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Epikur behält in seiner Philosophie die herkömmliche Einteilung in Logik, Physik und Ethik bei, die Logik um der Physik willen, die Physik um der Ethik willen. Die Logik wird bei ihm, unter dem Namen Kanonik der Physik als Einleitung vorangestellt, reine Erkenntnistheorie, die er hier ganz und gar auf die Normen der Erkenntnis und auf die Prüfungsmittel (Kriterien) der Wahrheit einschränkt.
Das Kriterium der Wahrheit ist in theoretischer Hinsicht die Wahrnehmung, in praktischer das Gefühl der Lust oder Unlust: Epikurs Erkenntnistheorie ist rein sensualistisch, wie seine ganze Philosophie als »Philosophie der Sinnlichkeit« in einem noch näher zu erläuternden Sinn genannt werden darf. Alle Erkenntnis stammt letzten Endes aus den Sinnen. Nihil est in intellectu, quod non fuerit in sensu, wie später Locke den Grundsatz des erkenntnis-theoretischen Sensualismus ausdrückt. Die Sinnesempfindung ist das unmittelbar Gewisse, das zu seiner Beglaubigung keines weiteren Zeugnisses bedarf. Woher auch dieses nehmen? Aus der Vernunft? Aber diese ist ja selbst von den Sinnen abhängig und als abgeleitet eigentlich noch weniger vertrauenswürdig als die Sinne. Würden wir diesen nicht trauen, so bliebe uns überhaupt kein Kriterium der Wahrheit, so entfiele uns jede Möglichkeit einer festen Überzeugung, und mit dieser die Möglichkeit alles Handelns: vom Zweifel hin und her geworfen würden wir weder einen sicheren Gedanken zu denken wagen, noch etwas zu tun vermögen.
Denn die Vernunft nicht nur, es stürzen die Pfeiler des Lebens
selber zusammen, wo du nicht wagest den Sinnen zu trauen.
Es liegt aber auch kein Grund vor, den Sinnenzeugnissen mit Mißtrauen zu begegnen, auch nicht in den sogenannten Sinnestäuschungen, denn auch bei diesen liegt das Fehlerhafte nicht in der Wahrnehmung als solcher, sondern nur in unserm Urteil.
Den Sinnen hast du dann zu trauen,
nichts Falsches lassen sie dich schauen,
wenn dein Verstand dich wach erhält,
heißt es bei Goethe, ähnlich wie bei Lukrez: Wir sehen der Wundererscheinungen viele, die unsern Glauben an die Sinne zu schwächen versuchen; aber umsonst, denn es ist in den meisten Fällen der Irrtum unseres eigenen Verstandes, der uns sehen läßt, was die Sinne uns nicht zeigen. Freilich ist nichts schwieriger, als diesen Irrtum abzuziehen von den Dingen, die vor Augen liegen.
Daß Epikur den Unterschied zwischen bloß subjektiver und objektiver Wahrheit kennt, welch letztere auf der irgendwie gearteten Übereinstimmung des psychischen Gebildes mit einem irgendwie beschaffenen Objekt beruht, erhellt aus seiner Bemerkung, daß auch die Traumerscheinungen und die Einbildungen der Wahnsinnigen an sich wahr seien, von etwas Wirklichem veranlaßt; der Irrtum entstehe erst dadurch, daß über die (subjektive) Wahrheit hinausgegangen werde.
Was unsere Sinne aussagen, ist nur, daß ein Objekt so oder so auf sie eingewirkt, daß dieses oder jenes von einem Objekt abgelöste Bild unsere Seele berührt hat; daraus folgt noch nicht, daß der Gegenstand selbst so beschaffen sei, wie er sich uns darstellt und daß andere genau denselben Eindruck erhalten müssen wie wir: von einem und demselben Ding können verschiedene Bilder ausgehen, diese Bilder können sich auf dem Wege zu unseren Augen und Ohren in verschiedener Weise verändern, der aufnehmende Sinn selbst kann durch Krankheit verändert sein (dem Gelbsüchtigen erscheint alles bleich und gelb, weil der bleiche Saft der Augen die Bilder zuvor tüncht!). Wenn wir nun das Bild mit der Sache, den subjektiven Eindruck mit dem Objekt verwechseln, so sind wir allerdings im Irrtum; aber diese Täuschung kann nicht unseren Sinnen, sondern nur unserer allzu rasch gefaßten Meinung zur Last gelegt werden (Zeller).
Die philosophische Stimmung, aus welcher die hohe erkenntnistheoretische Schätzung der Wahrnehmung in Epikur entstanden ist, läßt sich nicht besser beschreiben, als es Schopenhauer mit den wundervollen Worten getan hat: »Solange wir uns rein anschauend verhalten, ist alles klar, fest und gewiß. Da gibt es weder Fragen, noch Zweifeln, noch Irren: man will nicht weiter, kann nicht weiter, hat Ruhe im Anschauen, Befriedigung in der Gegenwart. Die Anschauung ist sich selber genug; daher was rein aus ihr entsprungen und ihr treu geblieben ist, wie das echte Kunstwerk, niemals falsch sein, noch durch irgendeine Zeit widerlegt werden kann: denn es gibt keine Meinung, sondern die Sache selbst. Aber mit der abstrakten Erkenntnis, mit der Vernunft, ist im Theoretischen der Zweifel und Irrtum, im Praktischen die Sorge und die Reue eingetreten. Wenn in der anschaulichen Vorstellung der Schein auf Augenblicke die Wirklichkeit entstellt, so kann in der abstrakten der Irrtum Jahrtausende herrschen, auf ganze Völker sein eisernes Joch werfen, die edelsten Regungen der Menschheit ersticken und selbst den, welchen zu täuschen er nicht vermag, durch seine Sklaven, seine Getäuschten in Fesseln legen lassen. Er ist der Feind, gegen welchen die weisesten Geister aller Zeiten den ungleichen Kampf unterhielten, und nur was sie ihm abgewonnen, ist Eigentum der Menschheit geworden.« – Vergl. Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung. Bd. I, 1. Buch, § 8.
Durch mehrfache Wiederholung einer gleichartigen Wahrnehmung entsteht nun weiter in uns ein allgemeines, im Gedächtnis festgehaltenes Erinnerungsbild, der Begriff (Prolepsis). Diese allgemeine Vorstellung, z.+B. der Begriff »Mensch«, der sich infolge der Wahrnehmung vieler Einzelmenschen bildet, ist zwar weniger gewiß als die ursprüngliche und einzelne Vorstellung, ist aber sehr bedeutungsvoll für das Denken und Sichverständigen; denn sie ist es, die bei dem Gebrauch des Wortes, wodurch der betreffende Gegenstand bezeichnet wird, in uns auftaucht. Die Sprache wird so zu einem Mittel, um die Erinnerungen an bestimmte Anschauungen, eben die allgemeinen Vorstellungen oder Begriffe, hervorzurufen, und diese selbst bilden eine weitere Stufe des wissenschaftlichen Erkennens.
Denn weder Wahrnehmungen noch Begriffe machen das aus, was als Wissenschaft zu bezeichnen ist. Diese fragt nach den Ursachen, nach den verborgenen Gründen der Erscheinungen, schreitet denkend von dem Bekannten zu dem Unbekannten.
Aus der Fortwirkung der Wahrnehmungen und der Begriffe in uns entstehen Gedanken, welche das Wahrgenommene und das Vorgestellte verbinden. Diesen Gedanken kommt aber durchaus kein Kriterium der Wahrheit zu, das ihnen nicht durch die Erfahrung verliehen wird: sie sind Annahmen, Meinungen, Hypothesen. Meinungen können wahr sein oder falsch. Wahr, wenn sie durch Wahrnehmungen bestätigt oder wenigstens durch keine Wahrnehmung widerlegt werden. Falsch, wenn sie durch keine Wahrnehmung bestätigt oder durch Wahrnehmungen widerlegt werden. Der Epikureer übt die Kunst des Abwartens, er legt sich nicht fest auf eine Meinung, über die die Erfahrung noch nichts ausgemacht hat, noch läßt er sich auf einen Streit ein über eine Meinung, die ohne genügende Zeugnisse der Sinne angenommen worden ist. Ein Turm, den man von ferne sieht, kann rund erscheinen; wir bilden uns die Meinung: er ist rund; aber versteifen wir uns nicht darauf: er kann auch eckig sein, die Sinne werden es uns untrüglich sagen, sobald wir näher gekommen sind; vom Zeugnis der Sinne allein hängt die Wahrheit unserer Annahmen ab. Oder wir nehmen für gewisse Erscheinungen eine verborgene Ursache an, z.+B. den leeren Raum als Ursache der Bewegung; finden alle Erscheinungen ihre Erklärung durch diese angenommene Ursache, so können wir unsere Annahme für richtig halten, um so sicherer, je mehr Erscheinungen zur Beobachtung kamen; aber vielleicht wird eine neue sichere Wahrnehmung unserer Annahme widersprechen und sie als unrichtig erweisen –: warten wir ab.
Wieviel unnützer Streit und Widerstreit könnte auch in der heutigen Naturwissenschaft noch vermieden werden, wenn man sich dieses epikureische Abwarten weise zu eigen machte!
So weist Epikur die Naturforschung an, nicht nach apriorischen Axiomen und angenommenen »Gesetzen« über die Natur zu spekulieren, sondern ihre Erklärungen gemäß den Erscheinungen selbst zu geben. Dabei weist er aber die Forschung auf einen Weg, der bis dahin kaum noch betreten war: auf den der Induktion durch Anwendung des Analogieschlusses. Von den Erscheinungen, die bei uns beobachtet werden, schließt er auf ähnliche Erscheinungen in Gebieten, die der Beobachtung nicht zugänglich sind, indem er die beobachtete Gleichförmigkeit gewisser Erscheinungen auf einen tieferen, gesetzmäßigen Zusammenhang zurückführt Vergl. Bahnsch, Des Epikureers Philodemus Schrift περὶ σημείων καὶ σημειώσεων. Lyck 1879..
Ob Epikur die Theorie dieser Forschungsmethode selbst weiter entwickelt hat, wissen wir nicht. In welcher Weise sie in der Schule Epikurs zur Anwendung gebracht wurde, sollen die folgenden Beispiele (nach Bahnsch, 1. c.) zeigen.
Man darf nicht, heißt es da, von der ersten besten Gleichförmigkeit auf jede andere erste beste schließen; vielmehr ist ein sicherer Schluß nur auf diejenige Gleichförmigkeit zu bauen, bei welcher es ganz undenkbar ist, daß sie nicht eintritt, sei es unter irgendwelchen Umständen. Erfahrung und Beobachtung haben gelehrt, daß die Menschen, wenn sie enthauptet werden, sterben, und daß nicht neue Köpfe an Stelle der alten wachsen. Läßt sich nun überhaupt die Möglichkeit denken, daß einem enthaupteten Menschen ein neues Haupt an Stelle des alten wachse? Nein! Folglich schließe ich mit Recht, daß es auch den Menschen, welche sich der Beobachtung entziehen, ebenso geht wie denen, welche bei uns leben. Wenn ich aber aus dem Umstande, daß in allen uns bekannten Gegenden Granatäpfel und Feigen wachsen, auf die Existenz derselben in allen, auch uns unbekannten Gegenden schließen wollte, so wäre das ein unberechtigter Analogieschluß. Denn die Erfahrung hat gezeigt, daß die Gewächse an die klimatischen Verhältnisse der verschiedenen Gegenden der Erde gebunden sind und daß sie mit dem Klima wechseln. Ebenso sind Farbe, Gestalt, Größe und andere Eigenschaften des Menschen durch äußere, in physischen Verhältnissen begründete Einflüsse wesentlich bedingt, doch nimmermehr die Existenz eines Gliedes, welches einen integrierenden Teil des menschlichen Organismus bildet. Warum? Eben weil die Erfahrung keine Analogie für eine derartige Änderung des Organismus aufzuweisen hat; es müßte denn jemand aus dem Umstande, daß bei uns an Stelle des ausgerissenen Haares neues wächst und an Stelle abgeschnittener Nägel sich bald neue bilden, die Möglichkeit folgern wollen, daß eine ähnliche Erscheinung sich auch einmal bei menschlichen Augen und Köpfen zeige. – Der Epikureer deutet hier also den richtigen und fruchtbaren Gedanken an, daß die Erfahrung dadurch zu größerer Allgemeinheit sich erheben kann, daß sie durch die Erfahrung geprüft, oder mit andern Worten: daß sie zum Kriterium ihrer selbst gemacht wird.
Es gibt, kann ein Gegner einwenden, in der Natur Dinge, die, obwohl sie mit anderen durch einen gemeinschaftlichen Gattungsnamen in nahe Beziehung gesetzt werden, dennoch durch gewisse Eigentümlichkeiten einzig dastehen. So gibt es z.+B. unter der großen und mannigfaltigen Zahl von Steinen eine Art, den Magnetstein, der ganz allein die Fähigkeit besitzt, Eisen anzuziehen; nur der Bernstein hat die Kraft, Spreu anzuziehen; unter allen Quadratzahlen zeichnet sich nur 4 2 durch die Eigentümlichkeit aus, daß Umfang und Fläche bei ihr dieselbe Zahl liefern. Mit welchem Rechte dürfen wir also sagen, daß es nicht auch eine Gattung von Menschen geben könne, bei denen die Zerstückelung des Herzens nicht den Tod zur Folge hat? Wir können daher nicht mit absoluter Gewißheit aus der Tatsache, daß bei den Menschen, die unserer Beobachtung zugänglich sind, die Zerstückelung des Herzens den Tod nach sich zieht, folgern, daß es allen Menschen so gehe. In der Tat finden sich ja auch bei uns Individuen, fährt der Gegner fort, welche in gewissen wesentlichen Eigenschaften einzig dastehen, wie z.+B. der eine halbe Elle hohe Mensch in Alexandria, auf dessen kolossalen Kopf man mit Hämmern schlagen konnte, und der, welcher in Epidauros als Jungfrau sich verheiratete und darauf ein Mann wurde, und der Riesenmensch in Kreta, dessen Länge, wie man aus den aufgefundenen Knochen berechnete, 48 Ellen betragen hat, und die Pygmäen in Akoros.
Der Epikureer widerlegt in folgender Weise: Wir ignorieren durchaus nicht derartige Besonderheiten und isolierte Erscheinungen; doch halten wir dieselben nicht für geeignet, den Analogieschluß zu Falle zu bringen. Es gibt ja auch nur eine Sonne und einen Mond und eine Menge von andern eigentümlichen Erscheinungen in jeder Gattung. Ja, wenn alle Steine sonst einander ähnlich oder vielmehr ganz gleich wären, so zwar, daß die, welche das Eisen anziehen, auch nicht die geringste Verschiedenheit aufwiesen, daß also die Fähigkeit, das Eisen anzuziehen, die einzige Eigenschaft wäre, welche nicht der ganzen Gattung, sondern nur einem Teile zukäme, so wäre der Analogieschluß allerdings nicht gesichert. Da dies aber nicht der Fall ist, da vielmehr die erwähnte Eigenschaft nur eine von den vielen Eigentümlichkeiten ist, nach welchen sich gewisse Spezies gruppieren, so wird der Analogieschluß nicht im geringsten dadurch erschüttert. Was jene Quadratzahl anbetrifft, so ist die daran bemerkte Eigentümlichkeit, ebenso wie die jeder andern Quadratzahl durch die Erfahrung ermittelt und geprüft worden. Wer die unter den Quadratzahlen bestehenden Verschiedenheiten leugnen wollte, müßte mit der Erfahrung in offenbaren Widerspruch treten; und in diesen Fehler werden wir Epikureer, die wir all unser Wissen aus der Erfahrung ableiten, am allerwenigsten verfallen. Da aber nun einmal die Erfahrung jene Eigentümlichkeit von 4² konstatiert hat, so gründen wir auf die Analogie das Recht, dieselbe, weil sie sich ohne Ausnahme in allen Verhältnissen bei uns offenbart, als eine solche hinzustellen, welche in dem ganzen unendlichen Weltall unverändert bestehen bleibt. Warum? Weil es eben für unsere Vernunft nicht faßbar ist, daß die Zahlen in irgendeinem Teile des Weltalls andern Gesetzen unterworfen sein könnten, als bei uns. Für ebenso verfehlt hält der Epikureer den Versuch des Gegners, seinem Einwand durch den Hinweis auf die angeblich durch die Geschichte beglaubigten Merkwürdigkeiten größeren Nachdruck zu verleihen; er bezeichnet die erwähnten Geschichten geradezu als Lügen.
Schluß: Die Analogie führt nur dann zu einem richtigen Resultat, wenn wir die Gleichförmigkeiten mit gebührender Überlegung prüfen; man darf aber nicht aus der ersten besten Gleichförmigkeit auf jede beliebige andere schließen, wenn auch in gewissen Fällen schon die Beobachtung einer einzigen Gleichförmigkeit genügt, um ein Urteil über das Unbekannte zu bilden. »Um zu erfahren, daß der Himmel überall blau ist, braucht man nicht um die Welt zu reisen,« heißt es bei Goethe; »Gemütern schärferen Sinnes sind diese geringen Spuren der Wahrheit genug, das Weitere selbst zu erforschen,« bei Lukrez.
Haben demnach die Epikureer den zu so bedeutsamen Ergebnissen führenden Weg der induktiven Forschung betreten, so wird man doch Bahnsch beistimmen müssen, wenn er sagt: »Die Regeln, welche der Epikureer für die induktive Forschung aufstellt, sind so unbestimmt, daß sie höchstens die im gewöhnlichen Leben angewendete Induktion vor allzu groben Fehlschlüssen sicher stellen können, aber durchaus keine Gewähr für wahrhaft wissenschaftliche Erkenntnis der Natur bieten.«
Die Epikureer waren keine Naturforscher, wollten keine sein; sie brauchten die Naturerkenntnis nur als Unterbau für ihre Lebenskunst und nahmen sie deshalb dort, wo sie für ihren Zweck am besten ausgebildet schien: bei Demokrit Über die Lehre Demokrits vergleiche Fr. A. Lange, Geschichte des Materialismus, besonders aber: Löwenheim, Die Wissenschaft Demokrits und ihr Einfluß auf die moderne Naturwissenschaft. (1914)..