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Ich setzte meine Gastspielreisen fort, immer von meiner geliebten Mutter begleitet, die mit mir zusammen die großen Erfolge, aber auch die großen Aufregungen teilte, denn wenn man mit zweiundzwanzig Koffern und zehn bis zwanzig Stück Handgepäck durch die Lande fährt, heißt es, die Gedanken zusammenhalten, um nichts zu vergessen. Das kam bei meiner Mutter auch niemals vor. Wenn sie allein für alles sorgte, klappte es stets, aber wehe, wenn meine Kammerjungfer sie vertreten mußte. Niemals klappte es bei ihr, und immer hieß es: »Ich habe gedacht!« Worauf ich regelmäßig antworten mußte: »Wenn Sie nur nicht denken möchten.« Einmal hatte sie meine Pelzjacke, die ich nötig brauchte, in einen Koffer verpackt, der vorausgeschickt worden war. Ich mußte an Wilhelmine telegraphieren: »Ich erfriere. Schicke mir sofort meine zweite Pelzjacke. Das Mädchen hat wieder einmal gedacht.« Worauf die Jacke per Expreß eintraf.
Bei meinen Tourneen war ich stets der Schrecken der Eisenbahnschaffner. Es gab Zeiten, in denen ich zwanzig Stück Handgepäck mitführte: den Hamletkoffer mit Degen, Hutschachteln, Theaterrequisiten, Taschen, Reisedecken, Kissen und einen Eßkorb. Einmal versuchten wir auf einer größeren Station in einen überfüllten Zug umzusteigen. Von unserem Gepäckgebirge angezogen, kam der Schaffner herbei und sagte zu mir: »Aber liebe Frau, sind Sie denn ganz und gar von Gott verlassen? Wie kann man denn mit soviel Handgepäck verreisen? Denken Sie mal, wenn das jeder so machen würde! Sie brauchen ja einen Waggon für sich allein. Na, ich danke!« – »Junger Mann«, antwortete ich dem Greis, »das verstehen Sie nicht. Ich bin eine gastierende Künstlerin und benötige alle diese Gegenstände. Ich muß sie mitführen.« – »Ach so«, meinte er, »da packen Sie wohl Ihre ganze Wirtschaft zusammen, wenn Sie auf Reisen gehen?« – »Nicht ganz, aber fast.« Er sah mich einen Augenblick an, als ob er glaubte, ich sei nicht ganz richtig im Kopf, dann fragte er: »Und was machen Sie, wenn ich Sie mit dem vielen Gepäck nicht einsteigen lasse?« – »Mich beschweren, junger Mann«, war meine Antwort. Darauf drückte ich ihm ziemlich ausgiebig die Hand, worauf er versöhnt sagte: »Na, denn man rin.« Es wurde alles verstaut, und so kam ich ziemlich glatt nach Wien, wo ich ja noch immer meine Wohnung hatte.
Meine Gastspielreisen durch Deutschland hatten mich einige Jahre von Wien ferngehalten, als ich eines Tages den Antrag erhielt, in einem ganz kleinen Wiener Theater die »Medea« von Euripides zu spielen – eine ganz gewaltige Tragödie, die eigentlich einen großen griechischen Platz verlangt hätte, auf keinen Fall aber in ein Theater gehörte, in dessen Zuschauerraum während der Vorstellung gegessen und getrunken wurde. Ich hatte davon keine Ahnung, und als ich es erfuhr, war es zu spät. Über dieses Gastspiel will ich hier ein Feuilleton einfügen, das anläßlich meines Wiederauftretens in Wien geschrieben wurde: »Viele, welchen die Tradition alles ist, werden in den letzten Wochen in der ›Kleinen Bühne‹ gewesen sein, wo Adele Sandrock allabendlich die Medea spielte. Adele Sandrock! In diesem Namen klingt für viele die Erinnerung mit an all die anderen, die heute nicht mehr sind. An die große Heroenzeit des Wiener Burgtheaters. Sie hatte nämlich das Glück, gerade noch den letzten Zipfel dieser Periode zu erwischen. Die Wolter hatte sich zurückgezogen, da tauchte Adele Sandrock aus dem Dunkel hervor, das entstanden war, und spielte alle Rollen. Man verglich sie und vergleicht sie heute noch. Nicht etwa, daß sie einen Vergleich zu scheuen hätte! Adele Sandrock war Künstlerin, Schauspielerin durch und durch, sie war schön, sie war jung, sie war selbstherrlich wie alle Genies. Kein Wunder, daß sie sich in der dumpfigen Burgtheateratmosphäre nicht wohl fühlen konnte. Sie ging vom Burgtheater fort, sie verschwand den Wienern vom Horizont, und doch ist es etwas Merkwürdiges um die große Burgtheatertradition. Wer einmal in ihrem Banne gestanden hat, der kommt nicht mehr los. So geht es allen. Baron Berger strebte nach dem Burgtheater, wo immer er auch eben wirkte, Heine hat den Weg zum Burgtheater wieder eingeschlagen, und auch Adele Sandrock dürfte Heimweh empfunden haben nach Wien, wo sie ihr zweites Vaterland, nach dem Burgtheater, wo sie ihre künstlerische Heimat gefunden hat. Aus diesem Gefühl heraus ist es wohl zu erklären, daß sie die Gelegenheit, die sich ihr bot, sich den Wienern in Erinnerung zu bringen, ergriffen hat. Die Idee war, wie der lebhafte Applaus eines übervollen Hauses der Künstlerin allabendlich bewies, eine gute, aber das Theater war nicht geeignet für dieses Drama. Doch all die Äußerlichkeiten vergißt man, wenn Adele Sandrock die Bühne betritt. Gewiß, sie ist, seit sie den Wienern entschwand, nicht jünger geworden, aber sie gewann an Reife, an Größe. Sie erfüllte restlos alle Forderungen, die das euripideische Drama an den Darsteller stellt. Wie auf dem Kothurn schreitet sie über die Bühne, alle anderen Darsteller – und nicht nur geistig – bei weitem überragend. Ihr tiefliegendes, männliches und doch für jeden Aufschrei einer gequälten Frauenseele so empfängliches Organ wäre geeignet, bis in die letzten Reihen eines Amphitheaters mit Erschauern gehört zu werden. Und ihre Geste, die sich hier an den Wänden der Bühne zerschlägt, sie ist wie an das ganze Griechenvolk gerichtet, groß in Medeas Schmerz, furchtbar in ihrer dämonischen, an Wahnsinn grenzenden Freude. Adele Sandrock ist in unserer heutigen Zeit eine Einzelerscheinung. Sie ist die letzte Blüte eines Baumes, der einst der ganzen zivilisierten Welt seinen Schatten spendete. Die letzte Vertreterin des klassischen Dramas und des Burgtheaters. Eines ist sicher: Das Burgtheater und die Sandrock gehören zusammen, dort hat sie noch einen Platz auszufüllen, dort harren ihrer noch künstlerische Aufgaben. Sie hat den Weg nach Wien wiedergefunden, sie wird auch den ins Burgtheater finden, wenn man ihr nicht etwa aus kleinlichen Bedenken heraus neue Schwierigkeiten in den Weg legt. Es wäre dies um so unverantwortlicher, da durch eine Versöhnung beide Teile nur gewinnen könnten.«
Es erschienen noch mehr Kritiken, die sich dafür einsetzten, daß mich das Burgtheater wieder aufnehmen sollte, aber das Burgtheater blieb hartnäckig und ließ sich auf nichts ein. Auch viele meiner Freunde hatten Fühler ausgestreckt, um eine Verbindung herzustellen. Es war jedoch alles vergebens, und so schloß ich einen Vertrag mit dem Deutschen Theater in Berlin.
Während ich meine Tourneen durch Deutschland und Rußland absolvierte, hatte sich meine Schwester Wilhelmine am Wiener Kaiser-Jubiläums-Stadttheater bei Direktor Müller-Gutenbrunn eine ausgezeichnete Stellung geschaffen und herrliche Rollen gespielt, unter anderem die Franziska in »Minna von Barnhelm«, die »Grille«, das Lorle in »Dorf und Stadt«, »Im Zeichen des Kreuzes«, und mit jeder Rolle hatte sie neue und große Erfolge errungen. Ich habe mich stets über diese Erfolge sehr gefreut, weil sie bewiesen, welch großes Talent Wilhelmine besaß, die stets so bescheiden war, obwohl sie es gar nicht nötig gehabt hätte. Als Direktor Müller-Gutenbrunn von seinem Posten abtrat, schied auch Wilhelmine aus dem Verband des Kaiser-Jubiläums-Stadttheaters. Er stellte ihr ein glänzendes Zeugnis aus und nannte sie eines der besten und fleißigsten Mitglieder.
Ich bereitete nun meine Übersiedlung vor. Wilhelmine löste ihren Haushalt zum Teil auf und ging mit mir nach Berlin. Wir wohnten zuerst im Hotel und suchten von dort aus eine passende Wohnung, die wir schließlich in Charlottenburg, Leibnizstraße Nummer 60, fanden. Ostern 1905 trafen auch meine Möbel ein, und die Einrichtung der Wohnung konnte nun von Wilhelmine und meiner geliebten Mutter in Angriff genommen werden. Als sie fix und fertig war, zog ich ein und fühlte mich gleich sehr wohl in ihren Räumen, denn ich muß gestehen, daß es für mich immer sehr aufregend gewesen war, nach jedem großen Gastspiel wieder nach Wien zurückkehren zu müssen, wo ich auf Schritt und Tritt an das Unrecht, welches man Wilhelmine zugefügt, erinnert wurde. Die Hoffnung auf die in Aussicht gestellten künstlerischen Aufgaben tat ein übriges, mich den Abschied von Wien verschmerzen zu lassen, und so sah ich denn in aller Ruhe den kommenden Ereignissen entgegen, um so mehr, als ich ja schon durch mein Gastspiel am Goethe-Theater den lieben Berlinern Gelegenheit gegeben hatte, sich über mich ein Urteil zu bilden. Als ich mich aber ein paar Monate in Berlin aufgehalten hatte, ohne daß sich etwas von dem, was mir versprochen worden war, ereignete, sprach ich bei der Direktion des Deutschen Theaters vor, machte Krach und verlangte energisch Beschäftigung. Darauf bekam ich als Antrittsrolle eine alte Zicke zu spielen. Gott möge mir verzeihen, aber es war eine alte Zicke, in einem Stück Hugo von Hofmannsthals, eines Dichters, der mich sehr verehrte, in Wien ein ständiger Gast des Café Größenwahn gewesen war und zu denen gehörte, die man damals modern nannte. Es wäre ja auch geradezu ein Wunder gewesen, wenn sich dieses Engagement für mich ohne Kampf vollzogen hätte.
Der Kampf ging also weiter. Ich wartete und wartete, es kam nichts. Endlich wurde »Medea« von Grillparzer auf den Spielplan gesetzt. Wenigstens eine Aussicht. Die erste Vorstellung fand in glühender Augusthitze statt, aber das schadete nichts. Trotz der tropischen Hitze gab es fünfundzwanzig ausverkaufte Häuser. Die Zeitungen schrieben damals: »Endlich kam Adele Sandrock nach langem Schweigen zu Worte.« Also war es auch der Presse nicht entgangen, daß man mich sozusagen auf Eis gelegt hatte.
Nach der »Medea« rührte sich wieder nichts. Aus Verzweiflung nahm ich mein Gesangsstudium wieder auf und beteiligte mich während eines Sommeraufenthalts an der Ostsee am Sonntag, dem 28. Juli 1907, im Strandkasino zu Bansin an einer musikalisch-deklamatorischen Soiree. Es wirkte noch eine Opernsängerin, Anna Kochhann, mit, und Wilhelmine rezitierte sehr schöne Gedichte. Ich sang die Mignon-Arie, das »Ave-Maria« von Luizzi, Arien aus »Figaros Hochzeit«, »Toska« und »Samson und Dalila« sowie »Immer leiser wird mein Schlummer« von Brahms. Es war ein sehr schönes Programm.
So mußte ich mich mit meinem Gesang beschäftigen, weil ich sonst verrückt geworden wäre. Dann spielte ich am Deutschen Theater die Königin in »Hamlet« und danach die Kurfürstin in »Prinz von Homburg«, und wenn diese Rollen auch nicht groß waren, so ließ sich doch wenigstens etwas aus ihnen machen. Aber diese Aufgaben standen in gar keinem Verhältnis zu dem, was man mir zugesagt hatte. Sie boten mir zu wenig, um mich ganz auszufüllen. Ich, die es gewöhnt war, jeden Abend in einer Bombenrolle auf der Bühne zu stehen, konnte mich nicht mit Episoden begnügen.
Trotzdem ich in der Blüte meiner Jahre stand, wollte man mich absolut in ein Fach hineindrängen, zu dem ich noch zu jung war, denn alte Rollen kann man erst dann überzeugend darstellen, wenn man wirklich alt ist und sich alt fühlt. Mit einer grauen Perücke und ein paar gemalten Falten allein ist es nicht getan. Alles muß empfunden sein, um überzeugend zu wirken. So sträubte ich mich mit Händen und Füßen dagegen und fühlte mich künstlerisch sehr unglücklich. Die Rolle der Mutter Messina fällt in diese Zeit. Ich spielte sie in Berlin und später auch bei den Festspielen in München.
In Berlin ereignete sich ein Zwischenfall, der die Premiere fast in Frage gestellt hätte. Herr Moissi spielte einen meiner Söhne und war absolut nicht bei der Sache. Er probierte salopp, machte in meiner großen Szene Dummheiten, mit einem Wort, es war für mich unmöglich, unter solchen Umständen weiterzuarbeiten. Ich bat ihn freundlichst, das zu unterlassen. Er tat es nicht, und da er absolut nicht aufhören wollte, ging ich von der Bühne ab, zog mich um und fuhr, am ganzen Körper zitternd, in den Grunewald. Man rief bei mir zu Hause an und ließ sagen, ich möchte doch auf die Probe kommen. Meine Schwester hatte keine Ahnung, was vorgefallen war, und konnte deshalb nur die Auskunft erteilen, ich sei schon zur Probe gefahren. Niemand wußte, wo ich steckte, und so mußte ohne mich weiter probiert werden. Ich war gewöhnt, gesammelt zu probieren, das können alle meine Kollegen bezeugen, wo immer ich in meinem Leben Theater spielte. In meiner Kunst gab es für mich keine Dummheiten. Von mir und den anderen forderte ich stets den größten Ernst, die strengste Disziplin.
Es kamen Boten in meine Wohnung, aber ich war nicht da. Gegen Abend erhielt ich ein Telegramm der Direktion. Man wollte mich in Schutz nehmen, ich sollte am anderen Tag wieder zur Probe kommen. Um ganz sicher zu gehen, schickte man mir den Direktionssekretär. Ich erzählte ihm, was sich zugetragen, und bat ihn, es dem Direktor mitzuteilen. Am anderen Tag ging alles in der gewohnten Ordnung vor sich. Der Direktor kam in meine Garderobe und sagte: »Wie können Sie sich wegen einer solchen Dummheit so aufregen? Sie spielen Ihre Rolle großartig, Adele. Kümmern Sie sich um nichts. Ich habe Herrn Moissi Bescheid gesagt.« – »Das war auch notwendig«, erwiderte ich. »Sonst könnte ich nicht auftreten.«
Die Premiere wurde zu einem ganz großen Erfolg, aber mir war durch diesen Vorfall die Freude an meiner Rolle gründlich verdorben worden. Bald danach fuhr das ganze Ensemble nach München. Ich mietete mich in Starnberg ein und verbrachte dort mit meiner Mutter und meiner Schwester zusammen den Sommer, das Nützliche mit dem Angenehmen verbindend. Bei den Münchener Festspielen spielte ich wieder die Isabella in der »Braut von Messina«, die Königin in »Hamlet« und in »Faust« den Bösen Geist, Gretchens Gewissen, eine Episode, die im Burgtheater von der Wolter dargestellt worden war.
Ich war nach Starnberg gezogen, um bei der Arbeit auch gleich etwas Erholung zu haben, aber diese Erholung wäre mir bald teuer zu stehen gekommen, denn ich hatte dafür Geld aufnehmen müssen und war an Leute geraten, die meine Unkenntnis in geschäftlichen Dingen weidlich ausnützten. Ich sollte diese Unkenntnis bitter büßen.
Bis mich mein Anwalt aus dieser schwierigen Situation endlich befreien konnte, war ich vor lauter Aufregung ganz krank.
Ich hatte in München schon früher gastiert, und zwar auf Engagement am Hoftheater. Damals hatte ich die »Maria Stuart« und die Magda in »Heimat« gespielt; mein Erfolg war sehr groß gewesen, und der damalige Intendant Ernst Possart hatte mir einen glänzenden Vertrag mit achtzehntausend Mark Gage geboten. Dieser Vertrag liegt heute noch in meinem Schreibtisch. Obwohl ich vom Publikum und von der Presse so gefeiert wurde, war ich im Zweifel, ob ich unterschreiben sollte. Ich hatte nämlich vor meinem Gastspiel am Hoftheater an einer anderen Bühne dreißig Abende lang bei überfülltem Hause den »Hamlet« gegeben und dabei festgestellt, daß bereits Intrigen gegen mich im Gange waren, denn kein Geringerer als Eduard Grützner fand sich bemüßigt, eine ganz dumme Karikatur über meinen Hamlet zu veröffentlichen. Als ob ich es nötig gehabt hätte, mich zu entschuldigen, daß ich den Hamlet spielte. Er schrieb dazu: »Sie braucht den Hamlet für ihr Seelenleben.«
Daß ich verlästert werden würde, wenn ich mich an den Hamlet wagte, war mir allerdings von Anbeginn an klar. Ich gebe den Theoretikern ja ganz gern recht, aber das Publikum war stets für mich maßgebend, und es stimmte ihnen nirgends bei. Niemals hatte ich solchen Applaus wie an den Abenden, an denen ich als Hamlet auf der Bühne stand, wo immer ich ihn auch gab. Nach meinem ersten Auftreten in dieser Rolle in Wien erwarteten mich Hunderte von Menschen auf der Straße und jubelten mir zu. Aber ich habe den Hamlet nicht zu Reklamezwecken gespielt, denn einer Schauspielerin stehen dazu viele andere Mittel zu Gebote, die weit weniger geistige Anstrengung erfordern. Ich habe den Hamlet gespielt, weil er für mich eine Quelle steter geistiger Erneuerung war. Ich brauchte ihn wirklich für mein Innenleben. Hamlet war für mich ein Problem, und ich freute mich, den Geist und die Kraft zu besitzen, dieses Problem zu lösen. Wenn ich so reich wäre, mir zeitweilig ein Theater zu mieten, um darin mit einer Gruppe Gleichgesinnter den »Hamlet« aufzuführen, für mich allein, ich würde ihn nie vor einem Publikum spielen. Wie König Ludwig allein im Theater saß, um ungestört zuzuhören, so wollte ich Akteur und alleiniger Zuhörer in einer Person sein. Den geistigen Gehalt des »Hamlet« ganz auszuschöpfen, ist auch für eine Schauspielerin pädagogisch von allergrößter Wichtigkeit. Von ihm stammt die moderne Schauspielkunst ab. Der Zuhörer wird den Hamlet nie erfassen, der den Begriff »Mann« in ihm sieht. Er verkörpert das Menschentum, und es ist daher nicht unkünstlerisch, wenn der Hamlet von einem Weibe dargestellt wird. Und hatte zu Shakespeares Zeiten das Publikum soviel Phantasie, sich bei Verkörperung einer Frauenrolle durch einen männlichen Darsteller nicht aus der Stimmung reißen zu lassen, so wird es wohl heutzutage auch das gleiche Maß Phantasie für den umgekehrten Fall aufbringen. Es ist nicht wider die Kunst, im Gegenteil, ich halte es für eine Bereicherung unserer Erkenntnisse, wenn einem großen Publikum gezeigt wird, wie die merkwürdigste und interessanteste Bühnenfigur, die je ein Dichter geschaffen hat, sich im Kopf einer Frau spiegelt.
Das Intrigenspiel um meinen Hamlet hatte mich noch zu keinem rechten Entschluß kommen lassen, als ich während eines Gastspiels in Nürnberg ein Telegramm von Direktor Possart erhielt, worin er mich bat, sofort nach München zu kommen, um den Vertrag zu unterschreiben. Ich folgte seiner Aufforderung und teilte ihm meine Bedenken mit. »Wenn Sie mich auf Ehre und Gewissen fragen«, erwiderte er, »muß ich Ihnen abraten, zu unterschreiben, obwohl Ihre Absage einen großen künstlerischen Verlust für uns bedeuten würde. Ich weiß nicht, ob Sie sich bei Ihrem Temperament bei uns wohl fühlen werden. Sie haben außerordentlich gefallen, wie bisher keine, aber Ihre Bedenken sind nicht ganz grundlos.« Und ich wäre andererseits doch so froh gewesen, denn ich liebte München über alles und hatte diese Stadt besonders in mein Herz geschlossen. So oft ich später noch dorthin kam, fühlte ich mich stets glücklich, ob es nun zum Gastspiel oder zum Filmen war.
Auch von anderer Seite wurde mir abgeraten, den Vertrag zu unterschreiben, mit einem Wort, die Sache wurde mir so verekelt, daß ich nicht den Mut aufbrachte, den Schritt zu wagen. Die Aussicht, Kampf und nichts als Kampf zu führen, war für mich nicht verlockend. Mein Leben lang hatte ich nichts anderes gekannt, jetzt verspürte ich wirklich ein wenig Bedürfnis nach Ruhe. Ich unterschrieb also nicht; ob ich recht getan, weiß ich nicht. Aber eines weiß ich: daß ich mir viele Aufregungen erspart habe.
Die Festspiele, die unser Ensemble in München absolvierte, gingen nun zu Ende, und wir rüsteten zur Rückreise. Wilhelmine hatte sich beim Baden im Starnberger See erkältet, sie wurde sehr krank, bekam eine Gallenblasenentzündung und lag sechs Monate schwer darnieder. Ich hatte mich zu weiteren Gastspielen verpflichtet, denn so oft ich im Deutschen Theater frei war, spielte ich mit einem Ensemble die »Medea« und die »Sappho« und entschädigte mich so für die Episoden, die mir von der Direktion zugeteilt wurden und die meinen künstlerischen Ehrgeiz nicht befriedigen konnten. Auf diese Weise kam ich wieder durch ganz Deutschland und erntete Beifallsstürme. Für Wilhelmine mußte ich eine Krankenschwester nehmen, damit ihr die Pflege zuteil wurde, die sie benötigte, und als es gar nicht besser werden wollte, schickte ich sie in ein Sanatorium, wo man sie ohne Operation von ihrem Gallenleiden befreite.