gewesen, bei Luise Frieden zu finden. Jetzt stand sie hinter dem Ladentisch und wog Seife ab, oder sie stieg den Garten hinauf und dachte an die Villa. So wollte er wiederkommen, nach einer Weile, wann die Mutter aufgewacht war und den Laden wieder besorgte, oder lieber später, wann es finster geworden war und man nimmer sehen konnte, welche Bäume weg mußten, um dem Neubau Platz zu machen.
Er verließ den Pfad und ging über die Stoppelfelder hin dem Walde zu, an den Weinbergen vorbei, und erst als er unter den hohen Föhren, die am Waldbrande wuchsen, angelangt war, hemmte er den eilenden Gang und schritt nun langsam durch das rauschende Laub in den Wald hinunter. Feuchtkalter Nebel kam aus der Tiefe, in die er hinabstieg. Still lösten sich die Blätter von den Zweigen und fielen leise zur Erde nieder. Wenn er stehen blieb, war es ihm, als hörte er es rings um sich schallen wie die gespenstischen Tritte eines ziehenden Geisterheeres, und obgleich kein Wind sich regte, meinte er doch einen Zug in der Luft zu fühlen; und wenn er dahinschritt, war es ihm, als ob er von andern, die ihn unsichtbar umdrängten, dahingerissen würde, hinaus und hinab. Er ging immer schneller, die Bäume schwanden an ihm vorbei, und wenn er zurückschaute, schienen sich ihre grauen Stämme aufzulösen im Duft und ihre dunkeln Kronen davon zu schwimmen oder in die Höhe zu entschweben, um dem gespenstigen Zuge zu folgen in die Ferne hinaus.
Jetzt hatte er die Bäume hinter sich; nachdem er durch niederes Gebüsch gedrungen war, dessen feuchtkalte Blätter ihm Hand und Wange streiften, stand er auf dem Waldpfade, der über dem Mühlbache hin ins Wiesenthal hinaus führte.
Es war auch hier schattig, denn die gegenüberliegende dicht verwachsene Buschwand hielt die Sonnenstrahlen ab. Der Boden war mit Moos bewachsen, und die Tritte gaben keinen Laut. Neben ihm rauschte das Wasser des Mühlbachs.
Georg ging langsam den dunkeln Pfad hin, dem Wasser entgegen. Schon war er dem Ausgange nah und sah das leuchtende Wiesenthal vor sich liegen, da tönte es von jenseits des Baches zu ihm herüber: Holdrio!
Er zuckte zusammen. Das war es ja, was in der Tiefe seiner Seele klang, und wovor alle seine stillen Gedanken in Angst zitterten. Er glaubte zuerst, die Stimme seiner eignen Brust vernommen zu haben. Aber Holdrio! klang es wieder, und nun sah er drüben über dem Bache Gertraud stehen. Sie war barhäuptig. Die blutige Narbe an ihrer Stirn gab ihrem Antlitz etwas Wildes.
Sie standen sich gegenüber und sahen sich an.
Was thust du hier? fragte er sie.
Ich halte Wäsche.
Die hieltest du zu Hause bequemer.
Ich bin wie du, ich schweife gerne im Walde umher.
Wo hast du denn deine Wäsche?
Es sind nur zwei Stücklein, sagte sie und wies neben sich auf den Busch. Zwei kleine weiße Tücher hingen daran.
Du kommst mir gerade recht! sagte sie. Fang auf!
Sie hatte das kleinere der beiden Tücher zusammengeballt und ihm zugeworfen. Aber gerade über dem Bach entfaltete es sich und sank nieder. Die rauschende Flut nahm es auf und trug es lustig dahin.
Laß es schwimmen, sagte sie gleichmütig. Dies hier ist das deinige. Mit dem darf es nicht so gehen.
Wickle einen Stein hinein und wirf es mir zu.
Dann würde ich auf dich zielen und dich sicherlich treffen. Und das thut nicht wohl.
Sie legte die Hand auf die Wunde.
So behalte es!
Ich hatte es lange genug, die letzte Nacht lag es auf meinem Herzen.
So machs mit ihm wieder so! erwiderte er mit bebender Stimme.
Aus ihren dunkeln Augen schoß ein Blitz.
O nein! sagte sie leise, aber du, du mußt es so machen.
Sie war einige Schritte zurückgetreten, und wie ein Sturmwind flog sie über den Bach. Er sah, wie sie auf seinem Ufer aufsprang, aber sie glitt an dem steilen Boden hinab ins Wasser hinein. Er reichte ihr bestürzt die Hand und zog sie zu sich herauf.
Pah, was schadet das! Ich bin ja doch eine halbe Nixe.
Sie schüttelte ihren Rock, daß das Wasser von ihr sprühte. Dann faltete sie das Tüchlein auseinander und sagte: Siehe, man sieht den Flecken noch. Wenn es auch aus dem Kopfe floß, es war doch mein Herzblut.
Er nahm ihr verwirrt das Tuch aus der Hand und steckte es in seine Brusttasche.
Sie sah ihm zu, und ein Lächeln der Befriedigung lag auf ihren Lippen.
Meine Füße sind naß und kalt. Weißt du, wie sie wieder trocken werden? Wir wollen tanzen, tanzen wie vorgestern.
Mir ist es nicht ums Tanzen zu Mute.
So wollen wir laufen. Ich voran, und du fängst mich.
Und wie der springende Wind lief sie den Waldpfad hin.
Georg ging ihr langsam nach.
Sie flog dahin, so weit das Auge reichte, dann wandte sie sich um, und wie ein wilder Wind kam sie ihm entgegen. Ihre Wangen brannten, und die Wunde glühte dunkel wie von quellendem Blut.
Sie stand vor ihm mit wogender Brust und sprühenden Augen.
Nun ist mir heiß von den Füßen bis zum Herzen. Ob du mich wohl jetzt fangen kannst?
Da breitete er die Arme aus, und sie warf sich an seine Brust.
Sie atmete so tief, daß ihr Leib zitterte, und ihr Kopf sank matt in den Nacken zurück.
Seiner selbst nicht mehr mächtig sank er in die Kniee und zog sie zu sich nieder. Da troff dunkles Blut auf seine Wange.
Du blutest! rief er erschrocken.
Wäre es dein Blut, so tränke ichs, hauchte sie leise. Deinetwegen trag ich die Wunde. Du mußt sie mir heilen.
Was soll ich thun?
Küsse sie!
Und er küßte die hervorquellenden Blutstropfen weg. Dann sah er nieder in ihr schimmerndes Auge, und ein unendliches Mitleid ergriff seine Seele. Er gedachte seiner letzten Meißelschläge, und es schauderte ihn.
Ich habe an dir gefrevelt! flüsterte er und küßte ihre Augen, Da sah er nieder auf ihren schwellenden, zuckenden Mund.
Ich hab an dir gefrevelt, Vergieb mir! hauchte er, und sein Mund begegnete ihren wild küssenden Lippen.
Aber mit einemale ward sie kalt und starr in seinen Armen. Es war ihm, als wehe ein feuchter, kühler Hauch von ihr; die Wunde hatte aufgehört zu bluten, und ihr Gesicht war todesblaß.
Was ist dir? fragte er erschrocken.
Geh jetzt, sagte sie leise. Es zerspringt mir sonst das Herz. Aber komm wieder. Und sie flüsterte ihm ins Ohr: Heute Nacht!
Er wußte nicht, wohin er lief. Der Abend dämmerte, als er hoch oben über dem Städtlein aus dem Walde trat. Lange saß er dort auf einer Bank. Das Herz hämmerte in seiner Brust zum Zerspringen, und er hätte aufschreien mögen vor Qual.
Es wurde Nacht, und die Sterne blitzten auf. Und noch immer saß er da. Wenn ein Wagen des Feldweges einherkam, oder ein verspäteter Knecht, die Hacke auf der Schulter, trat er in den Schatten des Waldes zurück.
Stunde um Stunde verrann. Auf dem Kirchturm des Städtleins schlug es zehn Uhr. Der zitternde Ton der Glocke that ihm wohl wie die Stimme eines mitfühlenden Freundes. Und als jetzt die schmale Sichel des Mondes aus den Wolken trat und sein bleiches Licht sich über das Thal ergoß, da löste sich mit einemmale seine Seele in bittere Thränen.
Lange weinte er. Der Mond war hinter dem Berge verschwunden, als der Sturm in seinem Innern vorüber war. Er stand auf und schritt den Hügel hinab. Jetzt sah er die Bäume, den Holunderstrauch, den dunkeln Zaun von Bürgermeisters Garten. An dem Pförtlein stand eine Frauengestalt. Georg wich zur Seite und preßte die Hand aufs Herz.
Mitternacht war vorüber, als er daheim ankam. Er warf sich mit den Kleidern auf sein Bett und fiel rasch in einen tiefen Schlummer. Als der Tag graute, erwachte er. Es war vier Uhr. Er sprang auf und sah zum Fenster hinaus. Es giebt einen schönen Tag! sagte er zu sich selbst, und ein Lächeln froher Hoffnung lag auf seinen Lippen. Im Nu hatte er sein Felleisen gepackt. Er warf es über die Schulter, nahm Stock und Hut und verließ leise das Zimmer. Vor der nächsten Thür stand er still und lauschte, dann öffnete er sie behutsam. Sein Meister lag in tiefem Schlummer. Die rechte Hand lag auf der Bettdecke. Georg neigte sich nieder und küßte sie. Da schlug der Alte die Augen auf und sah Georg an. Der fromme, treue Blick der guten blauen Augen war wie ein Himmelsgruß.
Lebt wohl! flüsterte Georg. Der Meister sah ihn an mit einem Blick voll unaussprechlicher Liebe, und seine Augen schlossen sich wieder.
Auf den Zehen schlich Georg hinaus und drückte die Thür leise hinter sich zu.
Der Kammerthür, hinter der Margarethe schlief, nickte er freundlich zu, dann eilte er die Treppe hinab und hinaus in den Hof.
Als er an der Werkstatt vorüber kam, sah er zur Seite. Er dachte an den zertrümmerten Frauenkopf, und ein leiser Schauder durchfröstelte ihn.
Er that noch einen Trunk am rauschenden Brunnen, und dann eilte er ohne zurückzuschauen zum Thore hinaus.
Der bleiche Morgen hatte sein nüchternes Licht über das Städtlein gebreitet. Georgs Schritte hallten durch die Straßen.
Leb wohl, alter Freund und Gönner! sagte er, als er an dem Fenster des Kunstschlossers vorüber schritt. Er pochte an den Laden, sodaß der Spitz drinnen laut anschlug; er hörte das kläffende Bellen hinter sich, bis er in eine andre Straße bog.
Jetzt kam er an des Bürgermeisters Haus. Er blieb stehen und sah zu Luisens Fenster empor. Die Levkoyen und Geranien sahen so bleich aus, als ob sie die Nacht durchweint hätten. Sein Herz zog sich zusammen, und er lief in übermächtiger Bewegung auf die Thür zu, küßte und küßte die eiserne Thürklinke und benetzte sie mit seinen Thränen.
Dann ging er weiter, mit zuckendem Munde und feuchtem Auge. Er kam auf den Marktplatz und sah zu dem steinernen Frauenkopf empor. In der Laterne brannte noch die Flamme, und ihr bleicher Schein lag im kalten Zwielicht des Morgens unheimlich auf dem steinernen Antlitz; es sah aus wie das Antlitz einer Gestorbnen. Lebewohl! rief Georg hinauf. Kalt blickte das Auge, und die schönen Lippen schienen hohnvoll verzogen.
Einen freundlichen Blick! Wir sehen uns vielleicht nimmermehr! flüsterte Georg hinauf. Aber die Todesstarre wich nicht aus dem Angesicht, und die Lippen blieben in ihrer ausdrucksvollen Ruhe, als ob ein Hohnwort der letzte Gruß der Gestorbnen gewesen wäre.
Das Herz wurde Georg schwer, als er sich zum Weitergehen anschickte. Aber jetzt war er draußen vor der Stadt. Der bleiche Himmel ward blau, das strahlende Licht wogte heran, es war, als höre man es rauschen. Lustig klangen die Tritte des Wandrers auf der harten Landstraße. Die Nachtnebel lagen überwunden, zerrissen auf der Wiese. Und jetzt ging die goldne Sonne auf, und durch die Schöpfung strömte die Fülle ihres Lichts. Tag! Freiheit! Hoffnung! sang es Georg im Herzen; lauter lichte, gute Klänge. Und wenn auch sein Herz noch leise weinte: soweit die Morgensonne strahlte, waren aus allen Thränen funkelnde Tautropfen geworden.
Hochaufgerichtet ging Georg an der Mühle vorbei, langsamen Schrittes, mit freier Stirn und ruhigem Blick. Der Morgenwind spielte in seinem Haar.
Da that sich ein Kammerfenster auf, und Michel! Michel! rief es herüber.
Gertrauds Stimme war es nicht. Es mochte der Mahlbursche gewesen sein.