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Der Sommerabend

Als Erich am nächsten Nachmittag wieder hinauswanderte, den Bach hinauf, über das Hochmoor hin und wieder den Bach hinunter und hinkam, wo der Sumpf auf beiden Ufern brütet und in sich den Rasenplatz und den Bach einschließt, umgrenzt von Erlen und Disteln, lag Loo schon im Grase, unter einem Sonnenschirm und die Arme unter dem Kopf verschränkt. –

Lege dich zu mir ins Gras. – Erich heißt du? Ich will dich Heinz nennen. Küsse mich, Heinz! –

Und da sie sich ihm in die Arme gab, berührte er mit seinem Mund den weißen Ausschnitt an ihrer Brust.

Du trägst den Sonnentau? Wo ist die Rose, Loo? –

Laß die Rose. Aber sag mir, woran dachtest du, als du gestern so dumm-tiefsinnig über deinen Stock dich beugtest? –

Ich dachte darüber nach, wozu ich auf der Welt bin. –

Wozu? Sieh die Schmetterlinge! Zwei zusammen! Sieh, sie fliegen dabei! Durch die Blumen geht es hin, über die Gräser, oben, unten – über den Bach, über die Bäume, hoch in den blauen Himmel hinein! – Wozu du auf der Welt bist? Ach du Dümmster! Deswegen! Deswegen! Sieh her, du Dummster! –

Und sie öffnete mit einem Ruck ihr Kleid und schälte ihre weiße Brust hervor. Da hob er sie hoch und trug sie, die Lippen auf ihre kleinen Brüste gepreßt, zum Bach, während sie ihre Zähne in seine Wange schlug, daß ihr das Blut in zwei kleinen Tropfen von den Lippen floß.

Dann ließen sie die Sonne auf ihren nackten glänzenden Leibern spielen und sahen zu, wie ihr Licht auf den Wellen glänzte, die sich im Schilf verloren, schmal, gleißend wie ein Schwert. Und als sie die Wipfel der Erlen berührte, kleideten sie sich an und verabredeten die Stunde für den nächsten Tag.


Erich erschienen die Traumbilder zuweilen in der Hülle von Rhythmus und Reim. In Metren und klingenden Endreimen sprachen und sangen die handelnden Figuren, und ihres Äußeren und zumal der Landschaft, in der sie sich bewegten, ward er sich bewußt, als wenn ein Anderer oder sie selbst ihre Reize in einem Gedicht vortrügen; seine Phantasie zeigte sie ihm nicht, wie sie ihm am hellen Tage entgegen getreten wären, sondern in der abziehenden und verallgemeinernden Form der gebundenen Rede. Irgend ein klingender Vers zauberte ihm ein wogenschlagendes Meer, einen mondbeschienenen Schneeberg vor, blieb aber zugleich mit dem vorgestellten Bild im Bewußtsein. Am Morgen war dann nur noch eine wohltuende Erinnerung an tönende Verse und ein verblassendes Bild, aber vergeblich bemühte er sich, der Pracht und Gewalt dieser nächtlichen Verse wieder habhaft zu werden.

Traum, gib mir Rhythmen und tönende Reime, auf daß noch einmal ihre Nacktheit vor mir tanzt! –

Aber weder Schlaf noch Traum wollte ihm nahen. Da streckte er sich behaglich aus und blickte von seinem Bett aus in den schwindenden Sommerabend. Mit der sinkenden Sonne war er heimgekehrt, und jetzt lag er da, faul und liebesmüde. Er sah den Himmel in grünlichen Farben leuchten, eine Schar purpurroter Schäfchenwolken dahin schwimmen, hörte die Leute auf den Straßen plaudern und lachen – ein Wagen fuhr ab und zu, Turmschwalben kreisten schreiend über den Dächern, und ein Windhauch trug Lindendüfte ins Zimmer.

Wie schwer es hält, mich gegen dieses Alles, das mich so träumerisch süß in sich bettet, abzuschließen und es sachlich zu betrachten. Es durchdringt mich, ich nehme es in mich auf und bin selbst der grüne Himmel, in dem wie sonnenbeschienene Porphyrinseln die Abendwolken schwimmen, das friedliche Plaudern, das da um die Leute schwebt, und ruhevoller Sommerabend.

Diese ruhevolle und, wenn ich sie lange anschaue, herzbeklemmende Schönheit und Harmonie, sind es Begriffe, die wir aus unserem Geist in den Himmel da draußen verpflanzt haben, oder haben wir nicht vielmehr die Dinge da in Jahrtausenden auf uns wirken lassen, haben sie nicht so die Begriffe Schönheit und Harmonie in uns und mit uns gebildet?

Was bewundern wir nun? Bewundern wir nicht die unbeschreibliche Empfänglichkeit und Kraft unseres Geistes, der aus dem, an sich ihm gleichgültigen, Material, das ihm die Sinne gegeben, den Begriff der Form gebildet, und das tätige schaffende Gefühl, das wir beim Anschauen dieser erschaffenen Form in uns warm und tröstend leben fühlen? Wirkt also deswegen der Sonnenuntergang auf die Menschen verschieden, weil die einen in sich etwas Formendes und Empfindendes haben und die andern nicht?

Und was tut der exakte Naturwissenschaftler? Er erklärt: er zerlegt den »Abendhimmel« in Strahlengattungen, Brechungen, Absorptionen und physiologische Farben – und die führt er zurück auf die Empfindlichkeit der durch die roten Strahlen abgestumpften Netzhaut gegen deren komplementäre: mit Worten, Zahlen, Zeit und Raum und Ursächlichkeit erklärt er alles und führt alles bis auf sie zurück – beschreibt, so gut er kann, das Bild, das er sich von den Dingen macht, machen muß, nennt's erklären und legt sich schlafen.

So hat er ja immer sein Genügen, alles absolut so sein und sich abspielen zu lassen, wie es der homo sapiens verstehen kann, alles auf ihn zurückzuführen, durch ihn zu erklären; er strebt darnach, in allem die Ordnung nach Raum und Zeit und Kausalität, in allem die Daseinsweisen und Anschauungsformen des Menschengeistes wiederzufinden, sodaß als letzte abschließende Frage die nach der Beschaffenheit dieses Geistes bleibt – und die löst er dann im kecken Zirkelschluß durch die schon nach dessen Denkgesetzen erklärten Außendinge. Eine schöne Wissenschaft, die mit dem Zirkelsymbol! Eure ganze Wissenschaft, mit der ihr alles erklärt, erklärt nur euch selbst, und ist durch das Ergetzen, das dieses Euch-überall-Wiederfinden und Euch-Beschreiben erregt, nur ein verfeinertes und zugleich umfassenderes gewaltiges Gefühl!

Und was sagt der Philosoph, wenn ich die Abendröte meine Schöpfung und mein Eigentum nenne und zusehe, wie andere sich unsägliche Mühe geben, sich durch sich zu erklären? Er nickt mir zu, mit einem melancholischen Lächeln, weist aber schnell mit hochgezogenen Augenbrauen auf ein Unerklärbares hin, das allem Anschein nach, schon weil diese Schöpfung zustande kam, dahinter steckt. Er nennt es das Ding an sich, ich glaub's, gewiß – aber was soll das Großes sein? Es ist Loo und ihr wilder Mund!

Inzwischen war es dunkel geworden; da kleidete er sich wieder an und vergrub sich in mathematische Formeln, auf daß sie ihm Schlaf brachten. Und sie taten es; fragten aber wenig nach seiner Hoffnung auf Rhythmus und Reim – sondern rächten sich, indem sie ihm die Welt in nichts denn schwingende Atome zerlegten und ihn durch die Ausrechnung ihrer verschiedenen Schwingungselastizität zur Verzweiflung brachten.


Den gleichen Abend saß Loo im Turmzimmer ihres Vaters mit der Bestimmung von Laubmoosen beschäftigt; sie betrachtete und zählte unter einem Präparationsmikroskop die zierlichen Zähne, die das Peristom der Sporenkapsel bilden, und bestimmte hiernach und nach der Gestalt des Deckels und der Haube die einzelnen Pflanzen. Ihr behagte wenig diese peinliche Arbeit, aber gleich nach ihrer Heimkehr war sie in das Zimmer ihres Vaters getreten und hatte zu seiner Freude ihm ihre kleine Hilfe angeboten. Der saß vor seinem Tisch und ließ seine Augen auf einem Enzian ruhen, den er sich aus dem Walde mitgebracht hatte –:

Wo kommst du so früh her? Der Herbst, August und September ist deine Zeit. – Du blaue Blume! Wie oft hat man dich im Walde läuten gehört, aber folgte man deinem Klange, so warst du wieder unendlich fern; und die Sehnsucht suchte dich in Minne und Kampf, in Klostermauern und Einsiedelwald, in Treue und aller Tugend, in ruhelosem Streifen von Burg zu Burg, von Wald zu Wald.

Schön blühst du im Kampf! Im Rossewiehern und Todesdonnern – das Leben ein Rausch und im Rausch es geendet!

Aber heute bist du verwelkt, dein Läuten ist im Winde verklungen und verloren – die große Sehnsucht ist tot. Da reden sie wohl noch von ihrer Sehnsucht, nach einer großen Persönlichkeit, oder gar nach einem großen, deutschen Reich, ergehn sich in gefühlsseligem Gottsuchen oder in brünstiger Erotik – aber es sind Worte, Worte. Wenn die Alltagsarbeit ruht und die Langeweile drohend hinter dem Berge steht, dann reden sie sich wohl ein, sie hörten dein Läuten – andere gar lügen es anderen vor und machen ihre Lüge zu Geld – aber trau ihnen allen nicht, es sind nur Worte, glaube mir, nur Feiertags- und Lügenworte.

Und die, die sich auf alten Schlössern vergraben und sinnend in das drängende Wachsen und Hasten und Blühen da draußen schauen, zuweilen ist ihnen wohl, als klänge von ferne von ganz ferne ein leises, blaues Läuten zu ihnen, aber so dünn und bang – – ach! ein Mensch, in dem sie noch voll und tönend läutet, nicht in Feiertagsstunden – Tag aus Tag ein – ein großes Sehnen, Locken und Läuten!

Liebe Loo, was denkst du dir von meiner Beschäftigung? –

Vielleicht will mein Vater auf diesem Wege finden, weswegen er eigentlich auf der Welt ist? –

Wie kommst du darauf? – Ich meine eben, eine Antwort hierauf müßte man zu allererst zu finden suchen, wenn man einmal auf der Welt ist. –

Ja Kind, das ist so eine Frage, die man gerne stellt, die aber zu garnichts führt. – Man kann sie wohl nur, da es mit unserem Intellekt nicht weit her ist, aus der Moral beantworten – vorausgesetzt, daß es eine unbedingte Moral gibt. – Die meiner kleinen Käfer und Algen glaube ich zu kennen, die Käfermoral: friß und wachs, auf daß du nicht gefressen und überwachsen wirst. Da liegt eine Antwort drin – aber für uns? Nicht wahr, hier wird man gerne verlegen.

Ein Anderer würde wohl eine Antwort wissen: zur Entwicklung unserer Persönlichkeit – würde er sagen – oder zur Erkenntnis – wieder einer: um mitzuarbeiten an einer Art geistiger Entropie der Welt, sind wir da – und was sie sonst zu schwätzen wissen.

Wir sind eben einmal da, und das Einzige, was wir können, ist, diese Frage tun, und da keine Antwort folgt, weggehn. Doch da das schon von selber kommt, warum sollen wir nicht auch einmal leben – –. –

Sie hat die große Sehnsucht nicht – sprach er vor sich hin, als Loo mit einem Gutenachtgruß das Zimmer verlassen hatte.

Ach, das mag nicht leben und nicht sterben. –


Sie streifte die Kleider ab und lehnte sich in die Nacht.

Warum kommst du nicht? Der Efeu ist stark und fest, und Alles schläft. –

Sie warf sich auf ihr Lager, aber auch ihr kam weder Schlaf noch Traum. – Da rudert unter dem Ufergebüsch ein Nachen heran und leise raschelt das Schilf – nun legt er an, unten am Turm – da schwingt er sich hoch –! ah! da sollte er mir König sein, zu dessen Füßen ich säße, Märchen spinnend bis zum frühen Morgen, und wieder die Nachte durch, tausend Nächte durch wie Königin Schehersad ihrem König Scheherban erzählte –.


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