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Für Epikur, wie überhaupt für die Philosophie der Zeit, war das Wissen nicht Selbstzweck der philosophischen Bildung, sondern nur Mittel. »Er verlangte von seinen Jüngern, daß sie die Prinzipien kannten, aus denen die sichtbare materielle Welt besteht, daß sie wußten, auf welche Erkenntnisquelle alle Wahrheit zurücklaufe, und daß sie endlich imstande seien, die Worte, von denen das Verlangen und der Wille des Menschen regiert werden, richtig zu bestimmen und abzuschätzen; aber alle diese Teile seiner Lehre sollten ausschließlich dazu dienen, dem, der sie in seinen Grundzügen sich zu eigen gemacht hatte, einen von allen äußeren und inneren Störungen unabhängigen Frieden der Seele zu verbürgen« (Ed. Schwartz). Der Zweck der Philosophie ist für Epikur – wie für den Stoiker Zenon – die Glückseligkeit des Menschen. Das philosophische Denken verzichtet nicht auf den Versuch einer zusammenfassenden innerlichen Beherrschung der Welt durch eine Theorie; aber es bemüht sich nicht mehr, selbst eine Theorie der Welt aufzustellen, sondern es nimmt sie, zwar nicht ungeprüft und unverändert, doch als gegeben und schon erarbeitet von der vorausgegangenen Philosophie auf, als Untergrund, auf dem es eine Lehre von der wahren Philosophie, der Lebenskunst, errichtet. Nur insofern und in dem Maße, als das Wissen zu dem richtigen praktischen Verhalten Anleitung zu geben vermag oder entgegenstehende Hindernisse entfernt, nur insoweit ist das Wissen wertvoll, andernfalls überflüssig und wertlos. Sollte etwa Epikur, so fragt sein Anhänger bei Cicero, seine Zeit mit Lesen der Dichter vertun, in denen nichts wahrhaft Nützliches, sondern nur kindische Phantasien zu finden sind? oder sollte er sich wie Plato in der Erforschung der Musik, der Geometrie, der Zahlen und Gestirne aufreiben, Studien, die von falschen Voraussetzungen ausgehen und deshalb zu falschen Ergebnissen gelangen, und wenn sie auch wahr wären, doch zu einem besseren Leben nichts beitragen würden? sollte er diese unfruchtbaren Künste treiben und darüber jene große und mühsame, aber auch herrliche Früchte tragende Kunst des Lebens versäumen?
In Übereinstimmung damit heißt es bei Metrodor: wenn du auch keine Zeile in Homer gelesen hast und nicht weißt, ob Hektor ein Trojaner oder ein Grieche war, so mache dir nur keinen Kummer darüber. Es scheint, daß diese scharfe Verurteilung als Reaktion gegenüber einer rein intellektuellen, rein gelehrten, rein literar-historischen oder ästhetischen Bildung damals ebenso am Platze gewesen ist, wie sie es heute noch ist. Man vgl. dazu Spencer, Die Erziehung, in Kröners Taschenausgabe.
Wertlos erschienen Epikur auch die bei den Stoikern und Peripatetikern so beliebten dialektischen Untersuchungen, die Definitionen, Einteilungen, spitzfindigen Beweisführungen; wertlos die Rhetorik als kunstmäßige Anleitung zur Beredsamkeit, ebenso wertlos wie die schönen Reden, die man dabei lerne: vom Redner (wie vom Schriftsteller) verlangte er nichts als Deutlichkeit; der gewandte Redner ist noch lange kein guter Staatsmann, der wortgewandte Schriftsteller noch lange kein tiefer Denker. Der Philosoph tue am besten, sich einfach an die Sache zu halten und all diesen gelehrten Ballast beiseite zu lassen, der nicht das mindeste dazu beitrage, die Erkenntnis der Natur zu befördern und den Menschengeist aus den Fesseln des Wahns zu befreien.
Nur Toren lieben am meisten und bewundern nur das, was unter verschrobenen Worten sie zu entdecken meinen; für wahr gilt ihnen, was irgendwie schön um die Ohren klingt, geschminkt mit tönendem Wortschall. – Aber wir alle ja wissen, wie das Menschengeschlecht nach Fabeln und Märchen das Ohr spitzt (Lukrez). Wie oft ist man versucht, diese Worte des Epikureers in Anwendung zu bringen, wenn man das hochtönende Phrasengeklingel so manches modernen Propheten vernimmt und dann sieht, wie das durch Wortschälle berauschte Publikum dem ebenso hohlen wie glänzenden Rhetor Beifall zujauchzt. Mit Bedauern und Ekel muß sich jeder von diesem Schauspiel abwenden, der auch nur von ferne die grandiose Einfachheit erkannt hat, mit welcher die Logik der Tatsachen wirkt.
Das größte Gewicht legte Epikur auf die Naturwissenschaft; sie allein gebe die notwendige Anschauung, ohne welche die Worte und Reden doch nur hohl und leer erscheinen; sie allein befreie den Menschen von den Schrecknissen des Aberglaubens und der Religion überhaupt wie von der Todesfurcht. Nur wenn man erkannt habe, was die Natur verlangt, was naturgemäß sei, werde man sittlich besser; nur aus der Kenntnis der Natur der Begierden folge die Mäßigung derselben und ihre Beschränkung auf das natürliche Bedürfnis.
Epikur ist also keineswegs ein Verächter der Wissenschaft überhaupt; wohl aber ist er ein Verächter des nicht Wissenswerten, der bloßen Wortmacherei und des theoretischen Gezänkes über erfahrungsmäßig nicht genug begründete Dinge, und das sind wir modernen Menschen auch. Und ebenso haben wir erkannt wie Epikur, daß der Schwerpunkt unserer Welt- und Lebensanschauung in der Naturwissenschaft ruht: nur auf ihr und mit ihr ist auch die Kulturwissenschaft möglich, deren praktisches Ziel als Lebenskunst bezeichnet werden muß.
Höherentwicklung der Menschheit in körperlicher und geistig-sittlicher Hinsicht, planmäßiges Streben zum vollkommenen Menschen im vollkommenen Staat, Fortschritt des Menschengeschlechts zur freien Selbstbestimmung ist nur möglich unter der Herrschaft der Vernunft. Vernunft aber ist der Inbegriff tiefster Einsicht in den Verlauf und die Gesetze des Natur- und Kulturgeschehens, wie sie nur auf Grund tatsächlicher Erkenntnis nach wissenschaftlicher Methode erreicht werden kann. Diese Einsicht wird, je weiter sie ausgreift und je tiefer sie eindringt, immer mehr zum bestimmenden Faktor für die Richtung des Geschehens, und ihr Träger, der Mensch, allerdings nur im kollektiven synergetischen Verband, wird durch sie, und nur durch sie, zum »Weichensteller im Unendlichen«.