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Am 28. Juni 1914 kam ich von einem Spaziergang nach Hause und brachte die Nachricht von dem Unglück mit, das sich in Sarajevo zugetragen hatte. Da wir den Erzherzog persönlich kannten, war es nicht zu verwundern, daß wir sehr erschraken und es gar nicht zu fassen vermochten, daß so etwas überhaupt geschehen konnte. Ich kannte, ebenso wie meine Mutter, die mich dorthin begleitet hatte, die Stadt Sarajevo von meinen Gastspielen her sehr genau und konnte mir deshalb eine Vorstellung machen, wie und wo sich das Unglück zugetragen hatte. Nun hieß es sofort: »Das bedeutet Krieg!« Und richtig, der Teufel wurde an die Wand gemalt und erschien als Kriegsfurie. Ein paar Wochen lang ging es hin und her, eine Nachricht jagte die andere, und eine Nachricht war aufregender als die andere. Bis am 1. August der Krieg wirklich losbrach.
Mit allen anderen empfand ich die Größe und Schwere dieses Augenblicks, der auch für unseren kleinen Kreis eine Zeit der Not einleitete. Es wurden Einheitsgagen eingeführt, und davon konnte ich mit meiner Familie nicht leben. Es mußte sofort Rat geschafft werden. Das Schlimmste für mich war, daß meine geliebte Mutter leidend und nicht mehr imstande war, mit mir auf Gastspielreisen zu gehen. Wie sollte ich das ertragen? Ohne Mutter – und doch mußte es sein. Ein Theateragent aus Wien, der schon früher für mich gearbeitet hatte, stellte mir eine Tournee für Österreich zusammen. Ich kam nun wieder nach Wiener Neustadt, nach Baden bei Wien, Oderberg, Preßburg, Linz, Znaim, Brüx, Teschen, Karlsbad, Marienbad, Ödenburg, Aussig und Dresden.
Einige Wochen, nachdem der Krieg ausgebrochen war, trat ich diese Tournee an. Wilhelmine konnte mich nicht begleiten. Sie hatte meine Mutter zu pflegen, und lieber wollte ich alle Qualen des Leides und der Sehnsucht auf mich nehmen, als im ungewissen zu sein, ob Mutter auch wirklich gut versorgt wurde. Wenn ich diese Gewißheit nicht gehabt hätte, wäre ein Arbeiten für mich unmöglich gewesen. Doch in dieser und jeder anderen Beziehung konnte ich mich voll und ganz auf Wilhelmine verlassen. Tag und Nacht wich sie nicht von ihrer Seite, und als ich zurückkehrte, fand ich meine geliebte Mutter zu meiner größten Freude bedeutend wohler vor. Ich berichtete ihr aber auch täglich von meinen Erfolgen, meiner Gesundheit und meiner Sehnsucht nach ihr.
»Wien, Hietzing. Soeben angekommen. Esse in Hietzing beim Engel, fahre heute noch weiter. Ohne Euch ist es mir schrecklich hier, mit Euch wäre es herrlich, ein Paradies. Millionen Küsse, Dein Knopp Dilly.«
»Baden bei Wien. Geliebte, teure Mutter! Der erste Abend ist vorüber, mein Erfolg war sehr groß, ich denke nur an dich und Wilhelmine. Millionen Küsse, Dein Knopp Dilly.«
»Linz an der Donau, Hotel Schiff. Geliebte, teure Mutter und Wilhelmine! Gut angekommen. Abteil überheizt, eine rasende Kälte wie in Rußland. Bin leider heiser, habe Sehnsucht nach Euch. Erfolge sehr groß. Millionen Küsse, Eure Dilly.«
»Linz an der Donau. Geliebte, teure Mutter und Willy! Hier in dieser Domkirche habe ich für Deine Gesundheit gebetet, die Wallfahrt mußte ich noch lassen. Es sind achtzehn Grad Kälte, aber ich mache sie noch. Habe große Sehnsucht nach Dir. Millionen Küsse, Eure Dilly.«
»Linz an der Donau. Teures, einziges Mutterherz! Heute betete ich für Dich in der Herz-Jesu-Kirche, Linz-Lustenau, für Deine und Willys Gesundheit. Innige Herzensküsse, Deine treue, Dich anbetende Tochter Dilly.«
»Baden bei Wien. Teures Mutterherz! Es geht mir gut. Habe Mitzi Sacher begrüßt, die Freude war groß, sie läßt Euch grüßen.«
»Oderberg, zwölf Uhr mittags. Teures, süßes Mutti! Ich bin richtig um vier Uhr früh in Neustadt fortgefahren und hier in der Früh angekommen. Lege mich gleich schlafen, um abends frisch zu sein. Große Sehnsucht nach Dir, Mutti. Millionen Küsse, Deine Dilly.«
»Wels, Kaiser-Joseph-Platz. Geliebtes, teures Mutterherz und liebe Willy! Brechend volles Haus. Erfolg großartig. Es ging sehr gut, um halb ein Uhr nachts geht es weiter. Wels ist entzückend, ein sehr feines Publikum. Ich denke stets an Euch. Tausend Küsse, Euer treuer Knopp Dilly.«
»Karlsbad, Grand Hotel Pupp. Einziges, teure Mutti, liebe Willy! Du kannst dir nicht denken wie mir zumute war in der Garderobe, wo ich so viele Jahre bei meinen Gastspielen mit Dir hier war. Entsetzlich wehmütig ist mir. Ich denke immer an Dich. Tausend Küsse, Deine Dilly. Erfolg ganz herrlich.«
»Teschen. Geliebte Mutter und Willy! Habe nach meinem Erfolg tüchtig ausgeschlafen und befinde mich wohlauf. Teschen ist vierzehn Stunden von Berlin entfernt. Tausend Küsse, Deine Dilly.«
»Teschen, zweiter Abend nach Sudermanns ›Heimat‹. Geliebtes, einziges Mutti und liebe Willy! Mein Gastspiel ging hier glänzend zu Ende. Ich spielte, wie die Kollegen alle sagten, fabelhaft. Es gab sehr viel Blumen. Ich brachte sie alle zur Kirche, zur Mutter Gottes, und dankte ihr, daß sie mir die Kraft gab, ohne Dich die Tournee zu Ende zu führen. Manchmal habe ich geglaubt, es geht nicht weiter. Bald bin ich bei Euch. Tausend Küsse, Euer treuer Knopp Dilly.«
»Teplitz-Schönau. Süßes Mutti und liebe Willy! Erfolg großartig. Heute nacht geht es weiter, es geht mir gut. Tausend Küsse, Euer Knopp Dilly.«
»Teplitz-Schönau. Teure Mutter, liebe Willy! Mußte noch zwei Abende zugeben, beide waren ausverkauft, ganz großer Erfolg, aber leider wurde ich krank und mußte einen Tag im Bett bleiben. Heute geht es schon wieder besser. Von hier geht es nach Gablonz, bin heute dort. Hunderttausend Küsse, Euer Knopp Dilly.«
»Gablonz, zwölf Uhr nachts. Hier spiele ich morgen abend. Dieser Ort liegt sehr abseits, außer der Welt, aber Industriestadt. Es soll schon ausverkauft sein. Ich wollte Dir nicht mitteilen, daß ich in Berndorf bei Krupp für die Arbeiter gespielt habe. Hatte großen Erfolg. Nun bin ich bald bei Euch, freue mich rasend. Millionen Küsse, Euer treuer Knopp Dilly.«
»Iglau. Geliebtes, teures Mutti und Willy! Ich muß Euch noch über Iglau Bericht erstatten. Das war ein herrliches Gastspiel! Wahnsinnige Triumphe an beiden Abenden, total ausverkauft und ein rasender Erfolg. Die Schauspieler haben mich vergöttert. Der Regisseur sagte: ›So eine Medea habe ich noch nie gesehen.‹ Der Jason war so aufgeregt, daß er vollständig seine Fassung verlor und sich zweimal versprach. Du weißt doch, es heißt: ›Dort liegen sie, die Türme von Korinth!‹, und er sagte in seiner Aufregung: ›Dort liegen sie, die Türme von Korinthen.‹ Und sein zweites Versprechen: ›Was steht ihr Mauern, setzt euch nieder!‹ Zum Glück merkte das Publikum nichts, denn sonst wäre die Stimmung beeinträchtigt worden. Die Mitspielenden sagten mir, wenn eine solche Künstlerin auf der Bühne steht, dann hören sie nur noch zu und vergessen ganz auf ihre Rollen. Mein Organ war himmlisch. Es hatte die richtige ›Resonanz‹ und klang wie eine Glocke. Iglau ist auf über mich! Aber ich habe auch eine Medea hingelegt – Donnerwetter, die war fabelhaft. Der Direktor kam zu mir, küßte mir die Hand und sagte: ›Ich danke Ihnen für Ihre herrliche, einzige Leistung. Sie sind die größte Tragödin, die wir jetzt haben. Da kommt niemand mit.‹ Meine Nerven plagen mich trotz der schweren Arbeit nicht, denn es ist nicht leicht, bei dieser wahnsinnigen Kälte eine Tournee durchzuhalten, wo es fast nirgends etwas zu essen gibt. Das einzige, was mich plagt, ist die Sehnsucht nach Dir und die Erinnerung an Dich, Mutti, die brechen mein Herz. Hoffentlich bin ich bald bei Dir, dann ist alles wieder gut. Bis dahin, Millionen Küsse, Euer treuer Knopp Dilly.«
Wenn man auf einer Tournee tadellose Vorstellungen erzielen will, was immer mein Bestreben war, kommt man nicht drum herum, fast jedem Schauspieler die ihn betreffende Rolle vorzuspielen. Aber ich muß wirklich sagen, daß ich überall, wo ich auch hinkam, stets die größte Bereitwilligkeit bei meinen Kollegen und Kolleginnen fand und sie mir alle dankbar waren, wenn ich ihnen ein paar Winke und Hinweise gab. Diese Aufgabe habe ich auch stets sehr ernst genommen, um so mehr, als es mir immer unverständlich geblieben ist, warum beim Theater den Frauen so lange gerade die Geschäfte entzogen wurden, die ihnen im täglichen Leben vorwiegend obliegen. Denn wird das Arrangieren und Herrichten, ihre Hauptaufgabe im Haushalt, nicht auf der Bühne in übertragenem Sinne vom Regisseur besorgt? Er hat die Einstudierung der Stücke zu leiten und greift mit seinen Ansichten in die Auffassung der einzelnen Schauspieler und Schauspielerinnen ein. Wie komisch ist sich nun schon mancher Mann bei der Beurteilung eines Weibercharakters vorgekommen, wie verblüfft war er dagegen oft über die durchdringende Schärfe, mit der eine Frau das Wesen einer anderen klarzulegen vermochte! Es ist also glatter Unsinn, heute noch beim Theater, das ja die natürlichen Eigenschaften des Menschen unverfälscht widerspiegeln soll, in irgendeiner Beziehung dem Manne das Ressort der Frau zu übertragen.
Natürlich gibt es Bühnenwerke, die im ganzen ein ausgesprochen männliches Gepräge zeigen, zum Beispiel »Julius Cäsar«, »Die Räuber«, »Wilhelm Tell«, »Peer Gynt« und »Nathan der Weise«, aber auch ebenso viele andere, die nur eine weibliche Regieführung vertragen, wie etwa »Des Meeres und der Liebe Wellen«, »Sappho«, »Hedda Gabler«, »Einsame Menschen« und »Francillon«. Am meisten würde durch das Zusammenwirken eines Regisseurs und einer Regisseurin gewonnen werden. Man wende mir nur nicht ein, daß die Einheitlichkeit der Auffassung darunter leiden müsse. Wenn ein Schauspieler mit einer Schauspielerin eine Szene zu spielen hat, haben sie sich über viel mehr Punkte zu einigen. Wäre also zwischen männlichen und weiblichen Mitgliedern einer Bühne keine Übereinstimmung in künstlerischen Dingen herzustellen, so käme überhaupt nie eine Theatervorstellung zustande.
Überall wird über schlechte Regieführung geklagt, und Vorschläge zu ihrer Verbesserung kann man täglich in den Zeitungen lesen, aber solange man die weiblichen Theatermitglieder von dieser Aufgabe fernhält, muß jede Vervollkommnung einseitig bleiben. Ganz abgesehen davon, daß die Besorgung dieses Amtes den Berufsernst der Schauspielerinnen noch erhöhen würde, verspricht, wie gesagt, diese Reform, die Natürlichkeit des Spiels im allgemeinen zu fördern. Die Schauspielerin als Regisseurin wird alles, was ihre Geschlechtsgenossinnen angeht, mit deren Spielweise in Übereinstimmung bringen können, und eine Künstlerin wird dann nicht erst durch langes Parlamentieren mit dem Regisseur während der Proben, wobei Zeit und die Mehrzahl ihrer Intentionen verlorengehen, ihren Ideen Geltung verschaffen müssen, wie ich das kenne.
Über das weibliche Milieu, das sie zur vollen Verkörperung ihrer Rolle notwendig erachtet, erst einen Mann zu Rate ziehen zu müssen, ist absurd, und dieser Zustand hat viel ähnliches mit der Unnatürlichkeit jener Theaterzeiten, in denen weibliche Rollen noch von Männern dargestellt wurden. Ein letzter Überrest davon ist geblieben. Ich jedenfalls habe bei meinen Gastspielen, bei denen ich immer selbst Regie führte, gefühlt, wie sehr mir dadurch meine Aufgabe erleichtert wurde, und die großen Erfolge, an denen ich stets meine Kollegen und Kolleginnen teilnehmen ließ, haben meine Auffassung bestätigt.
So kehrte ich also von der ersten Gastspielreise, die ich ohne meine Mutter absolvierte, mit Ruhm beladen nach Berlin zurück. Ich hatte auch etwas verdient, so daß ich bei größter Sparsamkeit ein paar Monate zusehen konnte, wie sich nun alles entwickeln würde, denn es war ja Krieg. Trotzdem hatte Wilhelmine Mutti wieder so weit gebracht, daß wir im Sommer noch einmal eine kleine Reise unternehmen konnten, und zwar nach Heringsdorf. Heringsdorf ist nicht weit von Berlin entfernt, mit dem Schnellzug fährt man höchstens drei Stunden. Da Wilhelmine stets die Rolle des Quartiermeisters übernahm, fuhr sie auch diesmal, als die Zeit gekommen war, voraus, um uns nicht weit vom Strand entfernt eine kleine Sommerwohnung zu mieten, denn Mutti konnte nicht gut laufen, und in der Nähe meines Gesanglehrers sollte sie ebenfalls sein, da ich wieder fleißig studieren wollte.
Wir traten also zum Schrecken der Schaffner wieder einmal eine Reise an, und ich fand die kleine Parterrewohnung mit dem Gärtchen ganz reizend. Für mich gab es ein Zimmer mit einem Klavier, in dem ich ungestört studieren konnte, für Mama und Wilhelmine ein nettes Wohnzimmer und ein Schlafzimmer. Wilhelmine kochte, ging einkaufen, versah den kleinen Haushalt und pflegte Mutti. Ich schulte meine Stimme und bereitete mich auf das Konzert vor, das ich zu einem wohltätigen Zweck, und zwar für die Marine, geben wollte. Hier muß ich es gleich gestehen: Ich hatte stets eine Vorliebe für die Marine. Ich schwärmte für sie, denn auf meiner Amerikareise hatte ich diese Menschen, die im Angesicht des Todes so mutig und unerschrocken sind, als Helden bewundern gelernt. Wenn ich an der See war, war ich daher stets marinemäßig gekleidet, und weilte ich zum Gastspiel in Kiel, ließ ich die Gelegenheit nie vorübergehen, ohne ein Kriegsschiff oder die »Hohenzollern« zu besichtigen, weil mich das alles sehr interessierte.
Und noch eine Vorliebe hatte ich, die ich hier erwähnen will: für die damals gerade aufkommende Luftschiffahrt. Es war Anfang September 1909, als ich in Frankfurt am Main gastierte. An dem Tage, von dem ich hier spreche, gab es »Medea« von Grillparzer, und die »Ila«, ein mächtig großes Haus, war total ausverkauft. Schon während der Probe hatte man davon gemunkelt, daß Graf Zeppelin mit seinem Luftschiff – dem Zep 3 – nach Frankfurt kommen würde, und dieses Ereignis hielt, noch bevor es Wirklichkeit geworden war, natürlich die ganze Stadt in Spannung, mich aber am meisten, denn ich wollte unbedingt den Grafen Zeppelin sehen und sein Luftschiff ebenfalls.
Ich wartete und wartete den ganzen Tag, aber der Graf kam nicht. Inzwischen war es auch Zeit geworden, zum Umkleiden in die Garderobe zu gehen, denn die Vorstellung sollte bald anfangen. Der erste Akt ging ohne Störung vorüber, mitten im zweiten jedoch – es mochte um die neunte Stunde gewesen sein – ertönten brausende Rufe. Ich hörte von draußen Signale, und kurz entschlossen hielt ich eine Ansprache: »Hochverehrtes Publikum, entschuldigen Sie, wenn ich Sie bitte, uns zu gestatten, die Vorstellung für einige Augenblicke zu unterbrechen, aber ich muß den Grafen Zeppelin sehen. Das werden Sie ja begreiflich finden.« Und mit den Worten: »Wir wollen ihm einen Empfang bereiten. Bitte, folgen Sie mir!« stürmte ich, so wie ich eben angezogen war, mit Perücke, Schleier und Schmuck, aus dem Theater zum Flugplatz hinaus, der ganz in der Nähe lag.
Die Menschen auf dem Flugplatz staunten nicht wenig, als ich plötzlich daherkam, und wußten im ersten Augenblick nicht, was das alles zu bedeuten hatte. Als dann aber meine Kollegen, der König, Jason und Kreusa, ebenfalls im Kostüm folgten, ging es schon von Mund zu Mund: »Die Sandrock will den Grafen Zeppelin sehen.« Die Begeisterung war ungeheuer, auch ich beteiligte mich nach Kräften, aber an das Luftschiff kam ich leider nicht heran, da es von Tausenden und aber Tausenden umringt war.
Als sich der erste Begeisterungssturm gelegt hatte, forderte ich das Publikum auf, mir wieder ins Theater zu folgen. Der zweite Akt fing noch einmal von vorn an, und nun war ich den ganzen Rest des Abends hindurch Gegenstand großer Ovationen. Am nächsten Tag stand in der Zeitung, daß ich aus dem Theater gelaufen sei, um den Grafen Zeppelin und sein Luftschiff zu sehen und ein Hoch auf ihn auszubringen.
Doch nun zurück zu meinem Konzert. Mein Lehrer traf die letzten Vorbereitungen; als Schauplatz des Ereignisses war das Strandkasino ausersehen. Am Vormittag des großen Tages kam die Schneiderin, um noch ein paar Blumen an mein Kleid zu nähen, und traf mich beim Tonleitersingen. Sie hörte mir eine Weile zu und meinte dann: »Ich glaube, Sie sind heiser. Werden Sie denn heute abend auftreten können?« Ich starrte sie erschrocken an. »Frau, sind Sie wahnsinnig? Was reden Sie da? Ich bin doch nicht heiser!« Aber die Zweifel waren nun einmal geweckt, jetzt wollte ich es ganz genau wissen. Fünf Minuten später stand ich schon vor meinem Lehrer und sagte: »Bitte, lassen Sie mich sofort singen. Die Schneiderin meinte, ich sei heiser.« Wir sangen zuerst Töne, dann die Tonleiter, aber es wollte und wollte nicht gehen, die Stimme blieb stark umflort und belegt. »Adele, die Frau hat recht«, meinte mein Lehrer. »Sie sind wirklich heiser. Wir müssen das Konzert verschieben. So geht es nicht.« Unglücklicherweise war das ganze Programm fast allein auf meinen Gesang gestellt, nur Deklamationen sollten noch eingeschoben werden, mit einem Wort, es war eine Katastrophe.
Durch die Aufregung wurde es immer schlimmer, so daß ich wirklich bald nur noch wie ein Rabe krächzen konnte. Ich kam gebrochen und geknickt nach Hause. »Willichen, mein gutes, einziges Willichen, du mußt für mich ins Strandkasino gehen und absagen. Ich werde später singen, wenn die Heiserkeit überwunden ist.« Was blieb mir auch anderes übrig? Aber das Schlimmste stand noch aus: Die Druckerei konnte keine Zettel mehr drucken, die man hätte austragen können, und so kamen die Leute trotz strömenden Gewitterregens in großer Toilette zum Konzert, und meine arme Wilhelmine mußte nun, nachdem der Besitzer des Kasinos sich geweigert hatte, diese Aufgabe zu übernehmen, dem Publikum die Auskunft erteilen, daß die Veranstaltung infolge meiner Heiserkeit verschoben worden war. Sie würde später nachgeholt, die Billette behielten ihre Gültigkeit.
Manche trösteten sich, manche waren sehr ungehalten. Es herrschte im ganzen eine ziemlich kritische Stimmung, die sich jedoch, als das Konzert später wirklich stattfand, in jubelnde Begeisterung auflöste. Ich sang wieder dieselben Arien wie seinerzeit in Bansin und hatte mit ihnen großen Erfolg. Ein sehr angenehmer Kollege, den ich gut leiden konnte, meinte, als er mir am Tage nach der Absage auf der Strandpromenade begegnete: »Sag mal, Dilly, warst du wirklich heiser, oder hast du es plötzlich mit der Angst zu tun bekommen?« – »Mein lieber Giampietro«, erwiderte ich, denn er war es, »Angst gibt es bei mir nicht. Ich war wirklich heiser, und das war mir unangenehm genug.«
Als Entschädigung für dieses Mißgeschick hatte ich dann, wie gesagt, doch noch einen sehr schönen Erfolg, auch für die Wohltätigkeit kam etwas zusammen, und damit war ja der eigentliche Zweck erfüllt.
So löste sich diese Angelegenheit in Wohlgefallen auf, aber wenn ich meine Wilhelmine nicht gehabt hätte, die das Publikum beruhigte und besänftigte, wäre es vielleicht schlimm ausgegangen. Ein Sänger oder eine Sängerin muß eben noch viel vorsichtiger als der Schauspieler leben, weil sich die geringste Kleinigkeit sofort auf die Stimme schlagen kann.
Heringsdorf hatte mir ganz gut gefallen, auch Mutti und Wilhelmine hatten sich in der guten Luft sehr gekräftigt, und so fuhren wir denn, als der Urlaub zu Ende war, befriedigt nach Hause zurück. Die wenigen Wochen hatten uns neuen Mut und Kraft für die Zukunft gegeben.
Der Krieg ging weiter, die Gagen waren auf Mindestgagen herabgesetzt, und ich lernte den Unterschied zwischen einem Monatseinkommen von tausend und einem von hundert Mark aus allernächster Nähe kennen. Die Rente, die Mutter bezog, blieb aus, Wilhelminens Pension wurde eingestellt, und so fehlten uns auf einmal auch die Zuschüsse, die uns bisher unser Dasein erleichtert hatten. Schließlich konnte ich sogar die Miete nicht mehr bezahlen.
Bis zum Ausbruch des Krieges hatten wir unsere Miete stets pünktlich auf die Minute beglichen, und da ich damals schon zehn Jahre in meiner Wohnung wohnte, hätte mir der Hausherr wohl entgegenkommen können. Aber er hatte kein Einsehen, begann uns zu bedrängen, zu quälen, zu beschimpfen, und zuletzt kündigte er mir den Mietsvertrag. Ich ging zum Wohnungsamt, erzählte den ganzen Sachverhalt, und man gab mir den Rat, einen Anwalt zu nehmen. Das tat ich auch. Dieser nahm die Sache in die Hand und gewann für mich den Prozeß. Was ich aber gelitten habe, bis es soweit war, was Wilhelmine für Laufereien hatte, das läßt sich nicht beschreiben. Denn sie war es, die mir auch diese Angelegenheiten abnahm und alle Wege zu dem Advokaten, zum Gericht und was sonst noch damit zusammenhing, für mich erledigte. Sie hatte sich damals unendlich viel Arbeit aufgebürdet. Sie mußte ja ohnehin schon die leidende Mutter pflegen, mich versorgen und den Haushalt führen. Ich konnte mich nur um unser tägliches Brot kümmern, und das war kaum zu beschaffen.
Am Kurfürstendamm war ein Restaurant, dessen Inhaber, ein Wiener, mich aus meiner Wiener Zeit kannte und mir den Vorschlag machte, ich solle bei ihm abends vortragen. Damit verdiente ich fünfzig Mark, genug, um uns wenigstens für ein paar Tage mit Nahrungsmitteln und Medikamenten für die geliebte Mutter zu versorgen. Einen Monat lang konnte ich dort auftreten, dann kamen zur Abwechslung wieder ein paar Gastspiele, und so entstand ein beständiges Auf und Nieder.
Mittlerweile war das Jahr 1917 angebrochen, in dem die Not ihren Höhepunkt erreichte. Es gab fast nichts mehr zu essen, nur »hintenherum«, und ich brauchte diese Redensart bloß zu hören, um unverzüglich ein Gefühl zu empfinden, als drehe sich mir der Magen um, denn ich konnte mir solche »hintenherum« besorgten Sachen nicht leisten. Was ich aber erhielt, reichte bei weitem nicht aus, um einen Kranken wieder auf die Beine zu bringen und zu kräftigen, und so traf uns ein Schlag, von dem ich mich kaum wieder erholen konnte. Am Karfreitag 1917 starb unsere innigstgeliebte Mutter. Auf ihren Wunsch wurde sie nach Wien überführt, wo sie auf dem evangelischen Friedhof an der Seite ihres Mannes ruhen wollte. Trotz ihrer sechsundachtzig Jahre war sie bis zum letzten Tage geistig vollkommen klar, allein die körperliche Schwäche führte das Verhängnis herbei.
Meine geliebte Mutter war eine sehr fromme und gute Frau gewesen. Sie hatte nur für ihre drei Kinder gelebt, die von den sieben Geschwistern übriggeblieben waren. Kein Wunder, daß der Stammhalter, unser einziger Bruder Christel, von uns, man kann sagen, vergöttert wurde. Er folgte unserer geliebten Mutter bald nach, und so kamen wir aus Trauer und Schmerz nicht mehr heraus und brauchten Jahre, um uns seelisch zurechtzufinden.
Der eiserne Bestand, den ich wie meinen Augapfel gehütet hatte, mußte nun angegriffen werden, denn die Überführung kostete viel Geld. Aber wer erfüllt nicht den letzten Wunsch einer Sterbenden! Meine geliebte, teure Mutter hing sehr an Wien, weil sie dort die schönsten Stunden ihres Lebens an meiner Seite verbracht hatte. Sie war ja Zeugin meines Aufstiegs und meines Sieges gewesen.
Wieder war es Wilhelmine, die in Begleitung meines Bruders das schwere Amt übernahm, die geliebte Mutter zu ihrer letzten Ruhestätte zu geleiten, da ich dazu nicht die Kraft besaß. Ich wäre nicht imstande gewesen, hinter der Leiche der teuren Toten herzufahren, hatte ich doch fast immer nur freudige Fahrten mit meiner Mutter unternommen. Ich blieb also allein zurück, elend und verlassen, und gab mich ganz meinem Schmerz hin, der mich bald selbst an den Rand des Grabes brachte.
Erst als Wilhelmine wieder zurückkehrte, begann ich mich zurechtzufinden. Wie niemand sonst fand sie Worte des Trostes. Auch mein Bruder war sehr lieb und tat, was er konnte, um mich aufzuheitern. Dazu kam der Gedanke an die vielen Mütter, die jetzt ihre Männer und Söhne, die vielen Schwestern, die ihre Brüder, die vielen Bräute, die ihre zukünftigen Gatten verloren hatten, der mir Kraft gab, mein eigenes Leid zu tragen. Mein Trost war es, daß ich alles nur menschenmögliche für die geliebte Mutter getan hatte, und darauf ruht ja wohl Gottes Segen. Denn wie Pilze aus der Erde kamen nun die Engagements, der Film begann sich zu melden, und langsam, schrittweise ging es wieder bergauf.
Die Jahre von 1917 bis 1920, in denen es tatsächlich nichts mehr zu essen gab und ich mitten in einer Vorstellung vor Hunger ohnmächtig wurde, waren wohl die schlimmsten für mich. Mein armer Bruder lief sich die Hacken ab, um etwas Eßbares für uns aufzutreiben. Schließlich entdeckte er auch ein kleines Restaurant, wo man noch verschiedenes bekommen konnte. Wir gingen dorthin, und es ist wirklich nicht übertrieben, wenn ich sage, daß ich zwei Portionen verschlang, aber nicht wie ein Mensch, nein, wie ein wildes Tier flog ich drauflos, und ich dankte Gott, daß ich endlich etwas im Magen hatte. Wilhelmine gab mir ja sowieso, was sie noch kriegen konnte, auch sie wurde von Tag zu Tag weniger und schwächer und hatte einen Schwindelzustand nach dem anderen. Dazu der Hausherr, der uns auf die Straße setzen und aus unserer Wohnung eine Pension machen wollte, kurz und gut, es war ein Chaos, das über mich und meine Lieben hereingebrochen war, und nur der Zuversicht meiner Schwester Wilhelmine, die immer sagte: »Wer auf Gott vertraut und feste um sich haut, hat nicht auf Sand gebaut«, war es zu danken, daß ich nicht unterlag.