Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Epikur wurde im Winter 342/1 auf der Insel Samos geboren, als Sohn des Atheners Neokles, der zehn Jahre vorher als Kolonist dorthin geschickt worden war. Sein Vater war nebenbei, wie berichtet wird, Elementarlehrer (Grammatodidaskalos), der den Kindern der Kolonisten das Lesen und Schreiben beibrachte; der Sohn soll ihm darin behilflich gewesen sein. Aber auch diese Kunst scheint nicht viel eingebracht zu haben, so daß auch noch die Mutter Chaerestrate sich gezwungen sah, das zum Unterhalt Nötige mit aufzubringen; sie tat es, wie man erzählt, indem sie in den Häusern umherzog und. mit »Besprechungen«, Hersagen mystischer Sprüche, böse Geister, Krankheitsgeister und dergleichen vertrieb; der Sohn soll sie auf ihren Umgängen begleitet haben.
Trotz der ärmlich beschränkten Verhältnisse seiner Eltern scheint der Sohn keine schlechte Ausbildung genossen zu haben. Es steht fest, daß er z. B. in seiner Jugend von dem Platoniker Pamphiles sowie von dem Demokriteer Nausiphanes unterwiesen worden ist. Wenn er später freilich von sich sagt, er sei das, was er geworden sei, ohne Lehrer durch sich selbst geworden, so scheint das ein wenig günstiges Licht auf den Unterricht der beiden Philosophielehrer zu werfen und die häufige Erfahrung zu bestätigen, daß einer trotz seiner Lehrer ein tüchtiger Mensch werden kann. Vielleicht aber kommt in jener Behauptung auch eine gewisse Eitelkeit zum Ausdruck, an der es Epikur nicht gefehlt zu haben scheint. Sicher ist, daß der Unterricht des Platonikers bei ihm nichts gefruchtet hat, wenn man nicht einen durchgehenden Gegensatz seiner Philosophie zu der platonischen als eine annehmbare Frucht betrachten will; sicher ist ferner, daß die Philosophie Demokrits seiner Natur gemäß war, so sehr, daß er ihr später die Grundlagen seiner eigenen Philosophie entnahm. Davon wird noch zu reden sein.
Nach seiner eigenen Aussage war er vierzehn Jahre alt, als er zu philosophieren begann. Er las die Theogonie Hesiods und darin die Verse:
Kündiget mir, wie die Götter zuerst und die Erde geworden,
Flüsse dann auch und unendliches Meer mit brausender Wallung,
Leuchtende Sterne, sowie dort oben die Räume des Himmels,
Welche der Götter daraus entsproßten, die Geber des Guten ...
All dies meldet, o Musen, und sagt mir: Was war denn zuerst?
Und zur Antwort geben die Musen:
Erstes von allem war das Chaos, und aus dem Chaos ist alles entstanden.
Und der junge Philosoph fragt seine Lehrer: Wenn alles aus dem Chaos entstanden ist, woher ist denn das Chaos? Darauf konnten ihm seine Lehrer nichts antworten, was ihm genügt hätte, und von dem an begann der junge Epikur auf eigene Faust zu philosophieren, als Autodidakt, wie die Schulphilosophie mit einem Stich ins Verächtliche zu sagen pflegt; d.+h. er dachte das, was ihm gemäß war, nicht das, was andere ihm mit beredten, aber hohlen Worten vorredeten.
In seinem achtzehnten Jahre kam er nach seiner Vaterstadt Athen, um dort seiner Dienstpflicht als Ephebe Genüge zu leisten. Es war das eine zweijährige Übungszeit im Gymnasium zur militärischen Ausbildung, die ihren Abschluß fand durch die Mündigkeitserklärung und Aufnahme in die Bürgerliste; im Heiligtum der Aglamos Aglamos war in der attischen Sage die Tochter des Kekrops, des ersten Königs von Attika, die sich in einem Kriege zur Rettung des Vaterlandes von der Burg stürzte; ihr heiliger Hain lag am Nordfuß der Akropolis. wurden darauf die Epheben mit Schild und Speer bewaffnet und eidlich zur Verteidigung des Vaterlandes verpflichtet.
Athen war zu dieser Zeit schon von seiner politischen Höhe herabgesunken; die kulturelle behauptete es noch fort und fort, und sicher ist der junge Epikur während seines zweijährigen Aufenthaltes in diesem Kulturzentrum davon nicht unbeeinflußt geblieben, sei es nun, daß die »theologische Luft, die damals in der platonischen Akademie wehte«, ihn für die ganze Zeit seines späteren Lebens zu einem Gegner der spekulativen Religion und zu einem Anhänger der »Philosophie der Sinnlichkeit« gemacht hat, oder sei es, daß die politische Zerfahrenheit und Ohnmacht des Athenerstaates ihm die Abneigung vor aller tätigen Politik eingeflößt hat, die später in seiner Lehre wie in seinem Leben so stark zum Ausdruck kam.
Die theologische Luft der platonischen Akademie verkörperte sich zu dieser Zeit in Xenokrates, dem dritten Vorsteher der Akademie nach Platon und Speusipp, in dem die mystisch-religiösen Neigungen des greisen Platon noch verstärkt auftraten; eine mystische Zahlenlehre, die alles auf die Drei bezog, eine mystische Götterlehre mit einer männlichen und einer weiblichen Gottheit und zahlreichen guten und bösen Dämonen, eine mystisch-asketische Sittenlehre, der die Befreiung des Geistes aus den Banden der Sinnlichkeit als Hauptsache galt, waren die Hauptlehren seiner Philosophie. Ob Epikur ihn gehört hat, läßt sich nicht mit Sicherheit bejahen oder verneinen; die negativen Beziehungen seiner eigenen zu dieser theologisch gerichteten Philosophie des Xenokrates lassen es jedoch als nicht unwahrscheinlich erscheinen, daß er während seines Aufenthaltes in Athen mit ihr bekannt geworden ist.
Als Epikur seine beiden Ephebenjahre abgedient hatte, starb Alexander der Große. Die Athener suchten die Gelegenheit zu einer Erhebung gegen die makedonische Herrschaft in Griechenland zu benutzen und begannen den Lamischen Krieg, der sich im Anfang für Athen aussichtsreich gestaltete, schließlich aber mit einer völligen Niederlage endete. Damit war das politische Schicksal Athens in die Hände des makedonischen Reichsverwesers Perdikkas gegeben; Perdikkas nahm den Athenern die Kolonien, die sie noch inne hatten, darunter auch Samos, und die Kolonisten wurden aus ihrem bebauten Besitz verjagt. Unter ihnen befand sich Epikurs Vater; er ging nach Kolophon ins Exil und der Sohn folgte ihm dahin, über die nächsten zehn Jahre seines Lebens fehlt uns jede Kunde; sie mögen dazu benutzt worden sein, sich auf den Beruf eines Lehrers der Philosophie vorzubereiten; denn im Jahre 310/9 finden wir Epikur, zweiunddreißigjährig, als solchen in der Stadt Mytilene auf der Insel Lesbos, etwas später in Lampsakos an der asiatischen Küste des Hellespont, »einem altberühmten Zentrum der jonischen Naturwissenschaft«. Hier wirkte Epikur einige Jahre und gewann seine treuesten und bedeutendsten Jünger, Metrodor, Polyaen, Idomeneus und Leonteus, und eine treue Gemeinde blieb auch später in Lampsakus bestehen, mit welcher der Meister brieflich und persönlich in Verbindung blieb; er hat sie später wiederholt besucht.
Wie Eduard Schwartz wohl richtig bemerkt, fühlte aber Epikur mit dem Instinkt, wie ihn Religionsstifter mehr als Nur-Philosophen besitzen, daß seine Lehre keine Aussicht hatte, sich durchzusetzen und zu einer dauernden Macht zu werden, wenn sie es nicht wagte, mit den mächtigen Organisationen, die Plato und Theophrast in Athen geschaffen hatten, mit der Akademie und der peripatetischen Schule in Athen selbst zu rivalisieren.
So kam er denn im Jahre 306 nach Athen und gründete dort eine eigene Schule, ungefähr um dieselbe Zeit, als Zenon aus Cypern ebenfalls in Athen die Philosophenschule der Stoa gründete. Und wie diese ihren Namen bekam von der Säulenhalle, der Stoa poikile, in welcher Zenon seine Unterweisungen abzuhalten pflegte, so erhielt Epikurs Schule ihren Namen von dem Garten, den er in Athen erworben hatte, und in dem er sich mit seinen Jüngern aufzuhalten pflegte; die Schule hieß »Der Garten«, und die Jünger Epikurs wurden »Die aus dem Garten« genannt. Vierzig Jahre lang blieb die Persönlichkeit des Meisters selbst der geistige Mittelpunkt des »Gartens«; um ihn sammelte sich ein idealer Freundeskreis, und die Anhänglichkeit an den vergötterten Lehrer, die Gleichheit der philosophischen Grundsätze, der Genuß eines freundschaftlichen Verkehrs, die alle Lebensverhältnisse bis ins einzelne hinein durchleuchteten und durchwärmten, hielten die Gemeinde Epikurs mit der Kraft einer Religion in seltener Innigkeit zusammen.
Dem »Garten« Epikurs gehörten auch Frauen an, so Themista, die Frau des Leonteus; daß auch Hetären in den epikureischen Freundeskreis aufgenommen wurden, wie die geistvolle Leontion, welche mit Epikurs Schüler und Freund Metrodor zusammenlebte, kann den nicht in Erstaunen setzen, der die damaligen Verhältnisse kennt; da waren die Hetären sehr oft nicht nur durch Schönheit, sondern auch durch Bildung ausgezeichnete Frauen, die in eigener Haushaltung lebten und die Männer um so mehr an sich zogen, als die Bürgerfrauen und Mädchen in ihrer beschränkten Bildung sich nicht im entferntesten mit ihnen messen konnten und durch die herrschende Sitte von Männergesellschaften ausgeschlossen waren. Aspasia, das Weib des Perikles, Laïs, Phryne, Thais, die Geliebte Alexanders, sind berühmte Vertreterinnen der klassischen Hetären, »Freundinnen«, wie das Wort im Deutschen besagt, und ihnen schließt sich Leontion würdig an. Die Aufnahme von solcherlei Hetären dem Epikureismus als ethische Minderwertigkeit anzurechnen, vermag nur historische und ethische Borniertheit.
Die Schule Epikurs hat schwer um ihre äußere Existenz ringen müssen, anders als die reich fundierte Akademie und der »Peripatos«; eine ärmliche Gesellschaft ists immer geblieben, und zu einem Epikureertum im Sinne eines üppigen und schwelgerischen Lebens, wie man sich dieses Philosophenleben auch heute noch vielfach deutet, haben die Mittel nie gereicht (Schwartz). Wie berichtet wird, hat der »Garten« aufs wohlfeilste und einfachste gelebt; sie waren mit einem kleinen Becher Wein, ja mit Wasser und Brot zufrieden und dabei vergnügt, und aus einem Briefe Epikurs ist die Stelle erhalten: »Schicke mir etwas Käse, damit ich einmal lecker essen kann, wenn mich die Lust dazu ankommt.« »Solch ein Mann war der, welcher die Lust zum Endziel alles Strebens machte!« ruft der Geschichtsschreiber der alten Philosophie, Diogenes Laërtius aus.
Ein festes Honorar für seine Unterweisung scheint Epikur nicht verlangt zu haben, wie die andern Philosophen es in der Regel taten; regelmäßige Beiträge zum Unterhalt seiner selbst wie seiner Schule bezog er aber von einzelnen seiner Freunde, die mit äußeren Gütern mehr gesegnet waren als die andern. In einem noch vorhandenen Brieffragment wird der (unbekannte) Adressat von Epikur aufgefordert, die Beisteuer, die er ihm bisher geleistet hatte, nach seinem Tode noch vier bis fünf Jahre den Kindern Metrodors und der Leontion zukommen zu lassen. In einem andern Brief sagt Epikur zwei Freunden, er nehme nicht mehr als 120 Drachmen (etwas über 90 Mark) von jedem an. Einmal, bei einer Belagerung Athens, verteilte Epikur selbst die spärlichen Rationen unter seine Jünger gemäß seinem Spruche: in Zeiten des Mangels und der Not verstehe der Weise das Geben besser als das Nehmen, da er selbst ja einen großen Schatz an seiner Genügsamkeit besitze.
So wirkte Epikur 36 Jahre lang in seinem Garten, lehrend, helfend, aufrichtend; im Jahre 270 erlag er einer schmerzhaften Krankheit, die er mit Standhaftigkeit und heiterer Ruhe getragen hatte; dem Tode nahe, schrieb er an seinen Freund Idomeneus: »Nachdem ich die Tage meines Lebens glücklich verlebt habe und nun vor dem Ende stehe, schreibe ich dir Folgendes: Meine körperlichen Leiden sind so groß, daß zu ihrer Größe nichts mehr hinzukommen kann; aber sie werden übertroffen von der Heiterkeit meiner Seele, die mir die Erinnerung an unsere Taten und Gedanken gewährt.«
So hoch die Persönlichkeit Epikurs den Seinen stand, an Verleumdern und Verkleinerern, die ihm allerlei anzuhängen suchten, hat es auch ihm schon zu seinen Lebzeiten nicht gefehlt, wie noch keinem, der sich von der Menge absondert und seine eigenen Wege geht. Hurerei, Völlerei, Zuchtlosigkeit, Schwelgerei, Schmeichelei, Unwissenheit, Prahlsucht, Schmähsucht und was noch alles hat man ihm nachgesagt. Diogenes Laertius sagt zu diesem allem: Die diese Vorwürfe erheben, die sind verrückt. Denn der Mann hat vollgültige Zeugen seines Wohlwollens gegen alle, sein Vaterland hat ihn mit kupfernen Bildsäulen geehrt, und seiner Freunde gibt es eine solche Menge, daß eine ganze Stadt sie nicht zu fassen vermöchte. Und weiterhin führt Diogenes an: seine Dankbarkeit gegen seine Eltern und seine Wohltätigkeit gegen seine Brüder, seine Leutseligkeit gegen seine Hausgenossen (Haussklaven) wie überhaupt seine allgemeine Menschenliebe. Seine einfache Lebensweise und seine Ehrfurcht gegen die Götter, sowie seine Liebe zum Vaterlande, die kaum mit Worten auszudrücken sei; nur aus übertriebener Bescheidenheit habe er an den Staatsgeschäften keinen tätigen Anteil genommen. Und obgleich damals schwere Zeiten auf Griechenland lasteten, sei er doch seinem Vaterlande treu geblieben und habe es nie verlassen, um etwa in einem anderen Lande ein besseres Leben führen zu können.
Fast scheint uns dieses Leumundszeugnis etwas zu sehr in Gold gemalt. Warum soll Epikur nicht auch einmal über die gelehrte Zunft ein beißendes Wort geäußert haben, die ihn und seine Bestrebungen gering schätzte und sicherlich nicht mit ihrer Kritik verschonte? Warum soll er nicht einmal in stolzem Unmut seine philosophische Überlegenheit über eine inferiore Philosophen-Clique in hochmütig erscheinenden Worten zum Ausdruck gebracht haben? Warum soll er nicht auch einmal Freude an einem üppigen Mahl, an einer wohlbesetzten Tafel gefunden haben, er, der gezeigt hatte, daß er auch mit Anstand zu hungern verstand? Warum nicht Wohlgefallen an schönen Frauen, geistreichen Gesprächen und dergleichen? Er, der die Kunst, in Schönheit zu leben, wie noch kaum ein anderer verstand, lehrte und betätigte.
Für die erhabene Größe seiner Persönlichkeit, der alles Kleinliche fern lag, spricht allein schon mit aller wünschenswerten Deutlichkeit die Fortdauer seiner Schule, die noch immer bestand, als fast alle anderen aufgehört hatten zu sein, und die unzählige Zweige, immer einen aus dem andern, bei seinen Schülern hervorbrachte. So sehr hatte diese Persönlichkeit ihrer Gemeinde das Gepräge aufgedrückt, daß es Jahrhunderte lang unverändert blieb. »Keine Kirche ist ihren Ursprüngen so treu geblieben wie diese Philosophengemeinde, die ohne Bann und Ketzergerichte jede zersetzende Entwickelung von sich fernhielt und solange überhaupt die antike Kultur sich behauptete, immer wieder Anhänger gewann, die sich freiwillig zu ihren Dogmen bekannten« (Schwartz). Nur von einem Abfall – Timokrates, der Bruder Metrodors – und nur von einem Überläufer – Metrodor von Stratonice, der von der epikurischen Schule zu Karneades überging – weiß die Geschichte des »Gartens« zu berichten. Und wie sehr der Stifter dieser Gemeinde von seinen Jüngern verehrt wurde, bezeugt der Umstand, daß in der epikureischen Schule noch zu seinen Lebzeiten nicht allein sein Geburtstag, sondern auch der zwanzigste jedes Monats ihm zu Ehren festlich begangen wurde. »Er hat die Liebe, die er ausstreute, in reicher Ernte wiederbekommen: seine Jünger haben ihn buchstäblich wie einen Gott verehrt, und dieser Heroenkult ist von den Epikureern mit einer Frömmigkeit und Andacht bewahrt worden, wie nur je ein Gottesdienst«. Noch vierhundert Jahre nach seinem Tode hat ein begeisterter Anhänger Epikurs in der Stadt Oenoanda in Lykien Bruchstücke aus einem seiner Briefe, ausgewählte Sprüche und andere Schriftstücke philosophischen Inhalts als Rieseninschrift an der Wand einer Säulenhalle einmeißeln lassen, zur Belehrung für Einheimische und Fremde, die seine Stadt besuchten.
Als Schriftsteller war Epikur äußerst fruchtbar, seine sämtlichen Werke füllten 300 Rollen; nur der Stoiker Chrysipp soll ihn in der literarischen Produktion übertroffen haben; aber während Chrysipp soviel zitierte, daß man Mühe hatte, seine eigenen Zutaten aus der Menge der Zitate herauszufinden, enthielten die Schriften Epikurs kein einziges Zitat. Das ist ihm freilich von der gelehrten Zunft, die sich immer gern zitiert sieht, höchst verübelt worden, ebenso wie die Klarheit seiner Schreibweise, die von den Dunkelschreibern, die selber keines klaren Gedankens fähig sind, natürlich als Oberflächlichkeit bezeichnet wurde. »Nehmen wir die drei Punkte zusammen,« bemerkt Friedrich Albert Lange in seiner ›Geschichte des Materialismus‹ Alfred Kröner Verlag. Bd. I. S. 78.: »daß Epikur Autodidakt war und sich keiner herrschenden Schule anschloß, daß er zweitens die Dialektik haßte und sich einer allgemein verständlichen Sprache bediente, endlich daß er nie zitierte und die Andersdenkenden in der Regel einfach ignorierte, so haben wir hier wohl einen wesentlichen Grund des Hasses, den so manche fachmäßige Philosophen auf ihn geworfen haben. Die Beschuldigung der Ungründlichkeit fließt aus derselben Quelle, denn noch heutzutage ist nichts verbreiteter als die Neigung, in unverständlichen, durch einen Schematismus zusammenhängenden Phrasen die Gründlichkeit eines Systems zu suchen.«
Von den vielen Werken Epikurs ist fast nichts auf uns gekommen. Immer wieder steht der Freund der griechischen Kultur vor der betrübenden Tatsache, daß die Menge der unschätzbarsten literarischen Dokumente für immer unter dem Schutt begraben liegt, in den der Orientalismus die griechische Kultur verwandelt hat, während so vieler Wust, bloß weil er von jenem zur Herrschaft gekommenen Orientalismus heilig gehalten wurde, oder weil er wenigstens seinen Anschauungen nahe zu stehen schien, bis auf den heutigen Tag als heiliges Gut uns überliefert worden ist.
Von Epikurs Schriftwerken sind außer seinem Testament und einem kurzen Brief an seinen Freund Idomeneus nur drei Lehrbriefe erhalten, einer an Herodot, der einen Abriß der epikureischen Naturlehre enthält, einer an Pythokles mit meteorologischen Erörterungen, und ein dritter an Menoekeus mit ethischem Inhalt. Einen Abriß seiner Ethik geben die von Diogenes Laertius mitgeteilten Kyriai doxai, Kernsätze zum Auswendiglernen. Zahlreiche Äußerungen Epikurs zitiert der Stoiker Seneca, der den Gartenphilosophen, anders als die meisten Philosophen der Säulenhalle, hoch schätzte.
Die Wirkung Epikurs reichte über Griechenland hinaus: Plutarch erwähnt seine Freunde in Asien und Ägypten; bekannt ist uns schon der Ausspruch des Diogenes Laertius, daß seine Freunde ganze Städte füllen könnten; auch Cicero spricht von magni greges amicorum, großen Freundesscharen, die sich in Epikurs Hause zusammengefunden haben. Doch hören wir auch von ihm wie von seinem Schüler die Klage, daß sie in Griechenland fast unbeachtet geblieben seien. Wahrscheinlich ist ihnen von seiten der Gelehrten nur geringe Beachtung zu teil geworden, und darüber konnte sich Epikur eigentlich nicht beklagen, da die gelehrte Einschätzung nur auf Gegenseitigkeit beruhte: machte er doch selbst kein Hehl daraus, wie niedrig er die reine Gelehrsamkeit einschätzte. Zudem war die Philosophie Epikurs, zumal die praktische, nicht eine Philosophie für alle, nicht einmal für viele, sondern nur für wenige.
In seinen Briefen an Lucilius erzählt Seneca: Du siehst, wie heutzutage Epikur nicht nur von den Gebildeteren, sondern auch von dem Haufen der Unwissenden bewundert wird – und in Athen selbst, wo er lebte, war er unbekannt. In einem Brief, in dem er seine Freundschaft mit Metrodor in dankbarer Erinnerung feiert, erklärt er zum Schluß: ihm und dem Metrodor habe es bei dem vielen Guten, das ihnen zuteil geworden sei, nichts geschadet, daß das berühmte Griechenland sie selbst nicht gekannt und kaum von ihnen gehört habe. Und Metrodor sagt ebenfalls in einem Brief: er und Epikur wären nicht besonders berühmt gewesen; aber, fügt er stolz hinzu, später würden er und Epikur einen großen und vielgenannten Namen haben.
Daß Epikur übrigens nicht darauf aus war, sich ein zahlreiches Publikum zu schaffen, erhellt unter anderm aus einer Briefstelle, die uns ebenfalls Seneca aufbewahrt hat S. Seneca, Vom glückseligen Leben (mit einer Auswahl seiner Briefe an Lucilius). Kröners Taschenausgabe.: »Dies,« so schreibt er einem Genossen seiner wissenschaftlichen Beschäftigungen, »dies schreibe ich nicht für viele, sondern für dich; wir sind einer dem andern ein hinreichendes Publikum.« Und ein anderer, auch von Seneca mitgeteilter Ausspruch lautet: Ich wollte nie dem Volke gefallen; denn was ich verstehe, gefällt dem Volke nicht, und was dem Volke gefällt, verstehe ich nicht.
Wie die griechische Philosophie überhaupt, so kam auch der Epikureismus zu Anfang des 2. Jahrhunderts, kaum hundert Jahre nach Epikurs Tode, nach Rom. Der Konservatismus Roms wehrte sich gegen die eindringende Macht, die den alten Geist der Frömmigkeit zu verdrängen drohte: unter dem Konsulat des L. Postumius (173) wurden zwei Epikureer, Alkaios und Philiskos, aus Rom ausgewiesen, »wegen ihres schlechten Einflusses auf die Jugend«, und Plutarch berichtet, daß in einzelnen Städten strenge Beschlüsse gegen den Epikureismus gefaßt worden seien. Aber die politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse hatten in Rom den Zeitgeist ähnlich werden lassen, wie er zweihundert Jahre vorher in Griechenland gewesen war, und wie damals aus dem Zeitgeist heraus der »Garten« und die Stoa entstanden waren, so kam er jetzt wieder den beiden Philosophien willig entgegen, als sie sich in Rom eine neue Heimat suchten.
Als der erste, welcher – um das Jahr 150 – der epikureischen Lehre durch Darstellungen in lateinischer Sprache unter den Römern Eingang zu verschaffen suchte, wird C. Amafinus genannt, und sie soll hier, wie hinzugefügt wird, bald zahlreiche Anhänger gefunden haben, die durch den Inhalt wie durch die leichte Verständlichkeit dieser Philosophie angezogen wurden.
In den Zeiten Ciceros (106-43) ist die Zahl der Epikureer in Rom schon beträchtlich. Cicero selbst handelt in seinen philosophischen Schriften mehrfach und zum Teil ausführlich über die Philosophie Epikurs, wenn auch in etwas leichter Weise; er hatte im Jahre 79 die damals berühmtesten Epikureer, Phaedrus und Zeus, in Athen selbst gehört, zusammen mit seinem Freunde Atticus. Epikureer war der bekannte C. Cassius, der mit dem Stoiker Brutus an der Spitze der gegen Caesar gerichteten Verschwörung stand.
Am nachhaltigsten hat jedoch Titus Lucretius Carus (97-55 v. Chr.)für den Epikureismus gewirkt, nicht nur in seiner, sondern in aller späteren Zeit. In seinem Lehrgedicht »Über die Natur« hat er sich, wie man annehmen darf, genau an Epikurs Naturlehre gehalten, und sein Werk ist darum eine unschätzbare Quelle für die Kenntnis der epikureischen Lehre geworden. Da wir öfter in die Notwendigkeit versetzt werden, bei der Darstellung der epikureischen Lehre auch Lukrez zu zitieren, sei es uns gestattet, auch noch über ihn und sein Werk etwas zu sagen. Es kann dies nicht besser geschehen als mit den begeisterten Worten, die Guglielmo Ferrero seinem großen Landsmann gewidmet hat, in seinem schönen Werke über die Größe und den Niedergang Roms (Bd. I, S. 328 f.):
In dem Sturm der pompejanischen Wirren, erregt von den Bürgerkriegen der Pompeius, Caesar und Crassus um den römischen Primat, »trat eine Windstille ein, während deren die Politiker und Feldherren Ruhe hielten; und der Zug ins Große, der diese Zeit kennzeichnet, trat nicht bei den Männern des Schwertes hervor, sondern bei einem Manne der Feder, einem Freunde Ciceros, der in einem verborgenen Winkel Roms hauste und an einem der großartigsten und kühnsten Werke der lateinischen Literatur arbeitete. Es war ein gewisser Titus Lucretius Carus, wahrscheinlich ein bescheidener Rentier, der in seinem kleinen Heim in Rom von den Einkünften irgend eines Besitztums lebte. Mit einer furchtbaren Krankheit behaftet, welche die Irrenärzte periodischen oder zirkulären Wahnsinn nennen, und die in einem Wechsel heftiger Erregungen und tiefer Schwermut besteht, hatte dieser geniale Kranke die Politik aufgeben und sich den Studien widmen müssen. Er lebte unter seinen Büchern, mit wenigen hochstehenden Persönlichkeiten freundschaftliche Beziehungen unterhaltend, ohne Ehrgeiz, ohne Geldgier, und fand seine Befriedigung in der Betrachtung der Unendlichkeit, wie sie ihm Epikur geschildert hatte: alles erfüllt von zahllosen Atomen, alles funkelnd von Sternen, alles von Welten bevölkert und eine ungeheure Lebenskraft atmend, während Rom und das römische Reich nichts war als eine kleine Klippe, verloren in dem ungeheuren schwingenden Ozean der Unendlichkeit.«
»Aber Lukrez war nicht ein bloßer Dilettant, der die heftige leidenschaftsvolle Welt hinter sich ließ, um seinen kranken Geist durch egoistische geistige Genüsse zu zerstreuen; im Gegenteil, er war ein glutvoller schöpferischer Geist, ein unermüdlicher Arbeiter, und in seiner Studierstube von ebenso unersättlichem Ehrgeiz erfüllt wie Lucullus im Waffenlärm des Lagers. Er verfaßt ein gewaltiges Gedicht über die Natur, in dem er seine Zeitgenossen auffordert, die Lügengötter, die sie bisher verehrt hatten, von ihren Thronen zu stürzen; er zieht allein als Eroberer aus, nicht um eine neue Provinz mit den Waffen zu gewinnen, sondern um sich in titanischem Ringen zum geistigen Herrn der Natur zu machen.«
»Noch war die Sprache der lateinischen Bauern damals rauh, arm, unbeholfen, und die Kunst der gebundenen Rede roh und unentwickelt. Lukrez machte sie sanft und geschmeidig, er läuterte sie im Feuer seiner Begeisterung, er hämmerte und streckte sie auf dem Ambos des Gedankens, und siehe, sie ward bildsam und klar. Und dann schrieb er mit dieser Sprache keinen trockenen reimgeschmiedeten Leitfaden einer abstrakten Theorie, sondern eine malerische und begeisterte Philosophie des Weltalls. Er brachte die höchste geistige Erhebung zum Ausdruck wie die schwelgerischste Empfänglichkeit, welche die menschliche Seele zu der Offenbarung des ewigen Wechselstroms im Leben des All entgegengebracht hat. Er sah die unendliche Natur bald in dunklem Schatten, bald in strahlendem Lichte, in Schwermut und in Freude, wie die Gefühle eben in seinem kranken Geiste wechselten. Er malte mit wunderbarer Lebhaftigkeit die sanften wie die furchtbaren Erscheinungen des Daseins, das Lächeln des Lenzes, das die sprossenden Wiesen nach dem Regen uns schenken, das muntere Spiel der Herden auf der Weide, das Tosen des entfesselten Sturmes in Flur und Wald, die gewaltigen Überschwemmungen der Ströme, die sanfte Ruhe und das bange Grollen des Meeres, das Streben des noch tierischen Menschen nach Befriedigung der leiblichen Bedürfnisse und nach Gesittung, die Schrecken und Seuchen des Krieges, das tolle Entsetzen vor dem Tode, den brennenden Liebesdurst alles Atmenden, die Ewigkeit und Einheit des Lebens, das im All durch die vergänglichen Formen der Wesen kreist. Die darin niedergelegte epikureische Theorie verbindet alle diese Episoden in der lebendigsten Einheit des großen feierlichen, fast religiösen Gedichtes, das, wenn nicht das vollkommenste, mindestens das großartigste Werk der lateinischen Literatur ist.« –
Gehen wir nunmehr zu der Betrachtung der epikureischen Lehre selbst über.