Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Ich erblickte am 19. August 1863 in Rotterdam in Holland das Licht der Welt, und damals schon erlebte ich die größten Erfolge, Stürme von Beifall, Applaus und Hervorrufe, weil dieses Ereignis in der Nacht nach der Premiere von »Emma Berdolt« eintrat. Ich wurde sozusagen mit Applaus zur Welt gebracht. Am folgenden Tage wußte ganz Holland, daß eine kleine Adele geboren war, worüber alle in Erstaunen gerieten, denn meine geliebte Mutter hatte ihren Zustand so geschickt verbergen können, daß außer der Theatergarderobiere, die sie ankleidete, niemand etwas geahnt hatte. Da meine Mutter nicht nur eine große Künstlerin, sondern auch sehr beliebt war, verbreitete sich die Nachricht wie ein Lauffeuer. Es gab nun für die Geschwister, Bekannten, Freunde, Freundinnen und Angestellten »beschuit met muisjes«, wie es in Holland Sitte ist. Wenn ein Junge geboren wird, gibt es krause »muisjes«, wenn ein Mädel zur Welt kommt, glatte.
Ich war das letzte von sieben Kindern, also die Jüngste. Da hieß es auf der Hut sein, damit mir die anderen Geschwister nicht über den Kopf wuchsen. Wenn meine Mutter mal nicht Theater spielte, ich keinen Applaus und keine Hervorrufe zu hören bekam, wunderte ich mich sehr und langweilte mich gründlich.
Nun war ich also da, nun hieß es wachsen, gedeihen, groß und stark werden. Dafür bekam ich schon von Jugend auf Lebertran. Zuerst Tropfen, dann immer mehr, bis zu einem Eßlöffel voll. Ich war eben ein sehr zartes Kind, wuchs aber zur Freude meiner Mutter prächtig heran, konnte sehr bald laufen und hatte zum Entsetzen meiner Mutter und meiner Gouvernante immer das Bedürfnis, fortzulaufen. Wir wohnten in Rotterdam nahe dem großen Markt, wo das Standbild des Erasmus steht. Es imponierte mir sehr, und ich wollte es aus eigener Anschauung kennenlernen. Drei Jahre war ich alt, als ich heimlich auf allen vieren die Treppen hinunterkletterte, ohne mir der Gefahr, in die ich mich begab, bewußt zu sein.
Dieser kleine Ausflug kam mir teuer zu stehen. Ich wurde von einer Diebin gepackt, ausgezogen, meines Kleidchens und der Ohrringe, die ich von meinem Muttchen geschenkt bekommen, beraubt, und schreiend und weinend lief ich nun wieder nach Hause zurück, wo ich zum Entsetzen meiner Leute halb ausgezogen ankam und nur schluchzend die Worte hervorstammeln konnte: »Frau alles weggenommen!«
Ich war nicht zu beruhigen, bekam dann zur Stärkung ein Löffelchen Lebertran, und als ich mich langsam von dem Schreck erholt und mit fröhlicher Miene meiner Mutter mitgeteilt hatte, wie gut mir der Lebertran geschmeckt, gab sie mir zur Belohnung eine sehr schöne holländische Auster. Ich sah sie sehr erstaunt an und sagte: »Aber Muttchen, das ist ja steinhart, das kann ich doch nicht beißen.«
»Du sollst auch nur essen, was drinnen ist, mein Kind. So mußt du es machen ...«
Sie löste die Auster los, gab sie mir in den Mund, ich fing an zu beißen – und das war verfehlt. Woher sollte ich auch wissen, daß man eine Auster nur schlürfen darf? Man hatte mir ja nichts davon gesagt. Ich zog ein so betrübtes, verdrießliches Gesicht, daß meine Mutter hellauf lachte. Dieses Lachen gab mir die Überzeugung, sie habe sich einen schlechten Scherz mit mir gemacht. Und wohlweislich habe ich von da an genau die Speisen geprüft, ob ich sie beißen oder schlucken mußte. Der ganze kleine, unangenehme Zwischenfall wurde rasch vergessen. Ich erhielt einige Bonbons, und mit dieser Beute kroch ich in mein Bettchen, um meinen Kummer zu verschlafen.
Meine Mutter fand jeden Tag neue Mittel, meine Liebe zu ihr zu steigern. Diese gute Kameradschaft dauerte immer. Ich war durch den steten Umgang mit ihr schon etwas gescheit geworden und sah mitleidig auf meine Geschwister herab. Während meine Schwester Wilhelmine und mein Bruder Christel mit Puppen und anderem Spielzeug spielten, war ich viel zu verwöhnt, um meine Zeit mit einem leblosen Wesen zu verbringen. Hatte ich doch meine Mutter, die schönste Puppe für mich, ein lebendiges Wesen, welches meine stürmischen Liebkosungen erwiderte.
Das Puppenspiel vermochte mir nicht mehr zu behagen, und meine liebe Blanka, so hieß meine erste und letzte Puppe, wurde von mir mit tiefster Verachtung gestraft. Und als ich mich von diesem kleinen, leblosen Gegenstand ohne Zögern, ja ohne Bedauern lossagte, war eine bedeutungsvolle Wendung in meinem jungen Leben eingetreten.
Eine gewisse Standhaftigkeit lag schon damals in meinem Charakter. Ich wollte nicht wieder zur Puppe zurückkehren, weil meine ganze Liebe nur meiner Mutter gehörte. Wenn sie nicht zugegen war, saß ich stundenlang in ihrem Zimmer und dachte nur an sie, ohne mich mit irgend etwas anderem zu beschäftigen. Kam Muttchen dann wieder nach Hause, flog ich ihr um den Hals und küßte sie ab. Mit meinen Geschwistern zu spielen, hatte ich kein Bedürfnis.
Nun kam so langsam die Zeit heran, wo ich den ersten Unterricht erhalten sollte. Meine Gouvernante trat eines Morgens mit höchst wichtiger Miene an mein Bett, kleidete mich an und führte mich zum Frühstückstisch. Wilhelmine und Christel hatten schon früher damit begonnen und den Anfang des Abc schon hinter sich. Schon bei der ersten Lektion zeigte ich große Aufmerksamkeit. Es machte mir Freude, etwas zu lernen. Nur das frühe Aufstehen wurde mir schwer, sehr schwer, aber infolge meines Eifers zeigte meine Gouvernante zum ersten Male ein freundliches Gesicht. So hatte ich nun eine neue Beschäftigung und verbrachte jede Stunde, die meine Mutter nicht zu Hause war, mit meinen Aufgaben. Ich machte große Fortschritte und konnte daher mit sechs Jahren, wenn andere Kinder erst anfangen, zur Schule zu gehen, schon vollständig lesen, schreiben und hübsche Gedichte aufsagen.
Wiederum war ein Jahr vergangen, als mich ein sehr großes Unglück traf. Eines Morgens kam ich fröhlich springend zum Frühstück herunter und riß mit einer ungeschickten Bewegung den wie überall in Holland neben dem Tisch auf dem Fußboden stehenden Wasserkessel um. Da das Wasser kochend heiß war, verbrannte ich mich bis zum Knie herauf. Die Wunde war ganz furchtbar. Mit Schuh und Strumpf wurde auch die Haut herabgezogen. Die Schmerzen waren kaum zu ertragen. Meine Gouvernante verlor vor Schreck fast die Besinnung, und in dieser Verwirrung war ihr erstes Mittel, mir kaltes Wasser auf die schrecklichen Brandwunden zu schütten, um die Schmerzen zu lindern. Das war wohl für den Augenblick sehr angenehm, aber durchaus nicht das richtige Mittel.
Inzwischen wurde schnell ein Arzt geholt, der sofort Leinölumschläge verordnete. Ich wurde ins Bett gebracht, mein Beinchen ganz eingepackt und verbunden, und als meine geliebte Mutter von der Probe nach Hause kam, war die gute Frau der Verzweiflung nahe. Sie sah mich liegen, bleich und elend; vor Schmerzen mich krümmend, blickte ich sie nur an und flehte leise um ihre Hilfe. Was mir meine Mutter in dieser Zeit für Opfer gebracht und Dienste geleistet, das kann nur eine liebe, gute Mutter, wie es die meine war. Aber auch meine Schwester Wilhelmine und mein Bruder Christel standen mir treu zur Seite und vertrieben mir die Zeit auf meinem Schmerzenslager.
Es dauerte ein volles Jahr, bis ich wieder gesund war – und wie hatten mich die Schmerzen entstellt! Ich mußte erst wieder gehen lernen, ich bot ein Bild des Jammers. Natürlich war ich nun auch im Unterricht zurückgeblieben. Als ich aber wieder völlig hergestellt war, ging ich mit neuem Eifer daran, das Versäumte nachzuholen.
In dieser Zeit hatte meine teure Mutter unendlich viel gelitten. Unser Vater konnte das Klima in Holland nicht vertragen, er verließ Rotterdam und kehrte nach Berlin zurück. Seine Abreise trübte das eheliche Glück. Nun hieß es immer, der Papa ist für lange Zeit verreist. Sobald er eine neue Stellung hat, wird er uns alle nachkommen lassen. Wenn ich nun meine liebe, gute Mutter weinen sah, brach mir förmlich das kleine Herz. Wie oft sagte ich ihr: »Mutti, man soll doch den Papa holen, dann wirst du gewiß nicht mehr weinen!« Doch ich erhielt stets die Antwort: »Mein Kind, Papa kann das Klima nicht vertragen, er mußte nach Berlin.«
Nun stand die arme Frau allein. Ich konnte ja damals ihren Kummer noch nicht so recht verstehen, aber unvergeßlich bleiben mir die Gefühle, die mich beseelten, wenn ich meine schöne, liebe, gute Mutter weinen sah.
Meine Schwester Wilhelmine und ich wurden in ein Pensionat geschickt. Die Trennung vermochte ich kaum zu ertragen, und wie oft dachte ich an die Tränen meiner Mutter. Zum Glück waren wir in derselben Stadt und durften alle vier Wochen einen Tag nach Hause, was für uns stets einen Festtag bedeutete.
In der Zeit, die wir in der Pension verbrachten, gingen große Veränderungen zu Hause vor. Meine Mutter gab ihre große Wohnung auf und nahm eine kleinere. Die schöne Einrichtung, die herrlichen Gegenstände, die die Bewunderung von vielen hervorgerufen hatten, wurden verkauft. Meine Mutter hatte ja nun die Sorgen um die Erziehung ihrer drei Kinder. Der Erlös der Einrichtung wurde für diesen Zweck verwendet, und nun sagte sich diese hochherzige, edle Frau von ihrem geselligen Heim los und lebte nur für uns und ihre Kunst. An nichts konnte sie sich mehr freuen, als wenn wir brav lernten, denn sie sagte immer: »In der Jugend muß man fleißig sein.«
Meine Mutter wollte unsere Kindheit nicht verbittern. Sie wollte uns den Gram um ihren Mann nicht zeigen, und was sie gelitten, weiß allein nur sie zu sagen.
Im Institut waren wir sehr in Anspruch genommen. Es wurde so manche Stunde damit verbracht, uns Dinge beizubringen, die ich bis heute noch nicht verwenden konnte. Und sehr häufig wurde mir nun das Lernen zur Last. Wenn mich meine Schwester in der Früh aus dem Bett holen kam, sagte ich: »Liebes Willichen, laß mich schlafen, ich will nichts lernen!«
Ich lebte in steter Sehnsucht nach meiner Mutter, und obwohl ich noch klein war, hatte ich doch Verstand genug, zu wissen, was die Liebe zur Mutter zu bedeuten hat, denn wie hatte ich sie kennengelernt! Alles das mußte ich nun entbehren, unter fremden Menschen fühlte ich mich einsam, verlassen und unsagbar unglücklich. Nur einen Trost hatte ich, und das war meine Schwester. Sie war ein kluges, verständiges Kind, immer bereit, mir Worte des Trostes zu spenden, und schon damals hat sie mir manche schwere Stunde erleichtert, obwohl sie selbst unter der Trennung von Mutter und Bruder litt. Aber sie hatte die Gabe, ihren Schmerz nicht merken zu lassen. Ich hatte sie in der Pension ungemein lieben gelernt, ich gab mich mit allem einverstanden, und jeder Dienst, den ich ihr erweisen konnte, machte mir große Freude. Wir lebten nur füreinander, tauschten unsere Gedanken aus über die Aufgaben und hörten uns die Vokabeln ab, waren stets zusammen und einig. In der Spielstunde gingen wir in unser Zimmer, und wenn Willy eiligst ihre Bücher ergriff, saß ich vor dem Bilde meiner Mutter. Es fiel dann manch schwermütige Bemerkung. »Was meinst du, Willichen, ob wir wohl immer hierbleiben müssen?« fragte ich sie. Sie legte das Buch zur Seite, trat zu mir, streichelte mir mit der kleinen Hand den Kopf und sagte, indem sie mich mit Tränen in den Augen ansah: »Dillichen, das wäre ja entsetzlich.« »Wie schön doch Mama ist«, fing ich wieder an. »Erinnerst du dich noch, wie sie geweint hat, als wir das letztemal bei ihr waren? Wenn sie das immer so macht, werden ihre Augen nicht mehr lange so schön bleiben. Weißt du was? Ich werde jetzt an Mama schreiben, daß sie immer nur lachen soll, und daß wir beide sie tausendmal grüßen und küssen.«
Dieser Entschluß wurde sofort ausgeführt. Ich ging zur Vorsteherin und durfte unter ihrer Leitung diesen Brief verfassen. Um ihr eine besonders große Freude zu bereiten, schrieb ich ihr französisch. Diese Sprache beherrschte ich schon vollkommen. Als ich den Brief geschrieben hatte, war mir wohl ums Herz, und es wurde weiter gelernt. So verging die Zeit ohne jede Abwechslung.
An einem Sonntag, als wir wieder zur Mutter gebracht wurden, war sie verreist. Ich erschrak heftig und fing furchtbar an zu weinen. »Aber Mama kommt doch wieder«, sagte die Gouvernante. »Weine doch nicht. Sie ist nach Berlin zu Papa gefahren, und vielleicht reisen wir bald alle nach Berlin.«
Als wir das hörten, war es aus. Wir sprangen herum, klatschten in die Hände, umarmten unseren Bruder, den wir sehr liebten. Auf einmal war der Schmerz verschwunden. Er hatte sich, wie das bei Kindern oft der Fall ist, in Freude verwandelt. Welch eine Überraschung! »Sage doch, Käthi, hat Mama das gesagt?! Nun gehen wir nicht mehr in die Pension zurück. Schon heute nicht! Laß uns doch gleich hierbleiben. Mamachen ist gewiß nicht böse, wenn wir nicht mehr in die Pension zurückgehen.«
Das ging nun aber doch nicht an. Und abends um acht Uhr lagen wir schon wieder in den Pensionsbetten. Aber so freudig erregt, daß wir beide nicht schlafen konnten. Die Nachricht kam auch zu überraschend. Verreisen, und noch dazu nach Berlin! Was hatten wir nicht schon alles von dieser herrlichen Stadt gehört. Unter den Linden und im Tiergarten wollten wir dann spazierengehen, wie uns Papa erzählt hatte! Dort sollten wir die Schule besuchen und Deutsch lernen! Mein Gott, Gedanken, bunt und wirr, durchkreuzten uns den Sinn, an Schlafen war nicht zu denken. Ich sprang zu meiner Schwester Willy ins Bett, wir erzählten uns Märchen, bis die Müdigkeit uns überfiel. Wir umarmten uns und schliefen in Gedanken an Berlin und die Reise dorthin endlich selig ein.
Am anderen Morgen kam die Sonne uns wecken und fand mich im Bett meiner Schwester sitzend schlafen. Ich erhielt dafür einen Tadel und eine Strafaufgabe, die ich mit Freuden erledigte. Ich hatte nun weiter nichts im Kopf als Berlin und dauernd die wichtigsten Fragen über diese Stadt zu stellen. Meine Lehrerin konnte sich dieses Interesse gar nicht erklären, aber sie sollte es bald genug erfahren.
Einige Wochen waren wieder vergangen, wir hatten schon jegliche Hoffnung, aus dem Pensionat herauszukommen, aufgegeben, als eines Tages unsere Mutter mit der Pensionsvorsteherin ins Zimmer trat. Es war gerade um die Mittagsstunde, und ich mußte einen Vortrag über die alten Griechen mit anhören. Ich sage: mußte, denn mein Wille war es gewiß nicht. Die alten Griechen interessierten mich damals noch so wenig, mochten sie auch noch so jung sein. Ich kam erst später auf den Geschmack, als ich die Philosophen zur Hand nahm.
Ich flog nun gleich meiner geliebten Mutter um den Hals und küßte sie ab. So schön hatte ich sie noch nie gesehen. In ihrer schwarzen Kleidung sah sie herrlich aus.
Wilhelmine und ich waren ganz aufgelöst vor Freude, denn sie war gekommen, uns aus der Pension abzuholen. Ja, diese Freude möchte ich wohl heute noch einmal erleben. Es läßt sich die Empfindung, die uns erfüllte, nicht beschreiben, denn ich liebte meine Mutter abgöttisch. Schon ihr bloßes Erscheinen versetzte mich in einen Taumel von Glückseligkeit, für den es keine Worte gibt. Mamachen hin, Mamachen her, die gute Frau hatte nicht Worte genug, alle die Fragen zu beantworten, die ich auf dem Herzen hatte.
Wir verabschiedeten uns von der Pensionsvorsteherin und gingen mit Muttchen nach Hause. Als wir dort ankamen, fanden wir schon alles in größter Unordnung vor. Viele Koffer und Kisten standen packfertig in den Zimmern herum.
Mein Vater war ein sehr schöner Mann. Er war deutscher Offizier gewesen, und als er meine Mutter zum ersten Male gesehen, hatte er sich so sehr in sie verliebt, daß er den Entschluß gefaßt hatte, sie zu heiraten, obgleich er deshalb seinen Dienst quittieren mußte. Aber auf die Dauer konnte Vater nicht in Holland leben. Nun hatte er sich also in Berlin eine Stellung geschaffen, und wir durften nachkommen. Meine Mutter gab ihre glänzende Position in Holland auf und folgte dem Rufe ihres Mannes. Es war ein großes Opfer, welches sie brachte, aber die Kinder hatten den Vater wieder.
Wir waren nun ganz glücklich. Es wurde gereist. Zuerst fuhren wir nach Gotha, zu einer Schwester meines Vaters, Tante Adele. Vaters Familie stammt aus Thüringen. Der Großvater war Bürgermeister in Gotha, unser Onkel, Balduin Sandrock, Oberbezirksbaurat.
Unsere liebe Mutter begleitete uns bis an Ort und Stelle, wo sie uns unter dem Schutze der Gouvernante zurückließ, während sie selbst nach Berlin weiterfuhr, um mit Papa gemeinsam die neue Wohnung einzurichten.
Um uns nun den Aufenthalt in Gotha so kurzweilig wie nur möglich zu machen, bereitete Tante Adele für uns Kinder lauter kleine Überraschungen vor, Landpartien und dergleichen, bei denen die mitgenommenen Musstullen, Eierbrötchen und die mit Gothaer Zervelatwurst belegten Brote eine große Rolle spielten. Am meisten imponierte mir aber die Sonntagstorte, die zum Kaffee verabreicht werden sollte. Als sie fertig gebacken aus dem Ofen kam, wurde sie uns gezeigt, und der Duft dieser Torte steigt mir noch heute verführerisch in die Nase.
Wilhelmine, die immer gerne Süßes aß, merkte sich ganz genau, wo die Torte aufgehoben wurde, und als die Tante ausgegangen war, führte sie uns in einem unbewachten Augenblick in das Zimmer, kletterte auf einen Stuhl, holte die Torte vorsichtig herunter und machte uns den Vorschlag, doch vorher ein Stückchen davon zu kosten, da sie ja ohnehin, wie die Tante feierlich erklärt hatte, für uns bestimmt sei. Gesagt, getan. Wir drei Knirpse standen nun um die Torte herum, das Wasser lief uns im Munde zusammen, aber es blieb uns unklar, wie wir von ihr naschen sollten, ohne daß es gleich auf den ersten Blick auffiel. Kinder sind erfinderisch, man sollte es nicht für möglich halten. Ohne die mit Früchten belegte Tortendecke zu zerstören, bahnten wir uns mit den Fingern von der Seite her einen Weg ins Innere, und als der Eingang einmal gefunden war, aßen wir wacker drauflos, und es schmeckte uns so gut, daß wir uns endlich zum Aufhören zwingen mußten, weil die Torte sonst gänzlich zusammengeklappt wäre. Der Sonntag kam heran, und die Tante meinte, die Torte sei nun genügend ausgekühlt. Als die Kaffeetafel gedeckt und alles versammelt war, wurden wir von unserem Fräulein ins Zimmer gerufen. Es fiel ihr auf, daß wir alle drei hochrote Köpfe hatten, sehr erhitzt waren und wie kleine Sünder mit langsamen Schritten herannahten, statt wie sonst fröhlich hereinzustürmen. Sie wußte nichts vom Fluch der bösen Tat. Wir setzten uns kleinlaut an den Tisch, und als die Tante mit einem aufgeregten Schrei den Raum betrat, die Tortenschüssel in der einen Hand, den Zeigefinger der anderen drohend erhoben, und fragte, wer das gewesen sei, machte sich unser lieber kleiner Bruder Christel vor Schreck in die weißen Höschen und mußte sofort hinausgeführt und umgekleidet werden. Wilhelmine und ich aber meinten schüchtern, ob nicht die Mäuschen an der Torte geknabbert haben könnten, was doch leicht möglich sei.
Die gestrenge Tante Adele war über diesen Vorfall nicht zu beruhigen, die Torte wurde nicht serviert, weil wir an ihr herumgepolkt hatten, und unsere Erzieherin, unsere gute Käthe, verlangte streng, die ganze Wahrheit zu wissen. Ihr wenigstens müßten wir alles sagen, sonst würde sie es sofort dem Papa nach Berlin melden, der wohl nicht sehr erfreut wäre, wenn er erführe, wie sich seine drei Sprößlinge in Gotha aufgeführt hatten. Wilhelmine riß uns heraus. Sie sagte, daß sie allein die Schuld an dem Tortenverbrechen trüge, weil sie uns verführt hätte. Auf Käthes Verlangen mußte sie nun der Tante Abbitte leisten und bekennen, daß es keine Mäuschen gewesen waren. »Lieve, lieve Tante, wy zullen het niet meer doen.« Aber so beweglich sie auch versprach, es nicht mehr wiederzutun – die Landpartien wurden vorderhand trotzdem abgesagt, und das war die größte Strafe für uns, denn wir wollten doch die Berge sehen. Wir versprachen immer wieder, »dat wy het niet meer doen«, aber es dauerte lange, bis die Tante wieder gut war. Inzwischen war auch unsere Tat in Gotha ruchbar geworden, und noch lange nachher mußten wir hören, was die kleinen Mäuschen angestellt hatten.
Als alles fertig war, holte uns meine Mutter wieder ab. Nun machten wir eine schöne Reise, fuhren den Rhein entlang, sahen die herrlichen Berge, die wundervolle Landschaft, den Mäuseturm bei Bingen, kurz und gut, es war für uns ein Erlebnis, da wir doch in Holland nie einen Berg zu Gesicht bekommen hatten. Schon in Gotha hatten wir Ausflüge gemacht, hatten zum ersten Male Berge gesehen und uns vor Staunen nicht fassen können, aber der Rhein, der deutsche Rhein, der überwältigte uns.
In Köln bestiegen wir den Zug nach Berlin. Wie soll ich den Eindruck dieser herrlichen Stadt auf mich schildern? Man hatte nicht Augen genug, zu sehen und unaufhörlich wurde gefragt und gestaunt. Mein Vater holte uns in einer schönen Equipage vom Bahnhof ab und hatte alles getan, um den Empfang in der neuen Heimat so schön wie möglich zu gestalten. Zu Hause angekommen, fanden wir die Wohnung mit Blumen geschmückt. Die Bilder meiner Mutter waren bekränzt, die Zimmer festlich beleuchtet, ein schön gedeckter Tisch stand zum Abendessen bereit. Ich werde die Zärtlichkeiten meines Vaters nie vergessen, der überglücklich war, endlich seine Frau wieder bei sich zu haben, die er so lange hatte entbehren müssen, und seine drei Kinder, die er doch so sehr liebte.