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Von Köln nach Düsseldorf zu fahren, ist eine halbe Stunde; man sieht nicht viel auf dieser Fahrt, die zwischen Feldern und Fabriken einförmig hinführt, der Rhein ist fern und auch das Bergische nicht nah genug. Nur einmal überbrückt man einen Fluss, der in zwei schmalen Armen an einem alten Schlossgut vorbei aus einem Wiesental dem Rhein zuströmt. Das Wasser von diesem Fluss ist schwarz, nicht dunkelbraun, wie in den Mooren wohl die Tümpel stehn, sondern wie schwarze Tinte ein wenig bläulich oder rötlich schimmert, so schwarz und auch mit einem Hauch von Fett, wie Tinte manchmal überlaufen scheint: das ist die Wupper, der Proletarier der deutschen Flüsse. Sie irrt hier wie ein alter Mann durch Wiesengründe verdrossen hin, ganz aus der Bahn geworfen; denn schon bei Sonnborn war sie dem Rhein bei Düsseldorf auf wenige Stunden nah; dann wandte sie sich stundenlang – so wie ein müder Mann auf törichte Launen verfällt – nach Süden dem alten Köllen zu, um endlich in den Bergen verirrt, hoffnungslos der Ebene zuzustreben und in der Stille bei Hitdorf in den Wiesen den lang gesuchten Tod zu finden. Gleichwie ein rechter Bergischer den Sinn für seine alte Hauptstadt Düsseldorf trotzig verleugnet und immer eine Sehnsucht nach Köln und nach der Rheinromantik da oben im Blute hat; und schliesslich doch unlöslich von seiner bergischen Heimat ist; wo die Wupper mündet, dicht an der Grenze zwar, ist immer noch Kreis Solingen.
Denn diese Berge, die so den Niederrhein von Siegburg an begleiten und seiner Landschaft eine blaue Grenzmauer geben, sind mehr für ihn als nur die Quellen seiner Bäche. Seit tausend Jahren im Besitz von eigenen Grafen, hat ihre Bürger- und Ritterschaft die Geschicke am Niederrhein sehr oft bestimmt. Engelbert, der Reichsverweser und Erzbischof von Köln, der Freund des grossen Hohenstauffen Friedrich II., der seinem Sohn Heinrich im Jahre 1222 zu Aachen die deutsche Kaiserkrone aufsetzte und dessen Lob durch Walter von der Vogelweide »wunderhoch emporstieg«: war ein Graf von Berg. Gleichfalls Adolf V., der in der Schlacht bei Worringen den Erzbischof von Köln gefangen nahm und in demselben Jahr das Düsseldorf zur Stadt erhob. Als mit dem Ausgang des Mittelalters der Niederrhein im Glanz verblasste und seine Burgen und Städte nach dem grossen Krieg zu Nestern wurden, begann da oben in den Bergen Arbeit und Bürgertum zu blühen und aus tausend Quellen Wohlstand ins Land zu senden. Die erste Bahn im Rheinland – es war im Jahre 1840, die zweite in Preussen – führte von Elberfeld nach Düsseldorf. Und aus dem bergischen ins eng verbundene märkische übergreifend ist jener Industriebezirk entstanden, der heute wirtschaftlich die stärkste Macht in Deutschland ist.
Man fährt in einer halben Stunde mit jener alten Bahn hinauf; doch wer nicht in Geschäften reist und einen sonnigen Tag erwischt, der kann Verschiedeneres aus einer Landschaft an einem Tag wohl kaum erleben, wenn er zu Fuss geht. Die erste halbe Stunde ist freilich »elektrisch« nur zu ertragen; der Fortschritt hat in Düsseldorf die schönen Alleen nach Grafenberg des Asphalts oder der Geradheit wegen jung bepflanzt. Dann steigt man durch die Wolfsschlucht in Buchenhängen rasch hinauf zum ersten Hügelrand bergischen Landes. Schon sieht man meilenweit nach Süden die blaue Ebene, bei klarem Wetter steht der Dom von Köln im Horizont, auch wohl ganz zart der Rücken vom Siebengebirge. Noch ist der Boden sandig; wie eine lange Düne zieht eine hohe Böschung hin, die Hardt genannt, zur Ebene mit steilem Abfall, zum Gebirge in einer Wiesenmulde sich verflachend, daraus sich steiler und ebenfalls bewaldet der zweite Hügelrand als Düne baut. Bis auf die Sohle sind diese Berge angeschwemmter Sand, und wo sie abgegraben sind, da sieht man wagerecht gestreift die Lagen und manchmal braunrot einen Streifen von knolligem Brauneisenstein. Man späht nachdenklich in die Ebene, die als das Torfbruch sich dicht zu Füssen der Hardt mit schwarzen Mooren hinzieht: kein Zweifel, dass hier Meeresboden war; ein alter Rheinarm, sagt der Volksmund.
Quer durch, von Neuss, sieht man den Viehweg, eine alte Römerstrasse, ziehn; sie führt durch einen Hohlweg in der Böschung nach Gerresheim hinauf, einem alten Städtchen, schon bergisch und noch rheinisch mit seinen getünchten Häusern und der alten Tufsteinkirche aus dem dreizehnten Jahrhundert. Man muss hindurch und dann den steilen Hang hinauf. Mit einemmal verschwindet oben der Sand, schwerster Lehmboden beginnt, das Marschland dieser alten Küste. Schon aber lockt die Ebene zu einem reichen Blick zurück: man sieht den Rhein selber meist nicht, doch seinen Wiederschein in einer Helligkeit am Horizont, der seltsam wie ein Pulsschlag auf und niederwogt, den stumpfen Dom von Neuss und Düsseldorf davor im Qualm vieler Fabriken, zu Füssen aber den alten Ort, der so rückwärts angesehen, mit einem malerischen Kirchenchor und dem Kapitelhaus daran, dem backsteinbraunen Quadenhof, einer alten Wasserburg, ein malerisches Bild darbietet: auch noch ein altes Nest am Niederrhein und eins der allerältesten.
Und einmal auch der Ausgangspunkt von welthistorischen Entscheidungen; denn unten in dem Stift da war im sechzehnten Jahrhundert als Äbtissin die schöne Agnes von Mansfeld. Die sah bei einer Prozession in Köln der Erzbischof Gebhard Truchsess von Waldburg und machte sie im Jahre 1583 zu seiner rechten Frau, in bester Absicht mit ihr gemeinsam sein Erzbistum auch weiter weltlich zu regieren. Wenn aber Köln, die starke Tochter Roms, mit ihm erst protestantisch wurde, dann war der Katholizismus in Deutschland eine tote Macht. So wurde auch von beiden Seiten die Wichtigkeit der Sache nicht übersehen. Der Papst entsetzte den evangelischen Ehemann als Erzbischof und Ernst von Bayern, wie immer mit Geld aus Rom und Truppen aus Spanien, wurde sein Gegenkandidat. Ihn selber stützten eifrig Kurpfalz, England und Niederland. Die protestantischen Fürsten aber in Deutschland grollten nach deutscher Art, dass er statt Lutheraner Calvinist geworden war und sagten ihre Hilfe ab. Durch diese kleine Verwechslung im Fasson – für seine Ehemännlichkeit ganz gleich – stand er allein, wurde geschlagen; der spanische Bayer nahm das Stift und damit wieder halb Deutschland für den römischen Glauben in Besitz. Er selber machte sich nicht viel daraus, floh erst nach Holland und lebte schliesslich ganz vergnügt mit seiner Agnes in Strassburg, wo er die Domdekanei besass. Der Mann aber, der mit scharfem Geist und schärferem Schwert hinter all diesen Dingen gestanden hatte, Adolf von Neuenahr, versuchte seine Sache weiter zu führen, und grausamere Kriege als bis zu seinem Untergang hat der Niederrhein nicht gespürt. Wie eine Brandfackel glühte er durchs Land, und Neuss vor allen zählt zu den Orten, die fast an ihm verblutet sind. Seitdem ist aller Niederrhein katholisch Land; die Berge aber, an deren Rand wir stehen, vermochte der spanische Bayer nie zu zwingen, sie sind protestantisch mit einer inneren Glut geblieben, die heute noch in hundert Sekten flammt.
Burg an der Wupper. Nach einem Gemälde von Ernst Hardt
Man könnte von hier aus bis in Wupperthal den Höhenweg behalten, der über den alten Galgenberg mit Kirschbäumen bepflanzt am Horizont hinzieht: es war der Handelsweg und ehemals mit Wagenzügen viel befahren. Doch lockt ein breiter Wiesengrund zur Rechten ins Neandertal. Das war vor garnicht vielen Jahren (sodass wir, die wir heute Männer sind, es noch als Jungen kannten) ein trotzig kühnes Landschaftsbild. Im grauen Kalkstein hatte der Düsselbach sich eine Rinne geschnitten, daran die Felsen senkrecht fast überhängend standen in phantastisch ausgewetterten Formen. Und mitten in dieser grün umbuschten Wildnis, durch eine hohe Leiter zu erreichen, zog die Neanderhöhle ihre weite Wölbung hin. Gleich ihrem Tal nach jenem Kirchenmann genannt, der uns das vielgesungene Kirchenlied: »Lobe den Herren« gedichtet hat und der hier – nach dem Volksmund natürlich – sich verborgen haben soll, wenn schwere Zeiten in Düsseldorf dies nötig machten. Bekannter noch ist das »Gestein«, wie man die Wildnis früher nannte, durch seinen Höhlenmann geworden, davon man zwar nur die Knochen fand, der aber als ein einheimischer Urahne der Kannibalen, als gänzlich vorgeschichtliches Geschöpf durch sein Gerippe die Wissenschaft erregte.
Heute könnten weder Neander noch der Höhlenmensch sich dort verbergen; denn weil die Felsen Kalkstein waren, den man zu Geld verbrennen kann: so ist aus dieser Felsenschlucht ein gähnendes Loch geworden, darin noch immer mit Hunderten von Brecheisen und Maschinen zum Nutzen einiger Aktionäre aus Felsen Geld gebrochen wird. Was Tausenden von Menschen eine Freude und Erholung war, ein Wundergarten der Natur mit Wasserfällen, Felsenhängen, mit Höhlen, Gesteinsmeeren: das zu schützen fand weder Staat noch sonst wer Zeit, in einer Periode, wo Millionen von Gemeinden, Verschönerungsvereinen, Staat und Privaten aufgewandt wurden, um durch Volksgärten, Stadtanlagen, Museen, Denkmäler, Aussichtstürme der trüben Nützlichkeit zum Trotz angeblich auch die Schönheit zu pflegen. Es gibt soviel traurige Löcher, daraus man Steine brechen könnte: die Dividende aber will, dass ein Neandertal verwüstet wird, was nun mit Milliarden nicht herzustellen ist. Jetzt steht ein stolzer Bahnhof oben und unten liegen an der Düssel verödet die grossen Wirtschaftsgärten für die Fremden, die einen Steinbruch anzusehen nicht ins Neandertal zu reisen brauchen.
Es ist ein verlorenes Paradies, aus dem zwei schöne Wiesentäler und steil ein Pfad nach Hochdahl führen. Das ist nun gleichfalls Industrie, keinem zuleid und vielen zur Freude: Hochöfen, die am Rand der Berge abends mit ihren Gluten in die Ebene leuchten, meilenweit, gleichsam die Fackeln des bergischen Landes. Hier kommt die Bahn von Düsseldorf herauf, der Bahnbaukunst von 1840 entsprechend aufs sonderbarste angelegt: sie läuft ganz ohne Steigung bis nach Erkrath an den Fuss des Berges, nimmt diesen in der Steigung einer Bergstrasse und fährt auf dem Plateau ganz lustig weiter. Natürlich können die Züge von selber nicht hinauf; so wird denn jeder an einem dicken Drahtseil heraufgezogen, das vorn an der Maschine angehängt werden muss; das läuft dann oben über eine Scheibe und mit dem andern Ende fährt eine Lokomotive mit Volldampf ziehend den Berg hinunter. Und das auf einer Strecke, die zu den befahrensten in Deutschland gehört. Die Aussicht von dieser Hochwacht des bergischen Landes ist eine seltene: in langen Zügen werfen sich, wenn man nach Süden sieht, die Hänge und Wälder, vielgezackte Kämme bildend, in die blaue Ebene hinein, die weithin ausgebreitet auf Meilen den Rhein deutlich erkennen lässt.
* * *
Von hier zum Wuppertal ist nicht mehr weit. Links zieht sich in dem Hügelland der walddurchsetzten Felder eine lange Mulde mit Wiesen hin; hier könnte wohl der Lauf der Wupper sein, wenn sie den geraden Weg zum Rhein geflossen wäre. Das alte Dörfchen Gruiten (sprich Grüten) liegt darin und danach Vohwinkel, ein trauriges Fabriknest mit einem übergrossen Bahnhof, wo ziemlich alle Strecken des bergischen Landes zusammenlaufen. Und hier beginnt schon jene seltsame Welt des Wuppertals, die wir zu suchen ausgegangen sind: Auf einer Strasse mit bescheidenen Kleinstadthäusern spannen sich scharfe Eisenbogen, wie aufgestellte Hufeisen hintereinander, und über unsern Köpfen – nach unten hängend aber, die umgedrehte Welt – laufen die blanken Schienen hin. Es ist die Schwebebahn des Wuppertals; nicht lange und es kommt schon einer der rotbraun lackierten Wagen an, gemächlich an der einen Schiene baumelnd, dicht über Wagen, Pferden und Menschen hin. Die Strasse senkt sich sacht und sieht unheimlich aus mit diesen Eisenbögen, die wie das Gerippe an einem Tunnelgewölbe den Wind und die Sonne auf die Strasse lassen und doch den Blick nach aussen – so geradeaus hingesehen – verhindern. Man wandelt nicht frohgemut auf dieser Strasse, so sauber sie gehalten wird, man fühlt: hier ist der Natur durch den Menschengeist verwegene Gewalt angetan.
Das geht so eine Viertelstunde fort, immer hinab, bis unvermittelt mit einer Allee zur rechten Seite ein Blick sich weit und luftig öffnet in ein nicht allzubreites, doch sonnig warm belebtes Wiesental, von hohen Waldbergen schön umschlossen. Dicht an der Strasse, am Fuss von ihrer hohen Böschung, schiesst eilig die Wupper her und windet sich im rechten Winkel nach Süden in das Waldtal hinein. In Kreisen gurgelt das schwarze Wasser, bevor es seine neue Richtung findet, und wühlt die Wurzeln von grossen Bäumen bloss, die es überschatten. Sonst füllt die Sonne das warme schöne Tal und Sonnborn heisst der Ort, der darin liegt in einer friedevollen Einsamkeit und dennoch der Anfang ist von einer friedelosen, vom Menschenvolk unheimlich vernisteten Welt. Noch aber hindert uns ein Felshang, hineinzusehen; und gern berührt von dieser waldumschlossenen Ruhe gehn wir den schönen Lindenweg hinauf zum Hammerstein. Das ist ein altes Herrschaftsgut und heute – wie so oft – eine Sommerwirtschaft in einem still versteckt am Wiesenhang gelegenen Park. Da steigen rundum die Wälder dicht herab und nur ins breite ganz flache Wiesental spaziert der Blick und auf die schön geschwungenen Waldrücken im Hintergrund. Man glaubt der Welt auf viele Stunden fern zu sein, und hört sie doch schon leise surren: den unter diesem Hügelhang, nicht drei Minuten weit, von Bäumen schützend eingehüllt, arbeitet mit schnurrenden Rädern die grosse Weberei von Hammerstein. Am Rand der Wiesen fast in den Wald hinein gebaut, den hohen Schornstein noch von Epheu dicht umrankt, gehörte sie dereinst zu diesem Gut und gibt uns heute ein Bild patriarchalischer Fabrikverhältnisse, das wir nicht ohne Wehmut betrachten können: da unten in dem Ort, in kleinen Schieferhäusern wohnend, die Arbeiter, hier oben der Fabrikherr in seinem schlichten Landsitz. So stehen sie noch zu Hunderten im bergischen Land, einsam in Tälern irgendwo; in gutem Einklang mit der Natur. Man kommt nicht los von dem Gedanken, dass die soziale Frage nur so furchtbar geworden sei, weil sich die Menschen leichtsinnig der Natur begaben und in Fabrikstädten aufeinander nistend sich ein Leben schufen, das mit den höchsten Löhnen doch nur ein arges Elend ist.
So wie es hinter Sonnborn beginnt. Eng zwischen der Wupper und einer hohen Mauer, darauf verstaubt und ärmlich eine Kirche stehn geblieben ist, in einer scharfen Biegung drängt sich der Weg aus Sonnborn fort. Die Schwebebahn verlässt die Strasse, die nun in Rauch und Schmutz gelagert, traurig in ein Gedränge von Fabriken und häuserbesetzten Steinbruchhängen, mit struppigem Wald vermischt, hineinführt. Die Bahn tritt auf das Flussbett der Wupper über: auf beiden Ufern mit kühnem Eisengestänge aufgestützt, zieht ihre Fahrbahn stundenlang in vielen Bogen hin; denn diese Stadt im Wuppertal, die nun beginnt – erst heisst sie Elberfeld, dann Barmen, doch sind sie längst zu einer Stadt verwachsen – ist fast zwei Meilen lang. Von hohen Bergen in ein schmales Tal gezwängt, mit engen, dicht verwirrten Strassen, davon nur wenige im Talgrund bleiben können, die meisten aber steil mit Treppen aller Art sich an den Berghängen verklettern, hat sie sich wie der geschuppte und verkrustete Leib von einem Drachentier vielfach gebogen hingelagert.
»Ich will die Stadt nicht nennen. Sie liegt so tief im Tal, dass nur die höchsten Rauchsäulen über die Waldberge wegkommen und an Regenabenden der lange Ruf einer Lokomotive. Alles andere: der Ton der Glocken, das Gerassel der Wagen und Werkstätten, der Kinderlärm auf den Schulhöfen, der Dunst der Küchen und Schornsteine vermischt sich zu einem Gewebe von Rauch und Schall, das sich wohl hebt und senkt, wie ein Gaskessel in seinem Eisengerüst steigt und fällt, das aber niemals in die Gewalt eines frischen Windes kommt, der es fortreisst über die Berge. Nur manchmal, wenn die Sonne scheint, dann dehnt es sich und wird ein silbriger Duft, in dem die Türme, Schornsteine und Schieferdächer matt blinken.
Das nennen die Menschen der Stadt einen klaren Himmel. Und wenn dann Sonntag ist, haben sie schwarze Kleider angezogen, klettern mit ihren Kindern an den Waldhängen hinauf, sehen auf ihre Stadt im Tal und nennen sie schön, weil die Sonne gnädig darüber scheint. Am Werktag sitzen sie in Webstühlen und Kontoren, laufen beschäftigt über die steilen Strassen auf und ab oder waschen rotes Garn in grossen Fässern. Kaum, dass sie die Nebeldecke spüren; es ist ein garstiges, unwirkliches Leben wie auf den Meeresgrund.
Mitten durch die Stadt rinnt ein schmaler Fluss: der kommt klar wie ein Bergbach herein und fliesst schwarz wieder fort, schlammig vom Unrat der Färbereien und Fabriken. An diesem Fluss stehen die ältesten Häuser der Stadt; mit schwarzgebälkten Giebeln, mit flachen Teerdächern auf traurigen Hinterhäusern, die wie alte Treppenstufen schräg herunterhängen. Manchmal führt eine hölzerne Stiege ins Wasser, wie wenn keine Menschen in den Häusern wohnten, sondern Rattentiere aus dem schwarzen Fluss.«
(Aus den Erzählungen des Robert Melchior.)
Dies ist gewiss ein übertriebenes, jedoch nicht unwahres Bildnis dieser Stadt, wie sie vor Jahren war und heute in manchem noch ist. Sie hat nun zwar Theater, Quaimauern Badeanstalten, Variétèes, Museen, Rathäuser und Kaiserdenkmäler: alles, was zu einer Grossstadt gehört und bleibt doch eine Bürgerstadt, wie beispielsweise Frankfurt, wenn auch weniger stark, dieses kleinbürgerliche nicht ablegen kann. Bergisch und bürgerlich gehört zusammen. Es liegt kein Militär im Wuppertal, auch ausser einer Eisenbahndirektion kaum eine königliche Behörde; alles ist auf das Gemeinwesen einer Bürgerschaft gestellt, und diese Bürgerschaft ist selbständiger und intelligenter als sonst eine. Es gibt Einrichtungen der Selbstverwaltung im Wuppertal, die wie die Elberfelder Armenpflege Vorbild geworden sind. Unheimlich freilich wirkt diese Selbständigkeit im Religiösen; man spricht vom Muckertal und auch die »Wuppertaler Festwoche« muss vielen Spott erdulden. Im Wuppertal ist eben jeder religiös und meist fanatisch, vom Atheisten bis zum Baptisten. Nur die königlich preussische evangelische Kirche ist wenig angesehen. Reformierte und Lutherische sind wie zu Luthers und Zwinglis Zeiten streng getrennt; daneben gibt es jedes Bekenntnis und jede Sekte. Niemand hat hier schwereren Stand als ein Pfarrer, sofern er nicht vom Geist ist; seine Pfarrkinder suchen selber in der Schrift »und forschen darin« und fragen dann denn Pfarrer, nicht zur Beruhigung, sondern um zu disputieren, auch wohl zu inquirieren. Im Wuppertal ist bis zur Stunde die Reformation noch immer im Gang.
Es lohnt sich wohl, die Schwebebahn zu nehmen; sie zeigt uns, stets in Dachhöhe über dem schwarzen rauschenden Fluss, die Wupperstadt aus ihrem Innersten heraus: Aus keiner höfischen Laune, an keiner Handelsstrassenkreuzung bequem entstanden, als Arbeitsstätte angelegt, des klaren Bergwassers wegen als Garnbleicherei und also von dem Fluss aus entstanden, zeigt sie noch heute ihre Industrie ans Wupperbett gelagert: So fährt man zwischen Schloten und düsteren Mauern hin in dem Gestänge der schrägen Eisenpfeiler, unheimlich gependelt überm Wasser, erst durch die ausgedehnten, zum Teil verödeten Farbenfabriken, am Gaswerk, an grossen Bierbrauereien vorbei, bis die Fabriken und Fabrikchen kommen, die für das Wuppertal charakteristisch sind: die Türkischrotfärbereien, die Appreturen, Kattundruckereien, Bänder-, Litzen- und Kordelfabriken, womit die Städte, namentlich Barmen, den Weltmarkt beherrschen, die Webereien, Wirkereien und Spinnereien sonderbarster Art. Die Schwebebahn hält meist an grossen Brücken; da sieht man in die überfüllten winkligen Strassen, an den Berglehnen stehn die Häuser hoch in den Wald hinauf, in vielen Terrassen übereinander, sie scheinen wahrhaftig aufeinander zu stehn; auch treten wohl die Hänge in einer Einbuchtung zurück, dann sieht man ein wimmelndes Dächerheer sich dicht in jede Falte drängen. So fährt man endlos hin in dieser ungeheuren Werkstatt; denn auch wo keine Fabriken, nur Häuser an dem Wasser stehn, klappern die Webstühle darin ununterbrochen.
Doch gibt es Strassen, die den Fabriken fern und drollig und reinlich über die Massen sind; ein rechter Wuppertaler hält seine Sachen blank wie sein Gewissen. Auch gibt es Gärten in grosser Zahl und Blicke von Treppen über Dächer und Türme durch grüne Bäume, die entzückend sind. Und einen Strassenzug, breit und behaglich mit Gärten und heimeligen Bürgerhäusern, der alle Enge des Wuppertals vergessen lässt. Das ist die Alleestrasse, die von Barmen nach Elberfeld fast zwei Kilometer lang schnurgerade hinführt mit breiten Trottoirs unter hohen Bäumen. Hier ist fast jedes Haus, sofern es nicht die neue Villa von einem Fabrikanten ist, als bergisches Schieferhaus beachtenswert; und ein paar Dutzend von Portalen gibt es, die ihresgleichen suchen in bürgerlicher Haltung.
So bietet dieses Tal in allen Dingen das Beispiel einer Welt, die ganz für sich gewachsen ist; man fühlt als Fremder sich verirrt, dies scheint nicht Deutschland und ist auch nichts, was wir vom Ausland kennen, eine Sache ganz für sich selber noch im bergischen Land: dies ist das Wuppertal.
Und wie der Abend kommen will, da steigen wir in einer der engen Strassen hinauf bis in den Wald; es ist nicht mühelos, die Wege hängen steil, auch gibt es schmale Treppen. Bald aber geht der Blick zurück über die vielgetürmten, vielhügelig aus ihrer Rinne an den Bergen hinauf gewachsenen Städte. Die hundertfach verwirrenden Geräusche gehen unter in einem leise verworrenen Lärm. Die Waldluft lockt uns an, die wir noch kaum zu atmen meinten in dem Gewühl; in einer halben Stunde sind wir oben. Die Königshöhe heisst der Berg; da steht, die Bäume überragend, sodass man auf einen Teppich von Baumkronen niederblickt, ein schlanker Aussichtsturm. Es ist nicht klar, doch hilft das Licht von Westen dem Blick hinein: da liegt die ungeheure Strasse, daran dreihunderttausend Menschen ihre emsige Arbeit tun; bald schmal, bald breiter hingestreckt und in der Ferne mit einer Wand von Häusern sich verlierend. Rundum ist Wald mit Ackerfeldern und einzelnen Gehöften; die Welt hat soviel Platz und unten drängen sich die Dächer so dicht, wie man bei Volksversammlungen von oben die Hüte wogen sieht, und jedes Dach hält viele Menschenseelen unter sich, davon sich jede, wehmütig oder fröhlich, fanatisch oder gelassen, doch ihre eigene Welt aufbauen möchte.
Die Dämmerung fällt früh in diese Welt. Wir gehen durch den Wald nach rechts, wo sich ein Fahrweg abwärts wendet, und zwischen Waldhängen aus einer engen Falte im schmalen Ausschnitt das Bild der Stadt zusammendrängt:
Die stille Stadt.
Liegt eine Stadt im Tale,
ein blasser Tag vergeht;
es wird nicht lange dauern mehr,
bis weder Mond noch Sterne,
nur Nacht am Himmel steht.
Von allen Bergen drücken
Nebel auf die Stadt;
es dringt kein Dach, nicht Hof noch Haus,
kein Laut aus ihrem Rauch heraus,
kaum Türme noch und Brücken.
Doch als dem Wandrer graute,
da ging ein Lichtlein auf im Grund,
und durch den Rauch und Nebel
begann ein leiser Lobgesang
aus Kindermund.