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Süß ist's, die Not anderer auf sturmgepeitschtem Meer vom hohen Ufer mit anzusehen (nicht, als könnte man sich am Unglück anderer ergötzen, sondern weil man sieht, von welcher Bedrängnis man selber frei ist); süß ist's auch, die gewaltigen Kämpfe des Krieges in der geordneten Schlacht zu schauen, wenn man vor eigenen Gefahren gesichert ist: aber süßer ist nichts, als in den wohlgegründeten heiteren Tempeln zu wohnen, erbaut durch die Lehren der Weisen, von denen aus man hinabsehen kann auf andere, wie sie im Irrtum sich abmühen, streiten um Geist und Witz, um Ansehen und Würde und Reichtum, Tag und Nacht arbeitend mit niemals rastendem Streben. O ihr dreimal Verblendeten, in welcher Finsternis verbringt ihr das Leben, diesen Moment! Liegt es nicht vor Augen, daß die Natur nichts heißer fordert, als daß wir uns frei machen von Schmerzen, von Furcht und jeglicher Sorge, und in heiterer Ruhe uns geistige Genüsse verschaffen?
In diesen Worten schildert Lukrez das Ideal des Epikureers: frei von Schmerz und Furcht, frei von den gewöhnlichen Sorgen der Menge, ein Leben in ruhiger Freude, das ist ihm die höchste Glückseligkeit. Wir haben gesehen, wie sie dieses Ideal in ihren Göttern gemalt haben. Wenn Schmerz und Furcht aus der Seele entfernt sind, dann ist der Winter der Seele gelöst, und der Frühling der Lust nimmt von ihr Besitz.
Die Lust ist für Epikur das höchste Gut, das Endziel des Weisen; der Schmerz das einzige unbedingte Übel, dem zu entgehen ist. Wie in seiner Erkenntnistheorie, so macht Epikur auch hier die Wahrnehmung zum Kriterium des höchsten Gutes; die Überzeugung, daß dies in der Lust zu suchen sei, beruhe auf unmittelbarer Erfahrung: von Geburt an, noch ungeleitet von der Vernunft, begehre jedes Wesen die Lust als höchstes Gut und fliehe den Schmerz als größtes Übel; in allem Tun und Lassen all und jeder Kreatur offenbare sich die Wahrheit dieses Satzes.
Was ist mit dieser Lust gemeint? Cicero übersetzt sich das griechische hēdonē mit voluptas und begreift darunter eine Fröhlichkeit in der Seele und eine sanfte Erregung des Angenehmen im Körper. Damit wird er aber Epikur nicht ganz gerecht; dieser vielmehr findet das eigentliche Wesen der Lust in der Schmerzlosigkeit, in der Freiheit von Übeln, in der stillen Ruhe der Seele, in der Ataraxie, wie sein Kunstwort heißt. Eine positive Lust ist nur dann zur Glückseligkeit nötig und entsteht nur dann, wenn die Unlust eines unbefriedigten Bedürfnisses gehoben wird, wenn wir über das Nichtvorhandensein der Lust im eigentlichsten und höchsten Sinn, der Lust der vollkommenen Seelenruhe, bekümmert sind. Wenn wir nicht durch eine Unlust beunruhigt sind, so bedarf es auch keiner positiven (bewegten) Lust.
Sollte Nietzsche mit seinem feinen psychologischen Spürsinn recht haben, wenn er ausruft (Fröhliche Wissenschaft, S. 81): »Ich bin stolz darauf, den Charakter Epikurs anders zu empfinden, als irgend jemand vielleicht, und bei allem, was ich von ihm höre und lese, das Glück des Nachmittags des Altertums zu genießen: ich sehe sein Auge auf ein weites weißliches Meer blicken, über Uferfelsen hin, auf denen die Sonne liegt, während großes und kleines Getier in ihrem Lichte spielt, sicher und ruhig wie dies Licht und jenes Auge selber. Solch ein Glück hat nur ein fortwährend Leidender erfinden können, das Glück eines Auges, vor dem das Meer des Daseins stille geworden ist, und das nun an seiner Oberfläche und an dieser bunten, zarten, schaudernden Meeres- Haut sich nicht mehr satt sehen kann: es gab nie zuvor eine solche Bescheidenheit der Wollust.«
Die ursprünglichste Lust und die Grundlage aller Lustgefühle ist nach Epikur die körperliche Lust, die Lust der Sinne. Er wüßte sich die Lust nicht zu denken, wenn er von allen Genüssen der Sinne absehen solle, schreibt Epikur; und sein Jünger Metrodor drückt sich noch schärfer aus: »Jedes Wertes Anfang und Wurzel ist die Lust des Bauches; all das weisheitsvolle und überspannte Zeug läuft am Ende auf sie hinaus«. Er hat sicher mehr Recht mit seiner Behauptung als die »Idealisten« (besser als Phantasten bezeichnet, da ihr Idealismus nicht auf realistischen Boden gegründet ist) Wort haben wollen. Und wird denn Blüte und Frucht weniger schön, weniger wertvoll, wenn Anfang und Wurzel ihrer Schönheit und ihres Wertes im Erdreich sich verzweigen? –
Die Betonung auch der sinnlichen Lust war es vor allem, die dazu benutzt wurde, Epikur und die Seinen in den schlechten Ruf zu bringen, der dem Namen Epikureer heute noch anhängt. Ganz mit Unrecht; denn Epikur blieb keineswegs bei der körperlichen Lust als höchstem Gut stehen, wie es vor ihm Aristipp getan hatte; höher stand ihm die geistige Lust, die, wie wir sahen, letzten Endes als Ataraxie gefaßt wird.
Wenn wir erklären, schreibt Epikur in seinem Brief an Menoekeus, die Lust ist das höchste Gut, so meinen wir damit nicht die Lüste der Schwelger und überhaupt nicht den sinnlichen Genuß, wie einige, die uns widrig gesinnt sind oder uns mißverstehen, glauben, sondern dies, daß der Körper von Schmerzen und die Seele von Unruhe frei sei. Nicht Trinkgelage und Schmausereien, nicht die Wollust an Knaben und Weibern, nicht die Freuden einer kostbaren Tafel erzeugen ein angenehmes Leben, sondern die nüchterne Vernunft, welche die Ursachen unseres Tuns und Lassens erforscht und die Vorurteile vernichtet, von denen die Seele beunruhigt wird. Dazu gehört aber vor allem Einsicht; aus ihr entspringen alle übrigen Tugenden. Ja, Epikur hält es für besser, auf eine vernünftige Art unglücklich als auf eine unvernünftige Art glücklich zu sein. Ein kleines Glück mag einem zufallen; das größte und vornehmste aber muß die Vernunft sich selbst erwerben und bewahren.
Die Hauptsache ist also keineswegs der körperliche Zustand, sondern die Beschaffenheit der Seele. Wenn die Kyrenaiker behaupteten: die körperlichen Schmerzen sind ärger als die der Seele, so entgegnet Epikur: Mit Nichten. Der Körper leidet nur von gegenwärtigen Übeln, die Seele aber von den gegenwärtigen, vergangenen und zukünftigen zugleich, und in demselben Verhältnis stehen die geistigen Genüsse zu den sinnlichen, überdies kommt die Sinnenlust – die »Lust des Fleisches« nennt sie Epikur – in einem Leben von begrenzter Dauer nie zum Abschluß; nur die Vernunft vermag ein in sich vollendetes Leben zu führen, welches der unbegrenzten Zeitdauer nicht bedarf.
Wenn aber auch die Lust als das erstrebenswerteste Ziel aller menschlichen Überlegung und Tätigkeit betrachtet wird, so wählt der Epikureer doch nicht blindlings jede sich ihm darbietende Lust. Jede Lust ohne Unterschied ist etwas Naturgemäßes, und jeder Schmerz etwas Übles, aber unser Verhalten muß sich auf eine vernünftige Abwägung gründen, die auch die Folgen mit in Rechnung zieht. Es kann der Fall eintreten, daß eine Lust nur durch Verzicht auf eine andere, oder nur mit Schmerzen zu erkaufen ist, wie umgekehrt, daß einem Schmerz nur durch Übernahme eines anderen oder durch Verzicht auf eine Lust ausgewichen werden kann. Das Ganze ist zu überschauen, und ein Streben nur bei einem Überschuß von Lust, ein Meiden aber bei einem Überschuß von Unlust sich zu gestatten. In der rechten Abwägung betätigt sich die Einsicht, die Epikur über alles schätzt.
Auf dieses Prinzip gestützt, empfiehlt Epikur ganz besonders die Genügsamkeit und Mäßigkeit, die Gewöhnung an eine einfache Lebensweise, die Vermeidung von kostspieligen und schwelgerischen Genüssen oder doch die seltene Hingabe an dieselben, damit die Gesundheit bewahrt und der Reiz des Genusses immer frisch bleibe. Willst du, so schreibt er an seinen Schüler Idomeneus, willst du den Pythokles reich machen, so mußt du nicht sein Geld vermehren, sondern seine Begierden vermindern.
Überdies ist alles, was wir bedürfen, einfach, und zur Freiheit von Schmerzen ist nur weniges nötig; alles übrige ist entweder natürlich, aber nicht notwendig, wie das, was nur Abwechslung schafft, Unlust aber nicht beseitigt, z.+B. köstliche Speisen, oder es ist weder natürlich noch notwendig und sein Wert beruht auf bloßer Einbildung, so z.+B. Kränze, im Wettlauf, oder Statuen, im Staatsdienst erworben.
Alles, was die Natur bedarf, ist aber leicht zu beschaffen, wie umgekehrt das, was nichtig ist, nur schwer beschafft werden kann.
In seinen köstlichen Briefen an Lucilius schreibt Seneca: Wenn jemand seine Zuflucht zu Epikur nehmen wollte in dem Glauben, bei ihm einen Deckmantel für seine Laster zu suchen, so wird er sich arg getäuscht finden. Tretet heran, und lest die Inschrift an seinem Garten: »Fremdling, hier ist gut sein; hier ist die Lust das höchste Gut.« Bereit steht der gastfreundliche und liebenswürdige Hüter dieses Wohnsitzes und – wird dich mit Gerstengraupen bewirten, auch Wasser in reichlicher Menge kredenzen und fragen: Nun, bist du gut ausgenommen worden? Diese Gärten reizen nicht den Hunger, sondern sie stillen ihn; sie erregen nicht durch das Trinken selbst noch größeren Durst, sondern löschen ihn durch ein natürliches Mittel, das obendrein den Vorzug hat, nichts zu kosten. Bei diesem Vergnügen bin ich ein Greis geworden. –
Hatten die übrigen Philosophen und vor allem die Stoiker als das Höchste die Tugend bezeichnet, so hält Epikur die Tugend nur für ein Mittel, das höchste Gut, eben die Lust, zu erreichen. Wenn eure vortrefflichen und schönen Tugenden, so sagt der Epikureer bei Cicero, zu keiner Lust führten, so würde sie sicherlich niemand für etwas Löbliches und Begehrenswertes halten. Auch die Kunst des Arztes schätzt man nicht um ihrer selbst willen, sondern weil sie Gesundheit schafft, und die Kunst des Steuermanns wird nicht als solche, sondern wegen ihres Nutzens für die Schiffahrt gepriesen. So würde auch die Weisheit, die nur als Lebenskunst aufzufassen ist, nicht begehrt werden, wenn sie nichts bewirkte; man verlangt nach ihr nur, weil sie gleichsam der Werkmeister ist, der die Lust beschafft und bereitet. Aus demselben Grunde, nicht etwa um ihrer selbst willen, wird die Tugend der Weisheit gesucht, die der Mäßigkeit geübt, oder die der Tapferkeit und Tätigkeit, ebenso die der Gerechtigkeit, der vier Kardinaltugenden des Altertums.
Die Mäßigkeit: denn sie ist es, welche unser Tun und Lassen der Vernunft unterstellt und die Lust so genießen läßt, daß kein Schmerz daraus entsteht.
Die Tapferkeit und Tätigkeit: denn weder die Verrichtung einer Arbeit noch das Erleiden eines Schmerzes lockt an und für sich, auch nicht die Geduld, die Emsigkeit, das Nachtwachen, der vielgerühmte Fleiß; man übt vielmehr diese schönen Tugenden nur, damit man ohne Sorgen und Furcht leben kann und Seele und Leib nach Möglichkeit vor Ungemach bewahrt.
Die Gerechtigkeit: denn die Unredlichkeit peinigt die Seele durch ihre bloße Gegenwart; wenn sie etwas unternimmt, kann sie trotz aller Heimlichkeit doch nicht sicher sein, daß es immer verborgen bleibt: in der Regel folgt den Handlungen des Unredlichen zunächst der Verdacht, dann erhebt sich Gerücht und Gerede, dann der Ankläger und zuletzt der Richter. Schon dem ungeschickten und schwachen Menschen nützt sein Unrechttun nichts, da er seine Pläne nicht leicht auszuführen vermag und das eventuell Erreichte nicht festzuhalten vermag; aber auch die Macht an Geist und Vermögen paßt besser zu einem edlen Sinn, denn dadurch erlangt man das Wohlwollen der Menschen und ihre Liebe, was noch wichtiger ist für die Ruhe des Lebens.
Nicht die Tugend also an und für sich macht glücklich, sondern nur die Lust, die aus ihr hervorgeht; wie eng er jedoch beide miteinander verknüpft, lehrt sein Ausspruch: Es ist kein angenehmes Leben ohne ein einsichtiges gutes und gerechtes Leben, und kein einsichtiges gutes und gerechtes Leben ohne ein angenehmes Leben. Doch ist und bleibt die Lust das A und das O der epikureischen Lehre; sie ist der Ausgangs- und Zielpunkt der menschlichen Glückseligkeit, die Lust, d.+h. die Freiheit von Schmerzen des Leibes und der Seele. Alle Unterweisungen und Lebensregeln Epikurs zielen darauf ab, den Menschen durch Naturerkenntnis und Selbsterkenntnis die Mittel an die Hand zu geben, in den dauernden Besitz dieses höchsten Gutes zu gelangen. Und bei fleißiger Beachtung seiner Lehren, so verspricht Epikur seinem Schüler, werde er wie ein Gott unter den Sterblichen wandeln.
Nicht jeder kann zur höchsten Lebensweisheit gelangen; Anlage und Übung gehört dazu; wer aber einmal zur Weisheit gelangt ist, der besitzt sie als unverlierbare Eigenschaft und mit ihr die Glückseligkeit. Ist der Weise auch nicht frei von Affekten und namentlich den edleren Gemütsbewegungen zugänglich, so wird doch seine philosophische Ruhe dadurch nicht gestört. Verschmäht er auch den Genuß nicht, so ist er doch durchaus Herr über seine Begierden und weiß sie zu mäßigen. Er vermag mit Epikur von Wasser und Brot zu leben und sich dabei Zeus an Glückseligkeit gleich zu achten. Er flieht die Leidenschaften, welche die Ruhe des Gemütes und das Glück des Lebens zerstören. Er hält es für töricht, die Gegenwart mit Sorgen um die Zukunft zu vergeuden und den Mitteln zum Leben das Leben selbst zu opfern. Er geizt nicht nach Ruhm und kümmert sich um die Meinung der Menschen nur soweit, daß er nicht verachtet wird, denn damit wäre auch seine Sicherheit dahin.
Er weiß Beleidigungen mit Ruhe zu ertragen, und wenn er auch vom Unwillen über das Unrecht erregt wird, so läßt er dieses Gefühl doch nicht zum leidenschaftlichen Zorn anwachsen, der mit seiner Gemütsruhe unverträglich wäre.
Er fühlt mit seinen dienstbaren Geistern und verzeiht dem Tüchtigen und Brauchbaren gern, wenn er einmal gefehlt hat.
Er allein hat eine unerschütterliche Festigkeit seiner Überzeugung, er allein weiß das Richtige in der rechten Art zu tun: Nur der Weise versteht dankbar zu sein, heißt es bei Metrodor.
Er läßt sich nicht dadurch die Ruhe rauben, daß einer sagt: ein andrer sei weiser.
Er beneidet niemand um Güter, denen er selbst keinen Wert beilegt; doch lebt er nicht als Kyniker und Bettler.
Er trachtet nach Erwerb, aber mit Weisheit.
Er verschmäht den Schmuck des Lebens durch die Kunst nicht, stellt Bildnisse und Statuen auf, wenn er sie hat, ist aber ebenso zufrieden, wenn er sie nicht hat.
Er sucht überhaupt die Genügsamkeit nicht darin, daß er wenig gebraucht, sondern darin, daß er wenig bedarf.
Er weiß sich in das Unabänderliche zu fügen, aber auch in sein Schicksal selbstbestimmend einzugreifen.
Er macht sich nicht die geringste Sorge, was nach seinem Tode mit ihm geschehen wird; er fürchtet den Tod nicht, ja er sucht ihn, wenn kein anderer Weg offen steht, um unerträglichen Leiden zu entgehen; doch wird dieser Fall nicht leicht eintreten, weil er gelernt hat, auch unter körperlichen Schmerzen glücklich zu sein. Lächerlich ist es, heißt ein Ausspruch Epikurs, aus Lebensüberdruß in den Tod zu rennen, wenn man es durch seine Lebensweise dahin gebracht hat, in ihn rennen zu müssen.
Es läßt sich nicht leugnen, daß diese ganze Ethik einen stark quietistischen Zug besitzt, wie Kaerst hervorhebt; ein lebhaftes, energisches, auf die Beseitigung von Widerständen gerichtetes Handeln verträgt sich nicht mit dem behaglichen und beschaulichen Lebensgenuß, mit dem Ausruhen im Gefühl der eigenen inneren Unabhängigkeit und Freiheit. Ob die Ethik der Epikureer auch egoistisch genannt werden kann, bezweifle ich, ja, ich möchte es bestreiten. Ich verstehe dabei unter Egoismus diejenige Richtung des Denkens und Handelns, welche auf die höchste Ausbildung der Eigenpersönlichkeit in jedem Betracht abzielt, in körperlicher, intellektueller und moralischer Hinsicht Vgl. Spencer, Die Erziehung in Kröners Taschenausgabe., und diese Ausbildung ist doch nur im lebhaftesten Verkehr mit der Außenwelt zu erreichen, mit Natur und Gesellschaft, ein Verkehr, der zwar fortwährend die Ruhe der Seele und die innere Harmonie stören mag, andererseits aber auch immer wieder die Kräfte des Individuums herausfordert, die dazu gehören, jene Ruhe und Harmonie immer wieder herzustellen.
Goethe kann als leuchtendes Beispiel einer solchen egoistischen Ethik dienen.
Die Epikureer stellen sich die unmögliche Aufgabe, den Menschen frei auf sich selbst zu stellen und in der Unendlichkeit seines denkenden Selbstbewußtseins von allem Nutzeren schlechthin unabhängig zu machen. Daß dies ein unmögliches Beginnen ist, zeigt sowohl die biologische wie die soziologische Betrachtung des Menschenwesens; denn, wie ein neuerer Soziologe Müller-Lyer, Die Phasen der Kultur. 1908. bemerkt hat: nicht seiner individuellen Kraft und Herrlichkeit verdankt der Mensch das, was er ist, sondern der Zusammenarbeit aller, und wer von dieser Zusammenarbeit sich ausschließt, kann leicht zu einem verkümmerten Exemplar der menschlichen Gattung werden. In diesem Sinne konnte sich wohl auch Goethe, der doch das höchste Glück der Erdenkinder in der Persönlichkeit fand, am Ende seines Lebens ein Kollektivwesen nennen, welches den Namen Goethe trägt. Es ist nicht schwierig, im abgeschlossenen Garten eine Eigenpersönlichkeit zu sein; im steten Ringen mit der Außenwelt eine Persönlichkeit zu bleiben, scheint mir eine des Menschen würdigere Aufgabe zu sein.
Aber immerhin: völlig will auch Epikur sich nicht abschließen; eine auf freier persönlicher Wahl beruhende Verbindung, die das Lebensgefühl des Individuums bereichert und erhöht, hält auch er für erstrebenswert; eine solche Verbindung steht ihm höher als jede andere, in welche der Mensch vor aller Wahl, rein durch den Zufall der Geburt, hineingerät. »Daher der Kult der Freundschaft, der in der Schule Epikurs betrieben wird. Mit gleichgesinnten und gleich gestimmten Individuen sich zu vereinigen, für die eigene Stimmung in der lebendigen Stimmung des Freundes einen lebendigen Widerhall zu finden, im gegenseitigen Austausch von Gedanken, Empfindungen und schönen Handlungen den Resonanzboden eigenen Lustgefühls zu erweitern, das dürfen wir wohl im Geiste epikureischer Philosophie als das eigentliche Ziel der Freundschaft betrachten.« Wie hoch Epikur den Wert der Freundschaft schätzte, erhellt aus verschiedenen seiner Aussprüche: von allem, was die Weisheit zur Glückseligkeit des ganzen Lebens beiträgt, ist das Größte der Besitz der Freundschaft. Die Frage ist ihm viel wichtiger, mit wem er essen und trinken, als was er essen und trinken soll; denn ohne Freund ist das Leben die Abfütterung eines Löwen oder Wolfes. Man darf weder die Zudringlichen noch die Unentschlossenen der Freundschaft für wert halten; aber man muß, um eine Freundschaft zu gewinnen und zu erhalten, auch etwas riskieren. Für seinen Freund nötigenfalls die größten Schmerzen oder den Tod zu erdulden, wird der Freund kein Bedenken tragen. Nicht nur gegenseitige Hilfe – die ist unter Menschen selbstverständlich – sondern wechselseitige Förderung und Steigerung kommt aus einer Freundschaft, wie sie der Epikureer nicht nur lehrt, sondern auch übt: ein »Pfeil und eine Sehnsucht nach dem Höchsten« ist der Freund dem Freunde.
Noch in anderer Hinsicht als der des freundlichen Austausches von Gedanken und Freundschaftsdiensten erscheint Epikur der Umgang mit Menschen, sei es auch nur ein Umgang in Gedanken, höchst schätzenswert: Wir müssen, den Rat gibt er, uns irgend einen tugendhaften Mann aussuchen, und ihn immer vor Augen haben, damit wir leben, als schaue er uns zu, und immer so handeln, als ob er es sähe.
Nicht so eingenommen ist der Epikureer für Ehe und Familie. Der Weise tue besser, sich der Ehe und der Kindererziehung zu enthalten, weil sie zu viele Störungen für ihn mit sich bringen, lautet der gute Rat. Mit allen Farben und Tönen schildert Lukrez die verderblichen Einflüsse und Folgen der Liebe. Nicht allein, daß sie die Ruhe des Gemütes zerstört und alle Kräfte verzehrt: Du wirst auch genötigt, nach fremdem Winke zu leben. Unterdessen zerrinnt das Vermögen, man fragt nach Bürgen; Pflichten werden versäumt, es kränkelt Namen und Ehre. Dafür duften die Salben, am niedlichen Fuß glänzt der Sicyonische Schuh; in goldene Reifen gefaßt, leuchtet der grüne Smaragd. Wohl erworbenes Gut der Väter verwandelt sich in Kopfputz, in Haarschmuck, in alidensischen Flor, in dünnes Gewebe von Chios, in meerblauschillernde Kleider. Prächtig ist die Tafel gedeckt, und herrlich bedient, Spiel und Becher und Salben und Kränze und Blumengehänge erfreuen in buntem Wechsel den Sinn. Aber umsonst! Denn selbst aus der Quelle der Freuden steigt dir ein Bitteres auf, das unter den Blumen dich ängstigt, pocht dir vielleicht das Herz, daß du so die Tage unter müßigem Schwelgen verlebst, packt dich die Eifersucht, wenn sie die Blicke zu oft nach einem anderen geworfen hat und du bildest dir ein, noch Spuren des Lächelns zu sehen. Übel von derlei Art bringt schon die begünstigte Liebe; bei der verschmähten sind sie unzählbar. Hüte dich also, in die Netze der Liebe zu geraten; denn gleich im Anfang sich Amors Schlingen zu erwehren ist weit minder schwer als, wenn du einmal im Netz bist, dich wieder herauszuziehen, die mächtigen Ketten zu zerreißen.
Daß wir Modernen in dem, was Lukrez hier darstellt, nur ein Zerrbild der Liebe zu erkennen vermögen, brauche ich hier nicht näher auseinander zu setzen; Helene Stöcker hat in ihren formvollendeten Aufsätzen über »Die Liebe und die Frauen« unsere Auffassung über diese Blüte des Menschendaseins dargelegt. Und Goethe, der Prophet unserer modernen Welt- und Lebensauffassung, hat auch hier für unser Empfinden die treffendsten Worte gefunden in den schönen Zweizeilern seiner »Vier Jahreszeiten«:
Kennst du das herrliche Gift der unbefriedigten Liebe?
Es versengt und erquickt, zehret am Mark und erneut's.
Kennst du die herrliche Wirkung der endlich befriedigten Liebe?
Körper verbindet sie schön, wenn sie die Geister befreit.
Das ist die wahre Liebe, die immer und immer sich gleich bleibt,
wenn man ihr alles gewährt, wenn man ihr alles versagt.
Daß freilich nicht jeder für die Ehe in ihrer durch Gesetz und Herkommen geregelten Form geschaffen ist, geben wir Epikur (wie den Christen) zu: was allen erlaubt, ja nötig ist, ist nicht immer dem einen erlaubt und nötig, wie umgekehrt dem einen erlaubt ist, was nicht allen erlaubt sein kann: dem einen, der ein höheres Exemplar der Gattung Mensch darstellt, und der den andern ein Führer ist zum Ideal. Die Menschen sind nicht gleich in ihrem Kulturwert, so sind es auch nicht ihre Rechte, ihre Pflichten. –
Ebensowenig wie die vielfache Sorge und Aufregung des Familienlebens verträgt sich nach Epikurs Meinung politische Wirksamkeit mit dem geruhigen Leben des Philosophen. Teilnahme an den Staatsgeschäften zieht nach seiner Meinung nur von der Weisheit und Glückseligkeit, der eigentlichen Bestimmung des Menschen, ab. Nur wenn jemand eine so unruhige Natur hat, daß er es in der Untätigkeit des Privatlebens nicht aushält, mag er sich in das politische Getriebe mischen; »aber dann besonders ziehe dich in dich selbst zurück, wenn du genötigt bist, unter der Menge zu leben!« Der Weise befaßt sich mit Politik nur, wenn besondere Umstände es notwendig machen, d.+h. für Epikur, wenn seine Ruhe und Sicherheit dabei in Frage kommt. Die Sicherheit des Individuums, der Schutz des persönlichen Daseins ist die einzige Aufgabe des Staates, wie dieser nach Epikur auch nur aus dem Sicherheitsbedürfnis der Einzelnen heraus entstanden ist, durch gegenseitige Verträge, welche die gegenseitige Sicherung vor Angriffen und Schädigungen gewährleisten. Alle rechtliche Verpflichtung und alle rechtliche Sicherung ruhen auf Verträgen, die auf vernünftige Berechnung des gegenseitigen Vorteils gegründet sind. Da nun derartige Verträge nur von denjenigen in Anregung und zur Annahme gebracht werden konnten, die den andern an Einsicht überlegen waren, diese aber dabei natürlich – wie jeder verständige Mensch – ihren eigenen Vorteil im Auge hatten, so läßt sich auch sagen: die Gesetze sind von Weisen um der Weisen willen gemacht, nicht, damit sie kein Unrecht thun, sondern damit sie kein Unrecht leiden.
Das Recht besteht somit nicht von Natur, sondern wird erst durch bestimmte Gesetze, die durch Verträge aufgestellt werden, geschaffen. Die Gesetze wären entbehrlich, wenn alle das einsähen und beachteten, was dem Menschen nützt. Unter und gegenüber von Tieren, die keinen Vertrag zu machen imstande sind, gibt es weder Recht noch Unrecht; ebensowenig unter und gegenüber Völkerschaften, die den Vertrag, sich gegenseitig nicht schaden zu wollen, nicht machen konnten oder wollten. Recht und Unrecht sind also an und für sich nichts, Ungerechtigkeit an und für sich kein Übel, dies liegt nur in der Furcht vor Entdeckung der Übeltat, in der Furcht vor Strafe, die für den Epikureer allein schon eine hinreichende Strafe bedeutet, da sie ihn des höchsten Gutes beraubt, des Seelenfriedens.
Wird etwas zum Gesetz erhoben, was sich für die gesellschaftliche Verbindung als nicht zweckmäßig erweist, so ist es auch kein Recht und nicht verbindlich. So auch, wenn neue Umstände und neue Verhältnisse eintreten, können Gesetze, die in anderen Umständen und Verhältnissen gut, d.+h. nützlich waren, ihre rechtliche und rechtsverbindliche Natur verlieren. Mit anderen Worten: Gesetz und Recht sind relative Dinge; sie tragen ihren Wert und ihre Berechtigung nicht in sich selbst, sondern nur in Hinsicht auf Wohl und Weh des Menschen. Sie sind zu messen an dem Rechte, das mit uns geboren ward, und jede neue Generation hat für sich das Recht, das Recht der älteren Generation zu prüfen, es zu bejahen oder zu verneinen. Die neue Generation braucht dabei keineswegs eine zeitliche zu sein; sie ist oft nur eine neue Generation an fortgeschrittener Einsicht. Ihre Rechtsformel hat einer unserer besten Freunde ausgesprochen in dem Wort: »Des Menschen Sohn ist Herr auch über den Sabbath!«
So ist Epikurs Philosophie der Lebensfreude. Von den Sinnen geht sie aus. Sie offenbaren dem Epikureer die Pracht und Herrlichkeit der Welt, die er ohne Furcht vor den Schrecknissen einer religiösen »Hinterwelt« genießt und – ohne Hoffnung auf die Freuden eines eingebildeten Jenseits – voll genießt. Mit der Einsicht des Weisen! Rein im Sinnlichen bleibend, ganz Auge, ganz Ohr, ganz nur Gefühl, schwelgend in Farben und Formen, in Tönen und Harmonien, in der Seligkeit des körperlichen Genusses, wenn Leben sich des Lebens freut – aber doch fähig, das Sinnliche in die Sphäre des Geistigen zu erheben und mit gleicher Lust im Geistigen zu verwetten: in der Seligkeit des Denkens und Erkennens und des schöpferischen Gestaltens, im gebenden und empfangenden Wechselverkehr mit hochgesinnten Freunden und Freundinnen gleicher Art, heiter, wie ers genossen, das Leben verlassend: in allem sein eigener Herr und Gesetzgeber – so ist der Epikureer!