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Es tönt eine Sage wunderbar:
Wie lange währt's, daß hundert Jahr
Vom Stundenschlag zerschroten!
Wie langsam, langsam rückt die Uhr!
Und hundert Jahre sind doch nur
Ein Stündlein bei den Toten. – –
Rolf Wessels, der schaufelt Nis Nissens Grab.
Es guckt der Mond von oben herab
Und leuchtet so sacht auf dem Grunde.
Sein Spaten, der frißt in die Erde sich ein,
Da stößt er auf einen Totenschrein
Und legt ihn bloß in die Runde.
Ein Narr ist, wem es vor Toten graust.
Er pocht daran mit frevler Faust:
»Holla, wer haust da drinnen?« –
»Ich schlafe hier hundert Jahre fast,
Tritt ein, tritt ein, sei du mein Gast,
Kannst Ruhe dir gewinnen.«
»Viel lieber hundert Jahr gewacht,
Als einen Tag in deiner Nacht!
Doch bin ich ein Weilchen der Deine« –
So lacht der Rolf und schwört und flucht –
»Ich komme zu dem, der mich besucht
Ein Stündlein bei Lampenscheine.«
»Wohlan, zur Stunde, wenn's zwölfe schlägt,
Da sorg, daß dein Weib den Tisch belegt
Mit Fleisch und frischen Broten.
Und halt' ich mein Wort und komm' zu dir,
So weilst du morgen ein Stündlein bei mir,
Ein Stündlein bei den Toten.«
Rolf Wessels, der sitzt und schmaucht und harrt –
Horch, horch! die Kirchhofspforte knarrt!
Die Kinder sind unter der Decken.
Die Frau, sie rüstet das Mahl mit Graus –
Horch, horch! schon holt die Turmuhr aus –
Sie eilt sich zu verstecken.
Es schlägt, da pocht es an die Tür.
Herein tritt sacht ein Kavalier –
Die Tür, sie schließt sich alleine.
Den schlanken Körper hüllt dunkler Samt,
Im bleichen Antlitz blitzt und flammt
Ein Auge mit seltnem Scheine.
Er schreitet heran mit gemessnem Schritt,
Es nickt sein Haupt, der Degen nickt mit;
Die Zunge, sie bleibt gebunden.
Doch Rolf, der winkt ihm frisch und frank:
»Hier steht ein Stuhl, dort ist die Bank –
Nehmt Platz und lasst's Euch munden.«
Der Tisch, ei wahrlich, ist gut gedeckt!
Da wird geatzt, da wird geschleckt
Von Totengräbers Habe.
»Ja, hungrig wird, wer drunten sich bückt« –
Der andre murmelt dumpf und nickt –
»Ja, hungrig wird man im Grabe«.
Nun langt der Wirt die Becher herfür
Und füllt sie an mit schäumendem Bier:
»Herr Gast, Euch tu ich's bringen!«
Sie heben sich beide empor am Tisch,
Sie stoßen an, sie stehen risch,
Das gibt ein seltsam Klingen. –
Die Uhr holt aus, gleicht schlägt es eins,
Ein Gratias beut der Fremde keins,
Er dankt mit keinem Worte.
Er schreitet hinweg mit gemessnem Schritt,
Es nickt sein Haupt, der Degen nickt mit:
»Auf morgen bei der Pforte!«
Nun träumt der Mond, es schläft der Wind –
Zu Hause hält ihn nicht Weib und Kind,
Er hängt an seinem Worte.
Und als die Turmuhr zwölfe schlägt,
Ein Schatten sacht sich herbewegt –
Der Gast ist an der Pforte.
Dann schreiten sie hin durch Gräberreihn;
Sie gehen zu zwein, doch hallen allein
Rolf Wessels Schritte wider.
Dort dehnt sich ein Grabstein schwer und breit;
Ein Fußtritt – lautlos rückt er beiseit,
Und lautlos tauchen sie nieder.
Sie tappen durch einen dunklen Gang.
Rolf Wessels, was wird dir so seltsam bang?
Hilf Gott! – da wird es helle.
Nun stehn sie im dämmerigen Raum;
Der Fremde bewegt die Lippen kaum:
»Mein Freund, wir sind zur Stelle.
Nun bist du zu Gaste bei dem Tod;
Er schenkt dir kein Bier, er reicht dir kein Brot,
Doch Labung wirst du schon spüren.
Und hältst du ein einziges Stündlein hier Rast,
Dann komm ich wieder und will den Gast
Zurück in das Leben führen.« –
Fort schreitet der Fremde in einen Saal,
Draus tönt zu süßen Geigen zumal
Ein Lied nach krausen Noten:
»Wie langsam, langsam rückt die Uhr!
Und hundert Jahre sind doch nur
Ein Stündlein bei den Toten.«
Rolf Wessels sitzt und lauscht und sieht,
Wie Schemen auf Schemen vorüberzieht,
Ein Zug, der will nicht enden.
Sie kommen aus jenem dunklen Gang,
Es zieht in den Saal sie der Zauberklang
Mit unsichtbaren Händen.
Und vorn im Zuge sein eigen Weib –
»Sie her, Hiskea, bei Christi Leib!« –
Sie wendet nicht den Nacken.
Und weiter alle still, gebannt,
Die Freunde, die er dort oben gekannt, –
Ein Grausen will ihn packen.
Und weiter im Zug – ist's sein eigener Sohn?
Und trägt doch graue Haare schon!
»Mein Sohn, sollst dich zu mir wenden!«
Ihm nagt am Herzen sehnende Pein –
»O Tochter, liebste Tochter mein!«
Der Zug, er will nicht enden.
Vorüber wallet Schar auf Schar,
Und dazu das Lied so wunderbar:
»Ein Stündlein bei den Toten.«
Da kommt es zurück mit gemessnem Schritt,
Es nickt sein Haupt, der Degen nickt mit –
Dem Spuk ist Halt geboten.
Sie schreiten zurück den düstern Gang,
Und leiser und ferner wird der Gesang. –
»Heil mir, nun laß ich die Grüfte!«
Er freut sich des schimmernden Mondenscheins,
Er ist allein – ein seltsames Eins
Der Glocke hallt durch die Lüfte.
Rolf Wessels sehnt sich nach Weib und Kind.
Was wankst du, mein Fuß? Nach Haus geschwind!
Wo blieb denn nur Mauer und Pforte?
Er weilte doch eine Stunde kaum!
Nun scheint ihm die Welt als wie im Traum –
Das Haus ist nicht am Orte.
Da ist noch Licht im Pfarrerhaus.
»Herr Pfarrer, Herr Pfarrer, tritt heraus!«
Der Pfarrer ist ein andrer.
»Nun komm in die traute Stube herein,
Ich bringe dir Brot, ich bringe dir Wein,
Nimm Platz, du greiser Wandrer.«
Ein greiser Wandrer, das sieht er erst jetzt –
Weiß ist sein Bart, sein Kleid zerfetzt.
Da ruft er mit bebendem Munde:
»Ich hörte, daß zwölf die Glocke schlug,
Daß eins sie durch die Lüfte trug,
Und blieb nur eine Stunde.«
Und als er erzählt, so stockend und leis –
Die Chronik weiß manches, was keiner weiß,
Da hat es der Pfarrer gefunden:
»Auch ist noch geschehn in jenem Jahr« –
Nun sind es hundert, wunderbar! –
Rolf Wessels, der blieb verschwunden.« –
»Und hab' ich dort hundert Jahre verweilt,
So gib mir die Labung, die alles heilt,
Mit deinen geheiligten Händen.
Du sprachst von Brot, du sprachst von Wein,
So laß vom Tisch des Herrn es sein,
Das wird die Qual mir enden.« –
Der Pfarrer reichte das heilige Brot.
Den Kelch nahm ihm vom Munde der Tod;
Noch möcht' er ihn fliehend erhaschen.
Ein leises, ein kurzes »Wie Gott will!«
Dann sank er zusammen sterbensstill
Und war ein Häuflein Aschen. – –
Es tönt eine Sage wunderbar:
Wie lange währt's, daß hundert Jahr
Vom Stundenschlag zerschroten!
Wie langsam, langsam rückt die Uhr!
Und hundert Jahre sind doch nur
Ein Stündlein bei den Toten.
*