Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Die Schriften Demokrits sollen Epikur den ersten Anstoß gegeben haben, sich ganz der Philosophie zu widmen; er hat sich wohl selbst auch, wie berichtet wird, einen Demokriteer genannt. Auch Leonteus und Metrodor, die beiden Schüler und intimsten Freunde Epikurs bezeugen seine Verehrung für den Philosophen aus Abdera. Wenn daneben in den philosophischen Klatschgeschichten des Altertums erzählt wird, daß er sich auch abfällig über Demokrit geäußert habe, so kann sich das sicher nur auf einzelne Partien seiner Lehre bezogen haben, nämlich auf solche, in denen Epikur eine bessere Einsicht zu haben glaubte.
»Der Schüler vergilt seinem Lehrer schlecht, wenn er immer nur der Schüler bleibt.«
Dabei kann die Frage, ob die Einsicht des Schülers wirklich eine bessere ist, durchaus offen bleiben; ja im vorliegendem Falle läßt sich nachweisen, daß Epikur in eine Lücke der demokritischen Naturlehre eine Annahme einsetzte, die schlechter war als gar keine und die wie ein Fremdling in seinem ganzen Denken auftritt.
Wenden wir uns nunmehr zu der Darstellung der epikureischen Naturansicht. Das Grundprinzip des epikureischen Philosophierens war, alle Erscheinungen im Gegensatz zur teleologischen Auffassung der religiösen Weltansicht auf natürliche Ursachen zurückzuführen; die Einmischung irgend eines Gottes oder göttlichen Wesens in das Weltgetriebe wurde in feiner, fast darf man sagen, in ironischer Weise dadurch hintertrieben, daß man die Götter – in die leeren Zwischenräume der Welt versetzte, in die Intermundien, wo sie ein höchst beschauliches, im übrigen aber völlig untätiges und für die Natur wie für den Menschen ungefährliches Dasein führen durften. Wir kommen auf die Götterlehre des Epikur noch zu sprechen.
Nichts erscheint den Epikureern verkehrter als die Meinung, daß dem Werte, den die Dinge für uns besitzen, eine Absicht, ein Zweck zugrunde liege.
Nicht mit Bedacht und wohlüberlegter Weise haben die Stoffe sich in die gehörige Ordnung gefügt, noch einen Vertrag gemacht zu Bewegungen untereinander; sondern nur dadurch, daß viele davon auf mancherlei Weise verändert, im unendlichen All durch Stöße getrieben, sich banden, jegliche Art des Vereins und jede Bewegung versuchend, nur dadurch sind sie in eine Lage gekommen, wie sie jetzt in der Summe vorhandener Wesen besteht (Lukrez).
Nichts ist zum Besten der Menschen von Göttern geschaffen worden.
Einige aber, Unwissende, streiten dagegen und sagen, daß die Materie nicht ohne allen göttlichen Einfluß menschlichen Dingen so sehr sich anzupassen vermöge: Jahreszeiten zu wechseln und Früchte der Erde zu schaffen; ja auch das übrige noch, wozu die Sterblichen antreibt und sich selbst als Führerin zeigt die göttliche Wollust, daß sie in schmeichelnder Lust sich fortpflanzen mögen, damit nicht untergehe der Menschen Geschlecht. Doch wenn sie wähnen, die Unwissenden nämlich, daß die Götter nur alles des Menschen wegen geschaffen, so fallen sie tief hinab vom richtigen Wege der Wahrheit. Denn, selbst wenn ich die Natur ursprünglicher Stoffe nicht kennte, würd' ich mir doch getraun, aus des Himmels Beschaffenheit selber dreist zu behaupten und noch aus anderen Gründen: dieses Gebäude der Welt, mit solchen Mängeln behaftet, sei kein göttliches Werk, zu unserm Gebrauche erschaffen (Lukrez). So viele und große Strecken der Erde sind für den Menschen unbewohnbar, und dem bewohnten Teil muß der Mensch selbst in harter Arbeit seine Nahrung entreißen. Und ist endlich die Frucht durch Fleiß und Bemühung errungen, grünen und blühen die Felder umher zu fröhlicher Hoffnung, dann versengt sie vielleicht die Glut der erhabenen Sonne, oder der Regen ersäuft sie, oder des Windes Gewalt zerreißt sie in sausendem Wirbel.
Ferner, so fragt Lukretius weiter, warum erzeugt und nährt die Natur auf der Erd' und im Meere reißender Tiere Geschlechter zum Schrecken des Menschen? Warum bringt der Wechsel des Jahres uns tödliche Seuchen? Warum darf sich der Tod an Kinder und Säuglinge wagen?
Siehe das Knäblein; es liegt, bedürftig jeglicher Hilfe,
einem Gescheiterten gleich, den die Wut der Wellen heranwarf,
nackt am Boden, das Kind, nachdem an die Küsten des Lichtes
durch die Wehen es erst aus dem Schoße die Mutter hervorbracht'.
Traurig füllt es umher den Ort mit Wimmern, wie recht ist
dem, dem im Leben annoch so manches Abel bevorsteht.
Aber wie anders wächset das Vieh der Herden, das Wild auf,
Kinderklappern bedürfen sie nicht, noch schmeichelnder Ammen
lallendes Kosen, auch nicht den Wechsel veränderter Kleidung
nach der Witt'rung des Jahrs, nicht brauchen sie Waffen noch Türme,
um das Ihre zu schützen, denn alle versorget mit allem
reichlich die Erde selbst, und Natur, die bildende Mutter.
Alles bewirkend durch sich und nicht von den Göttern beeinflußt, schafft die Natur im unendlichen Werden sich selbst, immer dieselbe, und neu doch immer in ihren Kindern.
Scharf wendet sich der Epikureer im besonderen auch gegen die teleologische Betrachtung der Organismen, die jedes einzelne Organ zu einem besonderen Zweck geschaffen sein läßt.
Suche dich vor allem dem irrigen Wahn zu entziehen, als seien die glänzenden Lichter der Augen dazu geschaffen, daß wir sehen könnten; oder Beine und Schenkel und Füße, damit wir stattliche Schritte vorwärts setzen könnten; oder Arme und Hände, damit wir mit ihnen unsere Geschäfte verrichten könnten, und was alles noch in dieser Weise ausgelegt wird. Verkehrt ist alles, und es verdreht ein richtiges Urteil. Denn an dem Körper ist nichts des Gebrauches wegen entstanden, sondern erst aus dem Entstandenen ergibt sich der richtige Gebrauch. Jener irrigen Teleologie gegenüber wird umgekehrt behauptet: wir hören, weil wir Ohren haben, wir sprechen, weil wir eine Zunge haben, ja, lange vor der Entstehung der Sprache war die Zunge, lange vor dem Hören das Ohr – wie könnten sie geschaffen sein, damit wir sprechen, damit wir hören?
Es ist noch gar nicht so lange her, daß wir die teleologische Betrachtung der Dinge gänzlich überwunden haben; erst Darwin hat uns die Mittel an die Hand gegeben, die »Zweckmäßigkeit« in der Natur mechanisch zu erklären durch das Wechselspiel der Anpassung und Vererbung im Kampf ums Dasein, ganz im Geiste Goethes, der selbst das Problem des öfteren diskutiert und dabei jedesmal in schärfster Weise Stellung gegen die teleologische Betrachtungsweise genommen hat. Für ihn ist es sinnlos, zu fragen, wozu der Eber die Hauer hat; man darf nur fragen, warum er sie besitzt. Der Ochse hat nicht Hörner, um sich zu wehren, sondern er wehrt sich, weil er Hörner hat. So war es auch noch zu Goethes Zeit eine geläufige Betrachtungsweise – wie in religiös befangenen Kreisen jetzt noch – anzunehmen, daß die Tiere des Waldes und die Fische des Meeres deshalb geschaffen seien, damit der Mensch sie esse. Diese Anschauungsweise ist für Goethe ebenso unwissenschaftlich, wie sie es schon dem Epikureer war. »Die Vorstellungsart« (sagt Goethe)», daß ein lebendiges Wesen zu gewissen Zwecken nach außen hervorgebracht und seine Gestalt durch eine absichtliche Urkraft dazu dokumentiert werde, hat uns in der philosophischen Betrachtung der natürlichen Dinge schon mehrere Jahrhunderte aufgehalten und hält uns noch auf. Der Mensch ist gewohnt, die Dinge nur in dem Maße zu schätzen, als sie ihm nützlich sind, und da er, seiner Natur und seiner Lage nach, sich für das Letzte der Schöpfung halten muß: warum sollte er auch nicht denken, daß es ihr letzter Endzweck sei? Warum soll sich seine Eitelkeit nicht den kleinen Trugschluß erlauben? Weil er die Sachen braucht und brauchen kann, so folgert er daraus: sie seien hervorgebracht, daß er sie brauche. Und da er ferner an sich und an andern mit Recht diejenigen Handlungen und Wirkungen am meisten schätzt, welche absichtlich und zweckmäßig sind, so folgt daraus, daß er der Natur, von der er ohnmöglich einen größeren Begriff als von sich selbst haben kann, auch Absichten und Zwecke zuschreiben wird.« Diese Betrachtungsweise lehnt Goethe von Grund aus ab; er weist alle Endursachen zur Erklärung der Naturanschauungen zurück; für ihn ist auch in den organischen Naturgebieten nur eine rein kausale Betrachtungsweise möglich. Vgl. dazu Rudolf Magnus, Goethe als Naturforscher. Leipzig 1906. Zur Frage der Zweckmäßigkeit in der Natur überhaupt: Ernst Haeckel, Natürliche Schöpfungsgeschichte. Ausgabe in einem Bande 1911, S. 17 u. 775, sowie dessen Prinzipien der generellen Morphologie, 1906, S. 33 (Teleologie u. Causalität) u. S. 320 (Dysteleologie oder Unzweckmäßigkeitslehre).
Wie lange hat es gebraucht, um diese richtige Einsicht der griechischen Naturphilosophen, allen voran der Demokriteer und Epikureer, zum Gemeingut wenigstens der Wissenschaft zu machen, von der allgemeinen Weltanschauung ganz zu schweigen! Über zweitausend Jahre! Grund genug, beim Anblick dieser langwierigen Entwickelung mit seinen Anforderungen an die intellektuelle Fortentwickelung der Menschheit etwas sehr bescheiden zu werden.
Kehren wir nach diesen Erörterungen über den prinzipiellen Standpunkt der epikureischen Naturlehre zu dieser zurück, um sie auch im einzelnen noch genauer kennen zu lernen.
An die Spitze seiner Naturlehre stellt Epikur den Satz: Nichts kann aus nichts entstehen, und Lukrez fügt hinzu: auch nicht durch den Willen der Götter. Denn wenn dies möglich wäre, so könnte auch alles aus allem entstehen, nicht bloß aus den ihm eigentümlichen Stoffen, dem »Samen« jedes Dinges. Ebensowenig kann etwas zu nichts werden. Eins stellt die Natur aus dem andern her, und sie läßt nur immer Neues entstehen aus anderer Dinge Verwesung. Die Gesamtheit des Wirklichen ist mithin unveränderlich, unverminderbar und unvermehrbar. Wenn das (scheinbar) Verschwindende zugrunde ginge und sich in Nichts auflöste, so würde längst schon alles zugrunde gegangen sein. Und es war auch das Ganze (in seiner Gesamtheit) immer so, wie es jetzt ist, und wird immer so sein; denn es ist nichts, worein es sich verändern, nichts, in das es sich verwandeln könnte; denn außer dem Ganzen ist nichts, in welches es eingehen und verändert werden könnte. (Was alles ist, kann nicht zu etwas werden, was außerhalb des »Alles« liegt. Was ist, kann nicht zu etwas werden, was nicht ist.) Wirklich allein ist aber nur das Körperliche und der leere Raum, ein Drittes gibt es nicht: sei es was es auch sei, so ist es doch immer ein Etwas, das, groß oder auch klein, zum mindesten wirklich doch da ist. Läßt sichs berühren, so leicht und gering es immer auch sein mag, so ist es ein Körper; daß Körper vorhanden, beweist schon der gewöhnliche Sinn. Ist es jedoch unberührbar und so, daß es nirgends den Durchgang einem der Körper verwehrt, so ist es der Raum und das Leere (Lukrez). Wenn das nicht wäre, was wir das Leere, den Raum, die unberührliche Natur nennen, so hätten die Körper nichts, wo sie wären, sie könnten sich auch nicht bewegen; da wir doch aber Bewegung sehen, so muß etwas sein, das nicht von Körpern erfüllt ist: das Leere. Ohne leere Zwischenräume, meint Lukrez, könnte sich nicht die Nahrung durch den ganzen Körper der Pflanzen und Tiere verbreiten, könnte der Schall, die Kälte, das Wasser, das Licht (die alle als körperlich gefaßt werden) nicht durch feste Körper dringen. Ebenso zeugt für das Vorhandensein eines leeren Raumes die Tatsache des verschiedenen Gewichtes der Körper. Wäre dieselbe Masse von Körperlichem im Wollknäuel wie im Blei, so müßte die Schwere, die den Körpern eigentümlich ist, bei beiden die nämliche sein.
Es gibt also in Wahrheit nur Körper und den leeren Raum; alles übrige, welchen Namen man ihm auch geben mag, ist nur Zustand oder Ereignis.
Von den Körpern sind die einen zusammengesetzt; andere nicht. Diese einfachen Bestandteile, aus denen sich alles aufbaut, sind die Urkörper, die Samen und Stoffe der Dinge, die demokritischen Atome. Die Atome müssen unteilbar und unveränderlich sein; denn ginge die Teilung ins Unendliche weiter, so würde sich alles am Ende wieder in Nichts auflösen, und umgekehrt müßte ebenso alles aus Nichts geworden sein.
Man nehme an, sagt Lukrez, auch die Atome wären wieder teilbar und so fort ins Unendliche: wäre dann ein Unterschied zwischen dem kleinsten und dem größten Ding? Keiner! denn das Kleinste würde ebenso wie das Größte aus unendlich vielen Teilen bestehen. »Aber dagegen sträubt sich die Vernunft, sie verweigert den Glauben.«
Die Atome sind also unteilbar, sie haben keinen leeren Raum in sich (sind absolut dicht), und deshalb können sie nicht geteilt und nicht zerstört werden und nicht verändert: sie sind ewig.
Sie sind so klein, daß wir sie nicht sehen können; an ihrer Existenz ist dennoch nicht zu zweifeln, gibt es doch genug Dinge, die unleugbar vorhanden sind, obgleich kein Auge sie sehen kann: die Winde z. B., die das Meer aufpeitschen, die Wolken jagen, Bäume entwurzeln, alles mit sich reißen, was ihnen begegnet. Wir empfinden verschiedene Gerüche, die Hitze, die Kälte, die Stimmen und Töne. »All dies muß doch körperlicher Natur sein, denn wie könnten sie sonst den Sinn anstoßen und rühren? Nur ein Körper berührt und läßt sich auch wieder berühren.« Gewänder, am wellenbrechenden Ufer aufgehängt, feuchten sich an und trocknen wieder, der Sonne entgegengespreitet; dennoch sehen wir nicht, wie sie die Nässe des Wassers einziehen oder wie dieses an der Sonne verdunstet. »Also löst sich das Naß in kleinere flüchtige Teile auf, die das Auge zu fassen nicht fähig ist.« Der Ring am Finger verdünnt sich im Lauf der Jahre, der fallende Tropfen höhlt den Stein, die Erde des Ackers reibt das Eisen des Pfluges ab, die Hände der ehernen Götterbilder vor den Toren der Stadt sieht man durch die Berührung der Wanderer verkleinert. Wie damals, so heute: der Fuß der Petrus-Statue in der Peterskirche in Rom ist durch die Küsse der Gläubigen um mindestens ein Drittel in seinem Volumen verkleinert. »Augenscheinlich ists, daß sich dieselben vermindern; aber wie dies geschieht und welche Teile von ihnen die Zeit abließ, das ist unsern Augen verborgen.«
So macht Lukrez die Existenz von unsichtbar kleinen Atomen durch die Analogie verständlich.
Außer Größe, Gestalt und Schwere besitzen die Atome keine Eigenschaften; Farbe, Wärme, Geruch kommt ihnen an und für sich nicht zu; die Farbe resultiere aus der Stellung, der gegenseitigen Lage der Atome.
Die Gestalt und Größe der Atome muß unbestimmbar mannigfaltig sein, da sich sonst die zahllosen Unterschiede in den Dingen nicht erklären ließen; doch weist Lukrez auch, um die Mannigfaltigkeit der Dinge plausibel zu machen, auf die wenigen Lettern des Alphabets hin, die durch verschiedene Zusammenstellung so viele verschiedene Worte ergeben, wie diese wieder verschiedene Verse, ganze Schriftwerke, die gesamte Literatur. So werden von Epikur die Eigenschaften der Dinge aus der Gestalt und Anordnung der Atome und der Zusammensetzung verschiedenartiger Atome erklärt. Die Mannigfaltigkeit der Atome in Größe und Gestalt wird jedoch nicht als unbegrenzt angenommen; unbegrenzt nur ist ihre Zahl, und unbegrenzt ist der leere Raum; unbegrenzt ist demnach das Weltall und die Zahl der Weltkörper. Denn da alles Begrenzte durch ein anderes begrenzt wird, so kann das Weltall keine Grenze haben, jenseits deren noch etwas wäre, was nicht zum Weltall gehörte; es ist unmöglich, eine Grenze des Weltalls zu denken, ohne in logische Widersprüche zu geraten; daß der Gedanke des Unendlichen für uns unvollziehbar ist, darf uns nicht hindern, die Welt als unbegrenzt hinzustellen; es gibt für uns nur eine praktische Grenze der Welt: sie ist da, wo unser Wahrnehmungsvermögen erlahmt.
Lukrez bringt noch ein anderes Argument für die Unendlichkeit des Raumes: wäre der Raum, sagt er, begrenzt und endlich, so hätte die Masse des Stoffs sich längst durch eigene Last zu Boden gesenkt und wäre zusammengeflossen, und nichts könnte sich mehr ereignen. Lukrez würde heute wahrscheinlich ähnlich über den Satz von der Entropie argumentieren. Vgl. Ernst Haeckel, Die Welträtsel. Kröners Taschenausgabe S. 150.
Unendlichkeit des Raumes und Unendlichkeit der Zahl der Atome entsprechen einander; denn, sagt Epikur, wäre der Raum begrenzt, die Zahl der Atome aber nicht, so hätten diese keinen Platz; und wäre umgekehrt der Raum unendlich und die Zahl der Atome beschränkt, so würden sich diese im unendlichen Raume zerstreuen, und es würde nie zur Bildung von Weltkörpern kommen.
Die Atome befinden sich in ewiger Bewegung, sie fallen infolge ihrer Schwere beständig nach unten; und ihre Bewegung durch den leeren Raum, wo sie durch nichts aufgehalten werden, ist schneller als die Schnelligkeit der Sonnenstrahlen: in derselben Zeit, in der die Blitze der Sonne die Himmelsräume durchschießen, müssen sie dieselbe Strecke mehrere Male durchmessen. Wundre dich nicht, sagt Lukrez zu dem Freund, daß bei dem beständigen Umtrieb aller Atome das Ganze dennoch zu ruhen scheint, abgesehen von den sichtbaren Bewegungen der Körper. Da die Atome unsichtbar klein sind, so entzieht sich auch ihre Bewegung dem Auge; so wie uns eine Schafherde in weiter Ferne als ein weißer Fleck auf grünem Boden erscheint, in dem doch alles tatsächlich in lebendigster Bewegung ist.
Demokrit hatte angenommen, daß die Atome in ihrem Falle aufeinander treffen und infolgedessen Wirbel entstehen, die, indem sie sich weiter und weiter ausbreiten, zur Bildung von Weltkörpern führen. Epikur hielt einen solchen Zusammenstoß für unmöglich, wenn nicht die Atome im Fall etwas von ihrer geraden Bahn abwichen – aus freier Selbstbestimmung. Diese Annahme Epikurs bezeichnet seinen intellektuellen Sündenfall; sie ist, wie ich schon sagte, ein völliger Fremdling in seiner mechanisch-kausalen Welterklärung, anscheinend nur deswegen eingeführt, um damit – die Willensfreiheit des Menschen zu retten. Zweiter Sündenfall! Auch die Freiheit des menschlichen Willens gehört nicht in eine naturalistische Weltanschauung, als welche der Epikureismus doch sonst mit Recht auftritt. Die häufig unzutreffende, offenbare oder verborgene Angst, daß ohne Willensfreiheit keine Ethik zu begründen wäre, ist tatsächlich so völlig unbegründet, daß im Gegenteil keine Erziehung, keine Sitte, keine Moral, keine Rechtsordnung möglich wäre, wenn nicht auch die Handlungen der Menschen streng kausaler Gesetzmäßigkeit folgten, in welcher Vorschriften, Lehren und Gesetze als Motive und Ursachen wirken.
Mit Recht bemerkt Friedrich Albert Lange zu diesem Punkt: »Es ist schwer zu begreifen, wie man in dieser Lehre von der ›Willensfreiheit‹ einen Vorzug des Lukrez vor Epikur und einen Ausfluß seines kräftigeren sittlichen Charakters hat erblicken können; denn abgesehen davon, daß auch dieser Zug wohl sicher Epikur angehört, handelt es sich hier um eine vage Inkonsequenz der physikalischen Theorie, welche der sittlichen Verantwortlichkeit durchaus keine Stütze bietet. Man könnte im Gegenteil die unbewußte Willkür, mit welcher die Seelenatome den Ausschlag hierhin oder dorthin geben und dadurch die Richtung und den Effekt des Willens bestimmen, fast als eine Satire auf das equilibrium arbitrii ansehen, da unter keinem Bilde klarer gemacht wird, wie gerade durch die Annahme eines solchen Ausschlags im Gleichgewicht jeder feste Zusammenhang zwischen den Handlungen einer Person und ihrem Charakter aufgehoben wird.« Hier sei also nochmals konstatiert: die Annahme freier Selbstbestimmung der Atome bedeutet einen Sündenfall Epikurs; gemildert wird er durch die Tatsache, daß die freie Selbstbestimmung der Atome sonst nirgends mehr zu Hilfe gerufen wird.
Aus der Wirbelbildung, die nach dem Zusammenstoß der Atome bei Epikur ebenso wie bei Demokrit entsteht, gehen die Welten hervor. Es ist eine einfache Folgerung dieser Theorie, daß der Stoff der Welt überall im wesentlichen als gleich angenommen wird: aus ähnlichem Stoff sind Erde und Himmel gebildet, die Sonne, das Meer, aus ähnlichem Pflanzen, und Tiere; nur der verschiedene Grad verschiedener Mischung bestimmt ihre Verschiedenheit.
Als »Welt« bezeichnet Epikur einen gewissen Umfang des Himmels, der die Gestirne, die Erde und alles Sichtbare umschließt und gegenüber dem unendlichen Weltenraum eine relative Abgeschlossenheit besitzt. (Vielleicht ist es richtig zu sagen, daß Epikur unser Milchstraßensystem als eine »Welt« anzusehen bereit wäre.) Solcher Welten gibt es nach Epikur unendliche, gemäß dem unendlichen Raum sowie der unendlichen Zahl der Atome, und diese unendliche Zahl von Welten ist in einem ewigen Werden und Vergehen, ihre Atome treten zusammen und lösen sich wieder voneinander und gehen neue Verbindungen ein und so fort. Infolge der zahllosen Verbindungsmöglichkeiten der unbestimmbar mannigfaltigen Atome sind auch die entstehenden Welten von größter Mannigfaltigkeit, doch ist es nicht ausgeschlossen, daß unter der unendlichen Zahl von Welten diese oder jene der unsrigen ähnlich oder gar gleich ist, und da in der unendlichen Zeit alle denkbaren Atomenverbindungen entstehen konnten, so kann nie etwas geschehen, was noch niemals dagewesen ist.
Die ewige Wiederkunft des Gleichen!
Zwischen den einzelnen Welten befinden sich leere Zwischenräume, Intermundien, in denen, wie wir wissen, die Götter interniert sind. Da aber nach Epikur auch in diesen Intermundien Welten entstehen können, aus Atomen, die durch Auflösung benachbarter Welten frei werden, so müssen wohl oder übel die Götter zeitweilig aus ihrer beschaulichen Ruhe aufgestört und umquartiert werden.
Verfolgen wir nun den Weltprozeß, wie er nach Epikur zur Bildung unserer Welt, unserer Erde und der irdischen Dinge geführt hat. Lukrez gibt eingehenden Bericht davon, »wie jener Wurf des uranfänglichen Stoffes gründete Himmel und Erde, die tiefen Schlünde des Weltmeeres, den Lauf der Sonne, des Mondes.«
Von Ewigkeit her auf mancherlei Weise getrieben, teils durch eignes Gewicht, teils durch Stöße von außen, ohne Plan, ohne Ziel, hat sich die Menge der Atome zuerst auf allerlei Weise gemischt, allerlei Wege versucht, bis nach langem Verlauf in unendlichem Zeitraum jene sich zusammenfanden, die den Urkeim der Erde, des Meeres, des Himmels, der lebenden Wesen bildeten. Hier wird von vornherein jede Teleologie, jeder Gedanke an eine vor der Schöpfung stabilierte Zweckmäßigkeit zurückgewiesen. Das Zweckmäßige ist nur ein Spezialfall des Naturgeschehens, es ist das, was sich unter unendlichen Bildungen, unter gegebenen Verhältnissen erhalten kann. »Eine Welt, die sich selbst erhält, ist danach nur der eine Fall, der bei unzähligen Kombinationen der Atome sich im Laufe der Ewigkeit von selbst ergeben muß, und nur eben der Umstand, daß die Natur dieser Bewegungen darauf führt, daß sie sich im großen ganzen erhalten und immer neu ergänzen, gibt den Verhältnissen dieser Welt die Dauer, deren wir uns erfreuen.« (Fr. A. Lange.)
Wir begegnen demselben Gedanken später noch einmal bei der Lehre von der natürlichen Entstehung der Lebewesen.
Damals, in jener Urzeit, gab es noch nicht, Ströme des Lichtes verbreitend, die Sonne; die Sterne waren noch nicht, nicht Meer noch Erde noch Himmel, nichts als die chaotische neue zusammengedrängte Masse. Verbindungen entstanden und lösten sich wieder, bis sich zusammenfand, was zusammenpaßte. Zuerst vereinigten sich so die Stoffe der Erde, weil sie die schwersten waren, und indem sie sich zusammendrängten, preßten sie die Stoffe hervor, aus denen sich das Meer und die Sterne, Sonne und Mond bildeten; allen voran der Äther, der aus den feinsten und leichtesten Atomen besteht, sodann die Stoffe, aus denen sich der Mond und die Sonne bildeten, schwerer als der Äther und leichter als die Erde; infolge dieses Verlustes sank gleichzeitig die Erde ein an den Stellen, wo jetzt sich ausdehnt die bläuliche Fläche des Meeres. Unter der Einwirkung der Ätherglut und der Sonnenstrahlen zog sich die Erde noch mehr zusammen und preßte den »salzigen Schweiß« aus, das Meer, Täler senkten sich ein, es entstanden hochragende Berge.
Aber auch noch nach der Geburtszeit unserer Welt, nachdem Erde und Meer und Sonne gebildet waren, kamen von außen noch viele Körper hinzu, viele »Samen«, Atome, hergeschleudert aus dem großen Ganzen.
Machen wir hier eine kurze Pause, um Epikur auch über seine Ansichten in speziellen Fragen der Naturwissenschaft zu befragen.
Wir wissen, daß Epikur die Physik nur um der Ethik, der Lebenskunst willen schätzte, weil sie allein geeignet sei zur Überwindung der religiösen Vorurteile und der aus ihr entspringenden Furcht. Dazu aber genügt es, die allgemeinen Ursachen der Dinge zu kennen; in der speziellen Physik befleißigt sich der Epikureer einer weisen Zurückhaltung seines Urteils, er hält es für falsch, sich einer speziellen Theorie zu verschreiben und hält sich verschiedene Erklärungsmöglichkeiten offen, wenn sie nur natürlich sind und keinerlei Einmischung der Götter postulieren; eine von diesen Möglichkeiten allein für die einzig richtige ausgeben, heißt ihm in den meisten Fällen über die Grenzen der Erfahrung hinausgehen und in die Willkür der religiösen Erklärung zurückfallen.
Vielleicht, heißt es bei Epikur, bewegt sich die Welt, vielleicht steht sie still. Vielleicht ist sie rund – vielleicht dreieckig oder sonstwie gestaltet. Vielleicht erlöschen die Sonne und die Sterne bei ihrem Untergang und entzünden sich wieder beim Aufgang – vielleicht verschwinden sie unter der Erde und kommen wieder hervor, oder es kommen noch andere Gründe in Frage. Vielleicht beruht die Zu- und Abnahme des Mondes auf einer Drehung des Mondkörpers, vielleicht aber auch auf einer Gestaltung der Luft, oder auf wirklicher Zu- oder Abnahme, oder auf sonst einer Ursache; vielleicht leuchtet der Mond mit fremdem, vielleicht aber auch mit eigenem Licht: in der Erfahrung finden wir sowohl Körper, die eigenes, als auch solche, die fremdes Licht haben.
Der letztere Zusatz zeigt, daß es Epikur durchaus nicht gleichgültig sein kann, welche Erklärung schließlich die Oberhand behalten soll: es ist immer die, die durch die Erfahrung bestätigt wird. Aber Epikur hält es in dieser wie in ähnlichen Fragen für unmöglich, auf Grund der damals vorhandenen mangelhaften Erfahrungstatsachen eine bestimmte Entscheidung zu treffen und zeigt sich darin vorsichtiger als mancher moderner Naturforscher, der seine mangelhaft begründete Hypothese für ausschließend richtig hält, oder andere, »auch moderne« Naturforscher, die aus der derzeitigen Unmöglichkeit einer sicheren Erkenntnis in dieser oder jener Frage die seltsame Berechtigung ableiten, ein Ignobimus auszusprechen oder gar in die Naturerklärung den wundertätigen Gott wieder einzuführen.
Entschieden zu weit geht auch die Meinung von Ed. Schwartz, daß Epikur grundsätzlich auf die exakte Erklärung der Naturvorgänge keinen Wert lege, und daß er die wissenschaftlichen Aufgaben, die Demokrit der Nachwelt gestellt habe, verächtlich beiseite schiebe. Das Gegenteil ist der Fall: nur auf die exakte, erfahrungsmäßige Erklärung will Epikur das Naturstudium begründet wissen, wie er gegenüber den wilden Hirngespinsten der spekulativen Naturphilosophen betont; und daß er selbst sich nicht der exakten Forschung zugewendet habe, das kann ihm nur der zum Vorwurf machen, der ihm andere Aufgaben stellt, als er selbst, seiner Geistesrichtung gemäß, sich stellen konnte. Er war Philosoph, nicht Naturforscher; nicht neue Erkenntnisse wollte er seinen Jüngern bringen, sondern eine neue Wertung des Lebens.
Daß sich mit der »ebenso tiefsinnigen als behutsamen Methode« Epikurs die Annahme der größeren Wahrscheinlichkeit einer bestimmten Erklärung durchaus vereinigen läßt, betont Fr. A. Lange mit Recht.
Kehren wir danach zurück, um mit dem epikureischen Dichter die Entwickelung der Erde und ihres Lebens weiter zu verfolgen.
Die neugeborene Erde trieb Pflanzen und Kräuter hervor und erzeugte lebende Wesen von mancherlei Art, durch verschiedene Verbindung verschiedener Stoffe. Denn vom Himmel herab sind die Tiere nicht gefallen, noch aus salzigem Sumpf die Bewohner der Erde gestiegen; mit Recht behauptet die Erde den Mutternamen, da alles aus ihr entstanden ist: die Geschlechter der Tiere wie der Menschen. Unter ihnen waren, wie schon Empedokles angenommen hatte, auch seltsame Mißgeburten, aber sie gingen wieder zugrunde, ohne sich fortzupflanzen; nur diejenigen erhielten sich, die sich zu ernähren, fortzupflanzen und vor Gefahren zu schützen wußten. Also auch hier ist jede Teleologie, jede Annahme einer vorbestimmten Zweckmäßigkeit ausgeschaltet: das Zweckmäßige ist nichts als ein Spezialfall des Entstehenden; es ist das, was sich erhält, oder was zur Erhaltung eines Entstandenen dient. Die Teleologie stellt den wahren Sachverhalt nur einfach auf den Kopf. –
Die Menschen der Urzeit waren nach Lukrez von härterer Natur als die jetzigen, ausgerüstet mit mächtigem Knochenbau. Weder Hitze, noch Frost, noch ungewohnte Nahrung konnte ihnen etwas anhaben. So lebten sie dahin der Jahre rollenden Kreislauf, umherschweifend wie die Tiere des Feldes, unkundig des Ackerbaues, von Eicheln, Früchten des Erdbeerbaumes und anderer wildwachsender Kost sich ernährend, an Quellen und Flüssen ihren Durst stillend.
Noch kannten sie nicht den Gebrauch des Feuers, kleideten sich nicht in Felle, wohnten in Hainen, Wäldern und Höhlen, bargen unter Gebüsch die schmutzigen Glieder. Mit geschleuderten Steinen und mit Keulen erlegten sie die Tiere des Waldes, die sie schnellfüßig erjagten oder leichtfüßig beschlichen.
Unbekümmert um das gemeinsame Wohl, kannten sie keine Sitten, keine Gesetze; was der Zufall jedem in den Weg führte, das nahm er zum Raub, jeder nur besorgt um sein eigenes Leben und Wohlergehen.
Auf die Gefahren der Urzeit kommend, zieht der epikurische Dichter scharfe Vergleiche: Damals mußte wohl mancher sein Leben unter den Zähnen reißender Tiere aushauchen – aber noch kamen nicht Tausende an einem Tage um unter den Führern. Damals gab wohl öfter Mangel an Nahrung den ausgezehrten Gliedern den Tod – aber noch erdrückte sie nicht Übermaß und Schwelgerei. Damals ging wohl mancher am Genuß eines giftigen Stoffes zugrunde – heute bereitet man Gift für andere. –
Durchaus natürlich wird die Entstehung der Sprache geschildert: wie die Natur selbst dazu zwang, bei verschiedenen Anlässen verschiedene Laute auszustoßen, ähnlich wie auch die Tiere ihre Furcht, ihren Schmerz, ihre Freude durch ganz verschiedene Laute zum Ausdruck bringen. Der Molosserhund, der knurrend die Zähne zeigt, laut bellt, beim Spiel seine Jungen ankläfft, im Hause zurückgelassen heult, oder winselnd mit eingezogenem Rücken den Schlägen entflieht, gibt dabei die verschiedensten Töne von sich, welche den verschiedensten Innenzuständen entsprechen. Die Anwendung solcher Naturlaute beim Anblick bestimmter Dinge, bei bestimmten Vorgängen und Ereignissen ergab die Wörter, in ihrer Zusammensetzung die Sprache. Es ist töricht, sich einzubilden, es habe irgend ein einzelner Mensch den Dingen Namen gegeben, und daß von diesem die anderen sie gelernt hätten; wie hätte auch einer die Macht gehabt, die anderen zu zwingen, die Namen anzuhören, die er erfunden hatte? Keiner wäre so gefällig gewesen, sich die Ohren mit unverstandenen Lauten betäuben zu lassen.
Allmählich lernten die Menschen Hütten bauen, Felder bearbeiten, das Feuer benutzen; die Bande des Familienlebens knüpften sich, und das Menschengeschlecht begann milder zu werden. Die Nachbarn begannen Freundschaft anzuknüpfen, zuerst, um sich gegenseitig keinen Schaden mehr zuzufügen, sodann auch zur gegenseitigen Hilfe; Schonung der Weiber und Kinder wurde eingeführt. »Freilich herrschte noch nicht bei allen gleiches Verständnis, aber ein großer und guter Teil hielt treulich die Abmachungen: aufgerieben hätten sich sonst die Menschen schon damals und ihr Geschlecht hätte sich nicht bis heute erhalten.«
Lukrez gibt damit sehr treffend die Entstehung und den Grund der sozialen Moral an: sie ist ein Mittel zur Erhaltung im Kampf ums Dasein. Vergl. dazu Darwin, Die Abstammung des Menschen. X. Kapitel. Kröners Taschenausgabe.
Immer mehr Fertigkeiten und Künste lernte der Mensch, die zur Erhaltung des Lebens und zur Steigerung der Lebenshaltung dienten. Nicht von Göttern und göttlichen Wesen wurden sie ihm beigebracht, wie die Religion wollte: die Dinge, Ereignisse, Zufälle selbst belehrten ihn; erst nach mancherlei Irrwegen, durch seine Natur und Bedürfnisse zu blinden Versuchen gedrängt, kam der Mensch auf das Richtige, das sich dann durch seinen offenbaren Wert erhielt, in bleibenden Gebrauch kam und durch Nachdenken verbessert wurde, bei dem einen schneller, dort langsamer, hie und da erst nach langen Zeiträumen.
Das Feuer erhielt die Menschheit durch Blitze, oder durch Entzündung von Ästen, die durch den Sturmwind aneinander gerieben wurden. Speise zu kochen lehrte die brennende Sonne. Die Hände, die Nägel, die Zähne waren die ältesten Waffen und Werkzeuge; auch Baumäste und Steine; auf die Metalle wurde man aufmerksam, als große Waldbrände die natürlich vorkommenden Erze geschmolzen hatte. Zuerst hüllte man sich in Felle, dann in geflochtene, endlich in gewobene Stoffe. Das Vorbild und die Anleitung zu Pflanzung und Feldbau gaben die Pflanzen selber: Beeren und Eicheln fielen herab und unten sproßte die junge Brut auf. Die Anleitung zur Musik gaben die Vögel; Zephyrs Säuseln im hohlen Rohr belehrte den Landmann in den gehöhlten Halm zu blasen: so lernten sie allmählich die Kunst des Flötenspiels. Die gesetzmäßige Folge der Zeiten und Jahre lehrte die regelmäßige Bewegung der Gestirne erkennen. Es folgte die Erfindung der Schrift, Dichtkunst, Malerei: so brachten die Zeit und das Nachdenken allmählich alles zum Vorschein; denn wir bemerken es wohl, daß in den Künsten sich eins aus dem andern erhebt, bis sie zuletzt den erhabensten Gipfel erreichen.
In derselben natürlichen Weise entwickelte sich das gesellschaftliche und staatliche Leben. Einzelne, durch die Kraft des Körpers und des Geistes ausgezeichnete Männer gründeten Städte und Burgen und verteilten Acker und Vieh unter ihre Anhänger. Als später das Gold entdeckt wurde, verdunkelte sein Glanz das Ansehen der Starken und Schönen: denn in das Gefolge des Reichen begibt sich gemeiniglich jeder. Aber mit dem Anwachsen der Macht und des Reichtums erhob sich auch der Neid und die Eifersucht: die Herrscher werden gestürzt und in wilder Anarchie herrscht die rohe Menge, bis sich das Menschengeschlecht, müde der ewigen Kämpfe und des Lebens unter der Gewalt, dazu verstand, Obrigkeiten zu wählen und sie mit gesetzlicher Macht auszustatten.
Man muß anerkennen, daß in all diesen Ausführungen des genialen epikureischen Dichters sehr viel Wahres enthalten, und daß seine Darstellung der Menschheitsentwickelung im großen und ganzen wohl den Tatsachen entsprechen dürfte. Man vergl. dazu außer Darwins Abstammung des Menschen (Kröners Taschenausgabe): Hoernes, Natur- und Urgeschichte des Menschen. Wien und Leipzig, 1910.
Ebenso naturalistisch wie seine ganze Naturlehre ist nun auch die Seelenlehre Epikurs.
Die Seele ist, wie alles Wirkliche, ein Körper. Sie ist ebenso ein Teil des Menschen wie etwa die Hand, der Fuß, das Auge. Sie besteht aus den feinsten, leichtesten, rundesten, beweglichsten Atomen; dies folgt aus der Schnelligkeit der geistigen Bewegungen, sowie daraus, daß der entseelte Körper noch ebenso schwer ist wie der beseelte. Ebenso wie dem Weine die Blume entfliegt, der Salbe ihr lieblicher Duft, die auch als feinster Stoff in ihnen enthalten sind, ohne daß eine Abnahme ihrer Schwere bemerkbar wird.
Vierfach gemischt soll dieser Seelenstoff sein: ein namenloser, allerfeinster Stoff, die »Seele der Seele«, die Grundkraft, die zuerst erregt wird und ihre Erregung sodann einem verborgenen Hauch mitteilt, wie diese der Wärme und diese der Luft. Diese alle sind untrennbar zu einem Seelenstoff gemischt, tun sich aber in verschiedener Weise hervor, und je nach der Mischung der Stoffe bestimmt sich das verschiedene Temperament des Menschen.
Diese Geistesnatur ist ganz vom Körper umfangen; sie ist der Urgrund seiner Erhaltung. Beide hängen fest an einer Wurzel zusammen. Keins kann vom andern sich trennen, ohne daß beide zerstört werden, ebenso wie vom Weihrauch nicht der Duft genommen werden kann, ohne ihn selbst zu zerstören. Keins kann ohne das andere besondere Kräfte ausüben, so wenig der Geist als der Körper.
Die Seele des Kindes entsteht bei der Zeugung als Ableger der elterlichen Seelen. Den Samen hält Epikur für ein psychophysisches Teilchen des elterlichen Körpers, und da er auch ein weibliches »Sperma« annahm, so muß also die Seele des Kindes aus einer Mischung von Seelenatomen beider Eltern entstanden sein. (Den Samen selbst läßt er aus dem Zusammenfluß kleinster Teilchen aus dem ganzen Körper entstehen, ähnlich wie Darwin in seiner Theorie der Vererbung, die er als seine »provisorische Theorie der Pangenesis« bezeichnet hat.)
Wie die Seele mit dem Körper zugleich erzeugt ist, so wächst sie auch mit ihm, leidet mit ihm, schläft mit ihm, wird mit ihm durch reichlichen Weingenuß betrunken gemacht, wird mit ihm krank und löst sich mit ihm im Tode auf in ihre einzelnen Atome.
Ausführlich handelt Lukrez von der Vergänglichkeit der Seele. Ist die Seele unsterblich, so fragt er, und schleicht sie etwa bei der Geburt in den Körper des Menschen: wie kommt's, daß man sich der vorhergegangenen Jahre nicht erinnern kann? Warum blieb denn nirgends eine Spur von dem, was sie früher erlebte? Warum vererbt sich die mordgierige Wut immer im Löwengeschlecht? Die List in den Füchsen? Die scheue Furcht im Reh? Ists nicht deshalb, weil die Seele aus bestimmtem »Samen« entsteht, zugleich mit dem Körper, und mit diesem heranwächst? Ist es nicht heller Unsinn, das Sterbliche mit dem Unsterblichen paaren zu wollen, einen sterblichen Leib mit einer unsterblichen Seele? Ist es nicht im höchsten Grade lächerlich, zu denken, daß immer eine Anzahl Seelen auf der Lauer ständen, um bei der Zeugung oder bei der Geburt hurtig in den Leib des neuen Wesens einzufahren und ihn besetzt zu halten, bis er baufällig wird und zerfällt, und dann von neuem auf die Wohnungssuche auszugehen? Nein, es ist vernünftiger, die Seele als ebenso sterblich zu denken als den Körper.
Weit entfernt, daß diese Ansicht von der Sterblichkeit der Seele eine trostlose Aussicht eröffnete! Hört doch mit dem Leben auch jede Empfindung eines Übels auf, und die Zeit, in der wir nicht mehr sind, berührt uns so wenig wie die, in der wir noch nicht gewesen sind. Solange wir sind, ist der Tod nicht, und ist der Tod, so sind wir nicht mehr. Der kann nicht elend werden, der nicht mehr ist: im Tod ist für uns nichts zu fürchten. In der Scheu vor dem Tode liegt immer noch ein heimlicher Rest der Vorstellung, daß er selbst es sei, als ein empfindendes Wesen, das am Boden fault, oder von Flammen verzehrt, von Raubtieren zerrissen wird; und selbst indem er leugnet, diese Vorstellung zu haben, hegt er sie noch und nimmt sich, das empfindende Subjekt, nicht vollständig genug aus dem Leben heraus. Wenn aber etwa eine künftige Konstellation die Stoffe unseres jetzigen Daseins wieder sammeln und in eine gleiche Lage wie jetzt bringen sollte, so würde das eben ein neues Leben sein, das mit unserm jetzigen durch nichts verbunden wäre. Weit entfernt also, daß die Überzeugung von dem völligen Nichtsein etwas Schreckliches an sich habe, gibt sie vielmehr die tröstliche Aussicht auf ewige Ruhe, benimmt sie auch dem noch Lebenden die Furcht vor den Schrecknissen der Unterwelt.
Was die Religion von den Seelen erzählt, die sich in der Unterwelt befinden, das ist alles bei uns im gegenwärtigen Leben. Nicht ein Tantalus wird in der Unterwelt von Furcht vor dem Felsen bedrückt, der über seinem Haupte droht, sondern die Sterblichen werden im Leben so durch die nichtige Furcht vor Göttern und vor dem Tode geängstigt. Nicht der Riese Tityos wird in der Unterwelt ewig von Geiern zerfleischt, sondern jeder, den die Qualen der Liebe oder sonst einer Leidenschaft verzehren. Nicht Sisyphos wälzt in der Unterwelt den ungeheuren Steinberg, der alsbald vom Gipfel wieder herabrollt, sondern jeder, der nach Würden und Ämtern trachtet. Den Jungfrauen, die immerfort Wasser in ein durchlöchertes Faß schöpfen, gleicht der, der die Freuden des Lebens nicht zu schätzen weiß und sich nie an den Gütern des Lebens ergötzt.
Auch der Gedanke an eine vergeltende und ausgleichende Gerechtigkeit braucht nicht notwendig dazu zu führen, ein »Jenseits« zu fordern: schon im Leben schrecken harte Strafen die verbrecherische Tat, oder das schuldige Gewissen peinigt mit brennender Geißel.
Aber ist nicht doch der Gedanke an das völlige Ende schrecklich? Nicht mehr empfängt dich dein freundliches Haus, noch die treue Gattin; nicht mehr kommen dir die lieblichen Kinder entgegen, mit schweigender Wonne dich labend. Nicht mehr kannst du fruchtbare Taten vollbringen, nicht mehr den Deinen Schutz und Hilfe sein.
So sagt man, aber vergißt, hinzuzusetzen: Es wird mich auch kein Verlangen nach all dem mehr quälen.
Ja, du, wie du hier liegst, entschlummert, du wirst freilich für alle Zeiten von Kummer und Schmerz erlöst sein; wir aber bleiben in Kummer und Trauer zurück.
Wenn doch, so frag ich zurück, zuletzt alles auf Ruhe und Schlummer hinausläuft, was ist dann so Herbes im Tod, daß sich darum der Mensch in ewiger Trauer verzehren sollte? Und muß nicht immer das Alte weichen, um dem Neuen Platz zu machen? Sind nicht Könige und Helden und Weise gestorben, und du Mensch, dessen Leben so wenig Wert hat, sträubst dich, ihnen zu folgen?
Was ist dir, Sterblicher, daß du dich so sehr in kläglicher Trauer abhärmst? Warum beklagst und beweinst du den Tod? War anders das Leben, das du bis jetzt geführt, ein angenehmes Geschenk, sind nicht alle Freuden, die der Tag dir bot, dir wie durch ein zerlechztes Gefäß entronnen: warum stehst du nicht auf wie ein satter Gast von der Mahlzeit und nimmst mit willigem Herzen die sichere Ruh an? Und ist es nicht endlich ein erhabener Gedanke, wieder zu dem Urgrund des Daseins zurückzukehren, in den Schoß der Allmutter Natur, aus der doch alles geworden ist? Zur Erde kehrt zurück, was aus ihr kam; was von dem Äther kam, steigt aufwärts wieder zum Äther.
Die spezielle Psychologie des Epikureers, ihre Theorie der Sinnesempfindungen, nach welcher sich von den Dingen feine stoffliche Bilder ablösen und in die Sinnesorgane eindringen, diese Annahmen ausführlicher zu erörtern, sei uns erspart. Beachtenswert ist jedoch noch ihre Behauptung, daß alles, was Empfindung hat, aus unempfindlichen Stoffen zusammengesetzt sei Lukrez weist in diesem Zusammenhang darauf hin, daß man doch lebendige Würmer aus stinkendem Mist hervorkriechen sehe, wenn häufiger Regen den Boden in Fäulnis gesetzt habe; er weist ferner darauf hin, wie sich Wasser in grünes Laub verwandelt, dieses in tierischen Stoff und beides in menschlichen. »Also verwandelt die Natur die Nahrung in lebende Wesen und erzielt aus ihr Sinn und Empfindung für alle«. Die Stoffe, woraus sich ein Tier bildet, sind zuvor im Wasser, in der Luft, in der Erde zerstreut, und auch, wenn sie zusammengetreten sind, entwickelt sich die Empfindung nicht sofort, sondern allmählich. Also auch hier erweisen sich die Epikureer als echte Evolutionisten: sie verlegen nicht die Empfindung schon in das einzelne Atom, sondern lassen sie allmählich aus dem Zusammentritt derselben entstehen. Und zu welchen Absurditäten führt es, wenn wir die Tiere, den Menschen aus empfindenden, beseelten Stoffen zusammengesetzt sein lassen? Man müßte annehmen: wie der Mensch selbst, so vermögen auch die Elementarstoffe zu kichern, sie werden vom Lachen erschüttert, oder ein Tränenstrom fließt ihnen die Wangen herunter, auch verstehen sie klug von der Mischung der Dinge zu sprechen und forschen den Stoffen nach, aus denen sie selber gemacht sind. Ist dies nun, wie jeder erkennt, offenbarer Unsinn, kann man lachen und sprechen und kluge Sachen bedenken, ohne aus Stoffen zu sein, die Ähnliches vermögen, sollten denn andere Dinge, die wir mit Empfindung begabt sehen, nicht ebenso aus Elementen bestehen, die empfindungslos sind?