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Die zweite Gestalt

Ein Jahr später, im Oktober 1925, fuhr ich, von Direktor Paul Eger eingeladen, zu einem Gastspiel nach Hamburg. Vierzehn Tage lang spielte ich dort am Deutschen Schauspielhaus den »Schwan« und verschiedene andere Rollen, darunter die Geheimrätin Seefeld im »Störenfried«. Die Pressestimmen lauteten: »Die Sandrock ragt in unsere Zeit hinein als einer der Gipfelpunkte verklungener Tage ... Mit ihr tritt eine ganz große Kunst vor unsere Seele.« Hamburger Fremdenblatt.

»Die Sandrock ist ohne Frage eine der meisterlichen Erscheinungen des heutigen deutschen Theaters.« Hamburger Nachrichten.

»Adele Sandrock hat die fabelhafte Bühnensicherheit der unaufhörlichen Schauspielerin, die geschulte und sehr gepflegte Sprache, voller Ton und Klingen.« Hamburger Echo.

»Die Sandrock ist am besten als ein weiblicher Mitterwurzer zu bezeichnen ... Ihre Schwiegermütter beherrschen heute noch die ganze Szene durch suggestive Kräfte und durch die Meisterschaft eines unendlich ausdrucksreichen Spiels ... Selbst in dem stummen Mienenspiel des berühmten Gastes sieht man das wimmelnde Leben ganzer ergötzlicher Dramen.« Hamburger Anzeiger.

In Hamburg traf ich auch wieder mit meinem Kollegen Robert Nhil zusammen, der sich am Deutschen Schauspielhaus eine fabelhafte künstlerische Position geschaffen hatte. Ich hatte ihn lange nicht gesehen und mich schon aus diesem Grunde sehr auf das Gastspiel und das Wiedersehen mit ihm gefreut. Es ging auch alles prächtig. Er wirkte fast in jedem Stück mit, in dem ich auftrat, und es war überhaupt eine Freude, mit einem so disziplinierten und erstklassigen Ensemble wie dem des Schauspielhauses Theater zu spielen. Es war ein schönes, sehr schönes Gastspiel, an das ich mich stets gern erinnere.

Eine Besprechung muß ich noch erwähnen, die am 25. Oktober 1925 in der »Rampe«, den Blättern des Deutschen Schauspielhauses in Hamburg, erschien:

»Urväterhausrat der Literatur wird hervorgekramt, um einer großen Komikerin, die einst eine große Tragödin war, auf allgemeines Verlangen endlich die stücktragende Rolle zu geben, die ihr die zeitgenössische Dichtung nicht zu bieten vermag. Welch ein Armutszeugnis für die Dramatik der Gegenwart! Welch ein Kompliment für die große Schauspielerin. Adele Sandrock als Schwiegermutter verschmolz Antlitz, Haltung, Gesten, Kleidung zu erschütternd komischer Einheit. Aus Benedixens Schablonentyp wuchs plötzlich ein Mensch hervor, der die papierene Gestalt des Verfassers eiffelturmhoch überragte. Wie sie in der seidenen, bebänderten und bespitzten Krinoline pompös daherrauscht, raumbeherrschend im Plüschstuhl thront und mit überströmender Selbstgefälligkeit schwätzt, räsoniert, klatscht, intrigiert, wie sie die Hände empört abwehrend von sich streckt, lockend, überredend Finger und Mund spitzt, der dann wieder gehässig breit auseinanderfletscht, wie die Äuglein im zerfließenden Gesicht pfiffig lauernd, drohend, entsetzt rollen, wie gar die Stimme in jenem Pathos, das einst heroinenhaft, jetzt ironisch rollt, hundert Stufungen findet vom süßen Sirupton bis zum boshaften Krächzen und Bellen, wie der Leitsatz: ›Dein Vater war Geheimrat‹ durch alle Akte jedesmal in anderer Tonlage und in anderem Ausdruck dem Mund entquillt, wie sie denen, die sie übertölpeln wollte, schließlich selbst übertölpelt, hinausschwebend in verbissener Enttäuschung Gutes wünschte, da kann man nur sagen: ›Danke schön‹ und ›Bravo, Adele Sandrock!‹ Wenn sie dann, vollends von Schwiegersohn und Tochter brüskiert, eine Minute lang stumm empört auf dem Stuhl hin und her rutscht, da jauchzt ihr das Publikum zu, und Stürme von Beifall bringt man ihr entgegen. Sie ist eine wirkliche Humoristin, wie sie eine wirkliche Tragödin war. Glücklich zu preisen ist diese Frau, welche, von den Menschen zweier Menschenalter umjubelt, in zweierlei Gestalt den Menschen zweier Menschenalter Glück spendete.«

Solche Kritiken waren mir immer ein Ansporn zu neuen Taten auf dem Gebiet meiner Kunst, denn man lernt ja nie aus. Nur das Wort »alt« wirkte auf mich wie ein rotes Tuch. Las ich es, dann hatte ich für lange Zeit genug und konnte mich sehr ärgern, denn wenn man sich schön gesehen hat, tut es einem echten und wahren Künstlerherzen weh, zum alten Eisen zu zählen. Aber ich hatte wenigstens die Genugtuung, in meiner zweiten »Jugend« fast noch größere Erfolge zu erzielen als zuvor. Das merkte ich, als ich in Berlin zum ersten Male die Rolle der Lady Brancaster in »Bunbury« spielte. Welch eine Sensation! Welch ein Erfolg!

Nun folgten weitere Stücke von Oskar Wilde: »Lady Windermeres Fächer«, »Die Frau ohne Bedeutung«, und auch die vielen Operetten, in denen ich mitwirkte; es waren für mich stets »Treffer« und keine »Nieten«. So gibt es wohl keine Bühne in Berlin, auf der ich nicht gespielt habe, mit Ausnahme der Staatstheater.

Wenn ich mein Leben überdenke, freue ich mich stets, daß ich in meiner Kunst immer eine selbständig denkende Künstlerin war und geblieben bin. Von Kind auf fühlte ich den Drang zum Theater in mir. Lieber wollte ich sterben, als der Kunst entsagen. Wie viele meiner Kollegen und Kolleginnen haben so gesprochen, als sie die Tür des Elternhauses für immer hinter sich schließen mußten. Der Vater fluchte, die Mutter grämte sich zu Tode, und die Basen reckten ihre langen Gänsehälse und schnatterten von Tod und Verdammnis. Sie alle wollten den verlorenen Sohn oder die verlorene Tochter erst dann wieder aufnehmen, wenn sie anständige Menschen geworden. Das waren so beiläufig die früheren Begriffe vom Schauspielerstand, und wie ideal und sittlich rein, wie echt und ehrlich war dabei in jener Zeit das Streben so eines zur Kunst berufenen jungen Menschen. Sie hungerten, nahmen die schwersten Entbehrungen auf sich, spielten ihre Rollen mit nie geahnter Kraft, legten einen »Ferdinand« und eine »Luise« hin, daß einem angst und bange wurde, und fanden ihre Befriedigung vollauf, wenn sie am nächsten Morgen den »Reklamespaziergang« über den Markt oder die Promenade unternehmen konnten und von der Menge angestaunt wurden: »Seht, das ist der rasende deutsche Jüngling von gestern, und das ist seine Luise, die die Limonade brachte und daran starb.«

Auf diese Weise haben sich alle großen Künstler herangebildet und entwickelt, und gerade an den schlimmsten »Schmieren« reifte das beste Material heran. Devrient, Mitterwurzer, Ferdinand Bonn, Bernhard Baumeister, Friedrich Haase, Döring, Berndal, Ludwig vom Königlichen Schauspielhaus, Klara Meyer, die Keßler und aus Wien die Wolter, die Hohenfels, die Wilbrandt-Baudius, meine Wenigkeit und viele andere, sie alle gingen diesen Weg. Sie hatten wenig Vergünstigungen, waren aber unendlich freie Menschen, spielten nach ihrem eigenen Empfinden, nach bestem Gutdünken für die Kunst und führten ihre Individualität ins Treffen. Heute ist der Künstler nicht mehr so frei. Er gleicht mehr dem Handwerker, genießt gleich diesem zwar soziale Freiheiten, dafür ist er innerlich unfrei. Er kann nicht mehr so aus sich herausschöpfen, es wird zuviel gefeilt und getüftelt. Kaum bleibt vom eigenen Empfinden ein Satz übrig, und daher ist es oft sehr unangebracht, daß die vermehrten Herren Kritiker das Können eines Schauspielers nach dem beurteilen, was sie von ihm sehen. Auf jedem Theaterzettel sollte stehen: »Die Verantwortung für die Vorstellung trägt die Direktion.« Kommentare zu dieser Behauptung sind folgende: Ein neues Stück wird, sagen wir, in Berlin inszeniert. Eine Leseprobe (das Wichtigste) findet nicht statt, der Titel wird verheimlicht, bis man von heute auf morgen eine Rolle zugeteilt bekommt. Zeit zum Überlegen ist nicht vorhanden, also hineinspaziert, meine Herren und Damen. Ein Fürsichausarbeiten der künstlerischen Aufgabe gibt es nicht – man ist Pagode, eine Puppe, wird gedrillt – Atmen, Bewegungen, Augenauf- und -niederschlag – alles Regie, abgezirkelt, festgenagelt, und wehe dem empfindenden, denkenden, impulsiven Künstler, der gegen diese Regel verstößt. Wenn Sie, zum Beispiel, heute nicht auf demselben Platz stehen, auf dem Sie gestern standen (der Platz ist genau notiert) und übermorgen wieder ganz woanders, wenn Sie Ihr Temperament also mitreißt, was dann?

Gewöhnlich sind bei den Proben vier Kompetente zugegen: der Direktor, der Dramaturg, ein künstlerischer Beirat und der Regisseur; oft mischen sich auch noch der Beleuchtungsinspektor, die Souffleuse und der Kostümier hinein. Nun geht es an die Arbeit. Zuerst wird der Stil des Stückes gewahrt. Ja, wäre es nur das! Aber da wird getüftelt, bis von der Ehrlichkeit des empfindenden Künstlers nicht mehr viel übrigbleibt und die vier kompetenten Herren ihr Ziel erreicht haben: den denkenden Schauspieler jeder Bewegungsfreiheit seiner Individualität zu berauben. So spielt der Künstler, oder besser gesagt, der künstlerische Handwerker auf Befehl seinen Part herunter – und kann am nächsten Tag in der Zeitung lesen: »Herr, Frau oder Fräulein Soundso taugte nichts, ihre (oder seine) Auffassung war steif und hölzern.« Keine Andeutung davon, daß ihnen die Auffassung aufgezwungen wurde.

Dagegen habe ich nun stets Front gemacht! Ich hatte das Glück, eine Mutter zu besitzen, die selbst in ihrem Lande eine große Schauspielerin gewesen war, und die mir stets sagte: »Die Kunst darf nie zum Handwerk werden, die Kunst muß empfunden sein.« Ich hatte Gott sei Dank auch niemals Widerstände zu überwinden, um meiner Berufung zu folgen. Im Gegenteil, von Hause aus wurden mir die Wege, so weit es möglich war, geebnet. Nur war es nicht immer leicht, sich durchzusetzen, aber in meiner Kunst habe ich mir nie Vorschriften machen lassen.

Am 26. Januar 1920 veröffentlichte ich in der Berliner Mittagszeitung einen Aufsatz, in dem ich meiner Ansicht Ausdruck gab:

»Das Schicksal Berlins, meiner gegenwärtigen Wirkungsstätte, und die Katastrophe in Wien, der Geburtsstadt meines künstlerischen Rufes, wecken in mir trübe Betrachtungen über den Zustand der deutschen Schauspielkunst. Das zum Größenwahn gediehene Gehabe der sogenannten modernen Bühnenschriftsteller und ihrer darstellenden Interpreten hat sicherlich zur Irreführung unseres Machtbewußtseins beigetragen. Wie wähnten wir uns auch in der Kunst allem bisher Dagewesenen überlegen! Es sollte der Menschennatur freier Lauf gelassen werden, während ihre Bändigung von der Bühne herab Sinn und Ziel der Kunst zu bleiben hat. Mit der wechselnden Tagesnatürlichkeit der Straße wurden verdichtete, klassische Gestalten gesprochen, und mit den Händen in den Hosentaschen forderte Marquis Posa Gedankenfreiheit! So wurden die Meisterwerke unserer Dichter als Agitationsmittel verwendet, um niedrige Instinkte zu wecken. Infolgedessen wurde auch meine Darstellungsweise als eine ›hinter der Zeit zurückgebliebene‹ betrachtet. (Wären wir nur alle hinter dieser Zeit zurückgeblieben!) Jawohl, ich habe auch in dieser Entartungsmanier bewußt nicht mitgetan, nicht, weil ich nicht konnte, wozu nur landläufige Routine hinreicht, sondern weil ich nicht wollte. Meine Maria Stuart, meine Medea, Sappho, Orsina, Elektra und Eboli waren keine Passantinnen, die man in der Berliner Friedrichstraße auf und ab gehen sah, sie waren Gestalten, die ich nach Ewigkeitsmodellen zu formen mich bemühte. Wie wird's jetzt werden? Noch läuft der Thespiskarren nach dem Gesetz der Trägheit tiefer in den Schlamm der Nacktkultur. Kleider sind unnatürlich, und den Theatern droht wegen ihrer Nutzlosigkeit eine Überflüssigkeitsteuer den Garaus zu machen. Den Unterschlupf, den eine sprachlos gewordene Schauspielkunst beim Kino sucht, will man ebenfalls durch Steuerdrahtverhaue verrammeln. Der Schauspieler wird sich auf die Straße geworfen sehen, deren Kopie ihn bisher ernährte, die aber jetzt in ihrem eintönig verhungerten Aussehen keine fetten Gänse zum Ausschlachten für die Bühne mehr bietet. Da wird wohl nichts anderes übrigbleiben, als an die heroischen Zeiten des großen Deutschlands wieder anzuknüpfen und die Menschendarstellung von dem in den Abgrund führenden toten Gleis falscher Modernität wieder auf das Weltgleis der Ewigkeit zu bringen.«


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