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In den Ländern, wo noch ächter Wald und Wildniß ist, wo die Dörfer noch nicht städtisch geworden sind und das Volksthum noch nach größeren Massen zusammengehalten wird, in diesen streng protestantischen Landstrichen des deutschen Nordens und den entsprechenden streng katholischen des deutschen Südens, war auch in der Blüthezeit des modernen freien Kirchenthums der alte Kirchenglaube wenig oder gar nicht angegriffen worden. Hier fand die kirchliche Reaction, die so rasch und siegreich wieder einzog, ihren mächtigsten Rückhalt. Der westphälische Bauer vom alten Schlag, der jeden Juden, sey er noch so vornehm oder reich, mit Du anredet und einen Hebräer von sechs Fuß Höhe dennoch immer mit der Verkleinerungssilbe als ein »Jüdchen« bezeichnet, ist für die verneinende Kritik der Kirchenlehre noch nicht geboren. Der Tiroler, welcher den fremden Touristen mit Prügeln bedroht, wenn derselbe arglos am Freitag im Wirthshause eine Fleischspeise begehrt, ebensowenig. Die kirchliche Bedeutung solcher Länder und Volksgruppen hatte man durch lange Jahre ganz vergessen gehabt und es bedurfte der herzhaftesten politischen Erschütterungen, damit selbst scharfblickende und wohlgelehrte Leute inne wurden, nicht nur wie viel Aberglaube, sondern auch wie viel Glauben – in groben und feinen Formen – noch immer in dem deutschen Volke festsitze.
In Gegenden Deutschlands, wo man seit 1845 keine Wallfahrt mehr gesehen, bewegten sich im Jahre 1850 mit einemmale wieder die langen Züge der Bittgänger. In Städtchen, durch deren Straßen seit der Reformationszeit keine Prozession gezogen, wurde in diesem Jahr die Frohnleichnamsprozession mit größerem Zustrom ausgeführt, als sonst in manchen altkatholischen Orten. Selbst in Berlin, wo Friedrich der Große die Erlaubniß zu einer solchen Prozession geben wollte, »falls es die Straßenjungen erlaubten,« haben es im Jahr 1850 die Straßenjungen wirklich erlaubt.
Von allen öffentlichen Autoritäten hat die Kirche allein vollwichtigen Erfolg aus unserer Revolution gewonnen. Alle andern Mächte schwächten sich gegenseitig: die Macht der Kirche ist um das Zehnfache gewachsen. Und obendrein ganz im Stillen. Ein Tagesschriftsteller, der auf Originalität Anspruch machte, mußte sich vier bis fünf Jahre vorher noch ordentlich scheuen, Notiz zu nehmen von der kirchlichen Entwicklung, wie von einer abgethanen Sache, von einem zu kleinen Ding in so großen politischen Krisen – und siehe, da war mit einemmale die Kirche der Politik wieder über den Kopf gewachsen, und stand als eine entscheidende Macht inmitten all der schwankenden neuen Gebilde!
Die Kirche wird schwach, sobald sie sich dem Volksleben entfremdet, darum waren die glänzendsten Perioden der theologischen Gelehrsamkeit nicht selten Perioden der Ohnmacht der Kirche. Sie wird stark und verjüngt sich, sobald sie wieder in unmittelbare Berührung mit dem Volk und seinen praktischen Bedürfnissen tritt. Diese Thatsache ist vor allem eine deutsche Thatsache, sie zeichnet das deutsche Volk, welches im tiefsten Sinne des Wortes ein christliches ist.
Für den religiösen Radicalismus war schon beim Beginn der Märzbewegung kein Vorschreiten mehr möglich, denn er hatte theoretisch bereits den äußersten Gipfel erklommen; die praktische Spitze aber war ihm abgebrochen, weil der Gegendruck des Polizeistaates gewichen war. Es war über Nacht altmodisch, eine Art von vormärzlichem Liberalismus geworden, in kirchlichen Dingen verneinend aufzutreten, man hatte auch für den Augenblick gar keine Zeit dafür. Die meisten Wortführer des Freikirchenthums fühlten diese Verlegenheit, und trugen, um nicht ganz »in's Wasser gelegt« zu werden, ihre Fortschrittsfahne aus dem kirchlichen Lager ungesäumt in's demokratisch-socialistische hinüber. Ronge's Auftreten am Vorabend des Vorparlaments gab das Signal dazu – freilich in nicht sehr imponirender Weise! Der Deutschkatholicismus und was damit zusammenhängt wurde auf fast volle zwei Jahre auf Wartegeld gesetzt, und erst gegen das Jahr 1850 hin, als die politischen Hebel des Umsturzes nicht mehr recht packen wollten, wurden auch die Kirchenstürmer wieder zum activen Dienst berufen. Aber sie fanden nunmehr ein ganz anderes Publikum vor, sie mußten, wo sie noch vor zwei Jahren an das »Jahrhundert,« an die »Menschheit« appellirt, jetzt an die Partei und obendrein an eine sehr kleine und geschlagene appelliren.
Ganz andere Wahrzeichen standen von vornherein auf der entgegenstehenden Seite. Während sich im ersten Ansturm der Revolution sonst kaum die dunkeln Spuren einer Parteibildung kundgaben, tauchte die katholisch kirchliche Partei plötzlich festgeschlossen und mit klaren Zielen aus dem politischen Strudel empor. Man beachtete es dazumal wenig, aber es war eines der bedeutendsten Zeichen der Zeit, daß schon in den Märztagen 1848 katholische Vereine – auch sie schienen über Nacht aus der Erde gewachsen – Wahlmanifeste für die bevorstehenden Reichstagswahlen mit ausdrücklicher Betonung des kirchlichen Interesses erließen. Und zwar geschah dies nicht bloß in rein katholischen Ländern, sondern gerade auch im Lande des gemischtesten Volksbestandes, in Mitteldeutschland, wo ein selbständiges Auftreten des Katholicismus – und vollends in politischen Dingen – bis dahin ganz unerhört gewesen war. Man ging dabei sehr klug zu Werke. Die Vereine gaben sich etwa den Titel »Für religiöse Freiheit« und dergleichen. Sie luden die Pfarrer ein, diejenigen Männer aus ihren Gemeinden, welche sich »durch Einsicht in die Bedürfnisse der Zeit und aufrichtige Anerkennung des Principes der religiösen Freiheit« auszeichneten, dem Vereinspräsidenten namhaft zu machen, der Verein werde dann die Wahlcandidaten bezeichnen, damit Zersplitterung der Stimmen vermieden werde u. s. w.
Es ist bemerkenswerth, wie klar in der damaligen Begriffsverwirrung der katholische Klerus die Tragkraft der Religionsfreiheit erfaßte, und sofort einsah, daß nichts der Macht der Kirche förderlichen seyn könne, als die Befreiung von der gefährlichen Freundschaft der Constabler und Gendarmen.
Noch schwebt mir recht lebhaft das Bild einer großen Volksversammlung aus den Märztagen vor, wo sich ein ehrsamer Schlossermeister über die einfältigen Pfaffen lustig machte, die da meinten, durch die Religionsfreiheit sey ihnen nun auch die Freiheit gegeben, das ganze Jahr hindurch wieder Prozessionen zu halten oder gar Klöster zu erbauen, während doch Religionsfreiheit klärlich heiße: »Befreiung von der Religion.« Die Hörerschaft bekundete durch jubelndes Beifallsgelächter wie hoch sie, gleich dem Redner, über jener curiosen Naivetät des Klerus stehe, und die Lachenden ahneten nicht, daß sie selber im vorliegenden Fall eigentlich die Naiven seyen.
Die katholischen Vereine wucherten über Nacht wie Schlingkraut. So etwas läßt sich nicht äußerlich machen. Diese Vereine hatten unzweifelhaft Wurzel im Volke geschlagen. Ihr festes Zusammenhalten, ihre Disciplin fand nur in der Organisation der radicalen Vereine, später auch des Treubundes, ein Seitenstück. Die gemäßigten Vereine sahen neben diesen schlaglustigen und geregelten Truppenkörpern recht wie der Krähwinkeler Landsturm aus. Und doch bargen gerade sie so viel Weisheit und edlen Willen! Aber nicht Weisheit und Wohlwollen entscheidet, wenn ein Volk vom Fieber der Revolution glüht, sondern Klugheit und Thatkraft.
Ich hatte Gelegenheit, in den aufgeregtesten Tagen einer Art von Provincialversammlung mehrerer Piusvereine beizuwohnen, die in einer sehr durchwühlten und kirchenfeindlichen Gegend abgehalten wurde. Der Eindruck war ein ganz romantischer. Ohne vorher viel Kunde in's große Publikum kommen zu lassen, hatten sich die Vereinsglieder in einem Saal versammelt, dessen Fenster von der Straße aus nicht »bestrichen« werden konnten. Statt des obligaten Tumultes damaliger Volksversammlungen herrschte feierliches Schweigen in dem Raume. Wenn man sich die Versammelten im gesteigerten Lichteffecte der erregten Phantasie etwa als eine in tiefer Höhleneinsamkeit ihre Mysterien feiernde Urchristengemeinde hätte ausmalen wollen, dann würden dießmal auch die heidnischen Verfolger nicht gefehlt haben, welche in Gestalt von allerlei Straßenpöbel bedenklich das Haus umwogten. Unter andächtiger Kirchenstille ward ein das Streben der Vereine anerkennendes Schreiben des Papstes verlesen. Nur auserlesene Redner traten auf, wie wenn es zur selbstverständlichen Disciplin dieser einer strengen Kirchenzucht befreundeten Versammlung gehöre, daß nicht jeder Laie und Liebhaber dreinrede wie ihm der Schnabel gewachsen. Man vernahm nicht bloß den breiten phlegmatischen Kanzelton, sondern daneben auch jene hinreißenden Accente eines glühheißen Glaubenseifers, rednerische Bruchstücke, welche klangen wie wenn sie aus dem Munde eines wandernden mittelalterlichen Kreuzpredigers kämen, wohl auch gewürzt mit einem derben volksthümlichen Humor, der nicht unvortheilhaft an die Tradition der Capuziner erinnerte. Den dramatischen Mittelpunkt aber bildete das Erscheinen der historischen Figur des Hofraths Buß auf der Rednerbühne, der, eben auf einer seiner Rundreisen begriffen, von der nächstvorhergehenden Station geraden Wegs aus den Händen insultirender Gassenbuben in die Versammlung gekommen war. Das zähe Wesen dieses merkwürdigen Mannes, ein wunderbares Gemisch von glühender Leidenschaft und äußerster Trockenheit, verfehlte nicht leicht seine Wirkung. Meistens abstract in seinem Gedankengange, anschauungslos und langathmig verwickelt in der Redeform, durch den rastlos sich zudrängenden Ueberschwall der Ideen unverständlich, wurde der Agitator allein durch den Nimbus eines nie gebrochenen Eifers, durch die Sammlung all seines Strebens in dem Brennpunkt eines unverrückten Ideals – der Herrlichkeit der katholischen Kirche – in seinen Kreisen volksbeliebt. Vielleicht hat unsere ganze Revolutionsgeschichte keinen eifrigeren und einseitigeren Charakter aufzuweisen. Aber seine unendliche Zähigkeit war nur das Spiegelbild der Zähigkeit seiner Partei. Alle andern Fractionen konnten es nicht verwinden, bald hier bald dort seitwärts zu blicken, die ultramontane allein steuerte unverrückt auf ihr einziges Ziel los, und jeder neue politische Gedanke, der aus dem Gewoge des großen Geisterkampfs aufwallte, wurde sofort ihrem letzten Gedanken, dem Gedanken an die Erhöhung der Kirche dienstbar gemacht.
Am Eröffnungstage der deutschen Reichsversammlung fiel zwar der Antrag eines geistlichen Mitglieds durch, die Sitzungen mit einer kirchlichen Feier zu beginnen; aber wer in dem Augenblick, wo unter dem lauten Spott der Gegner und der Galerie über diesen Vorschlag abgestimmt wurde, ungeblendeten Auges die Reihen der Abgeordneten musterte, der mußte eingestehen, daß der Klerus und sein Anhang in einer für jene Tage unglaublich starken Schaar in der Paulskirche vertreten war. Noch wußte man nicht, wem diese Fraction sich zuwenden würde: um so mehr zeigte der Hohn, womit die Demokratie den Antrag jenes Geistlichen entgegennahm, daß unsere Radikalen mit Blindheit geschlagen seyen. Der entscheidende Augenblick war gekommen, wo die ultramontane Partei ihren Frieden schließen konnte mit der protestantischen Fürstengewalt, wo in Vergessenheit getaucht werden konnte das Gedächtniß jener langjährigen Reibungen, um derentwillen nicht wenige protestantische Regierungen das katholische Element in ihren Staaten als ein schlechthin gegnerisches angesehen hatten. Und dieser Friede ist damals – wenigstens für die nächsten Jahre der politischen Bewegung – geschlossen worden, ohne daß es die Demokratie auch nur des Versuchs werth hielt, seinen Abschluß zu verhindern! Sie hatte eben damals ganz vergessen, daß es überhaupt noch Fürsten und daß es überhaupt noch eine Kirche gebe!
Es war ein böses Wahrzeichen, daß des deutschen Reichstages erste Abstimmung die Eröffnung des ernsten Werkes durch ein Gebet stracks zurückwies. Das war nicht nach deutscher Art und Sitte gehandelt; denn das deutsche Volk betet noch. Philipp Wackernagel ruft in seinem schönen Büchlein »Trösteinsamkeit« jenen Männern, die damals gegen das Gebet stimmten, das herrlichste Lied Arndt's in's Gedächtniß, das ein so ächt deutsches Lied ist, wie wenige andere:
Sind wir vereint zur guten Stunde,
Wir starker deutscher Männerchor,
So dringt aus jedem frohen Munde
Die Seele zum Gebet hervor.«
Inmitten der politischen Bewegung wußten sich die kirchlichgesinnten Protestanten nicht so rasch auch äußerlich zu sammeln und zu ordnen, wie die Katholiken. Später dagegen griffen sie um so tiefer und nachdrucksvoller die kirchliche Behandlung der socialen Fragen auf. Im ersten Sturm des Jahres 1848 wollte die protestantische Geistlichkeit an vielen Orten ihre Kirchenverfassung als eine schwebende Frage den politischen Errungenschaften anbequemen; der katholische Klerus schmiegte umgekehrt diese Errungenschaften dem feststehenden Interesse seiner Kirche. Die Protestanten erwogen wohl etwa, wie man kirchlicherseits dem Zeitgeist die ungefährlichsten Zugeständnisse machen könne; die Katholiken dagegen fragten, wie die Zugeständnisse des Zeitgeistes am besten für die Kirche zu nützen seyen. Der Protestantismus organisirte anfänglich keine Vereine, keine politische Zeitungspresse. Die Politik seiner Consistorien war gegenüber dem Andrang der Bewegung vertheidigungsweise und unterhandelnd; die Politik des katholischen Klerus angriffsweise und gebietend. Beides entspricht dem Charakter der beiden Kirchen: es läßt sich aber leicht errathen, wer bei seiner Politik am besten wegkommen mußte.
In den kleineren protestantischen Ländern zumal suchten die Kirchenbehörden eine Art von konstitutionellem Weg einzuschlagen. Es galt aber vor allen Dingen, eine kirchliche Volksbegeisterung an der politischen zu entzünden, nicht kirchenrechtliche Religionsgespräche zu eröffnen. An Thaten und Anschauungen begeistert sich das Volk; gelehrte Debatten sind allen guten Christen gleich langweilig. Man schrieb z.B. Gemeindeversammlungen und Provinzialsynoden aus, die sich später in Generalsynoden gipfeln sollten, wozu es aber in der Regel nicht gekommen ist; man räumte wohl auch den Laien bedeutende Zugeständnisse zur Mitberathung einer neuen Kirchenverfassung ein. Weil man aber solchergestalt auf halbem Wege stehen blieb, so schwächte man dadurch einerseits die Autorität der Kirche, ohne doch auf der andern Seite irgend ein bestimmtes Ergebniß zu gewinnen. Man hat wohl auch hier und da durch das ganze Jahr 1848 zahlreiche kleinere, örtliche Synoden abgehalten, wobei ungeheuer viel geredet, geschrieben und gedruckt worden ist. Bei diesen Vorarbeiten ließ man's dann aber auch vorläufig bewenden. Dadurch wurde aber nur ein verneinendes Resultat erreicht. Denn alle diese Miniatursynoden waren eigentlich nur darin einig, daß der dermalige Zustand der Kirchenverfassung ein unhaltbarer sey; allein das hatte man auch ohne Synoden schon lange vorher gewußt. Beiläufig machte man auch die Bauern mißtrauisch, welche glaubten, wo von den Pfarrern so eifrig gesprochen und geschrieben werde, da müsse es sich doch schließlich nur um Pfarrgehaltserhöhungen handeln oder um Bereicherungen des Kirchenfonds.
So prägte sich also dem Volk nichts tiefer ein, als das Bewußtseyn des Schwankenden und Unfertigen in dem neuen Uebergangsstadium der protestantischen Kirchenverfassung, während die katholische Kirche gerade durch das Geschlossene ihrer Zustände in so bewegter Zeit imponiren konnte.
Der Protestantismus scheute sich als politische Macht aufzutreten. Trotzdem entwickelte sich eine politische Macht aus demselben. Durch die Wucht der Ereignisse zur Energie getrieben, schloß sich in Preußen die kirchlich-conservative Partei zusammen, mit der Tendenz, das legitime Königthum mit dem heiligen Oel moderner Gläubigkeit zu salben. Der religiöse Kitt schließt diese Partei nicht minder fest als der politische, und ohne den im allgemeinen immer stärker sich bekundenden Hunger nach einem positiven Kirchenthum würde sie nicht eine so mächtige Partei geworden seyn. Der Conservatismus dieser Partei scheidet sich jedoch wesentlich ab von dem der ultramontanen. Sie ist die Partei der positiven Politik mit kirchlicher Farbe, der Ultramontanismus dagegen des positiven Kirchenthums mit politisch-legitimistischer Farbe. Die katholisch-klerikale Partei stand bereits beim Beginn der Revolution fertig da, einer Armee vergleichbar, die man nur mobil zu machen braucht, die protestantisch-conservative ist erst durch den Verlauf der Revolution zum inneren Abschluß getrieben worden. Aber ihr Einfluß wuchs ebenso unglaublich schnell, wie jener der katholisch-klerikalen. Man darf sich nicht wundern, wenn später nach der Entkräftung der Demokratie diese Partei neben der ultramontanen unzweifelhaft die zäheste und thatkräftigste in Deutschland ward, denn beide sind ganz unerschrocken in der Durchführung ihrer Consequenzen und gehen dabei durch dick und dünn. Beide wissen, daß sie eine Stütze in den erstarkenden kirchlich gesinnten Gruppen des Volkes haben. Es ist darum auch ganz naturgemäß, daß beide Parteien sich die Hand reichen zum Kampfe wider die gemeinsamen liberalen Gegner, und daß solchergestalt die Partei, welche sich die specifisch preußische nennt, nicht selten im engsten Bunde stand mit der großdeutschen, österreichisch ultramontanen. Zwischen der Disciplin des Treubundes und der Piusvereine ließen sich schlagende Parallelen ziehen, und zu dem kleinen Sittenbild, in welchem ich oben eine Scene der katholischen Vereine aus bewegter Zeit zu skizziren suchte, wäre leicht ein Gegenstück aus den Entstehungstagen des Treubundes auszuführen. Als Hoffmann von Ludwigsburg im September 1848 in der Paulskirche seinen gläubig-kirchlichen Standpunkt geltend machte, faßte man dies noch als eine vereinzelte Curiosität, etwa wie andererseits den Humor des Atheismus in Vogt's Munde. In kürzester Frist aber war aus der »Curiosität« eine mächtige Partei geworden, eine Partei, die selbst auf die große deutsche Verfassungsfrage und ihre Unlösbarkeit tiefgreifend geheimen Einfluß übte.
Von der Trennung der Schule von der Kirche, von der Civilehe und ähnlichen Dingen hatte man sich vordem fabelhafte Erfolge gegenüber der Hierarchie versprochen, und nun man eine Weile damit experimentirt, bleibt nur Eines erwiesen, daß die Sitte im Volke mächtiger sey, als jede theoretische Satzung. Die Gesetzgebung verbriefte die Rechte der Juden und zur Antwort darauf steinigte das »Volk« die Juden – gerade in seinen freisten Märztagen.
Gründlicher als je zuvor wenden gegenwärtig die Kirchlichen beider Confessionen ihre thatkräftige Aufmerksamkeit der socialen Entartung und der materiellen Noth des Volkes zu. Die Organe der protestantischen inneren Mission haben sich neuerdings weit gründlicher mit dem Studium der »Naturgeschichte des Volkes« befaßt, als die meisten politischen Blätter. Alle jene norddeutschen Vereine, die den Arbeitern Häuser, den Gesellen Herbergen bauen, die eine Pfennigliteratur für das Haus des gemeinen Mannes schaffen und seinen Schönheitssinn durch gute Holzschnitte mit Bildern aus der Bibel heranziehen wollen, die meisten jener Vereine zur Linderung von Noth und Elend in allen Formen verfolgen zugleich religiöse Tendenzen oder sind durch dieselben zunächst angeregt. Auf der andern Seite haben die Jesuitenmissonäre auf einmal ganz neue Predigtthemen aufgebracht. Sie predigen über die socialen Fragen. Sie halten sogenannte Standespredigten. Diese Standespredigten verfehlen schon um ihres Stoffes willen selten ihren Eindruck auf das Volk. Es hat namentlich für den gemeinen Mann den Reiz des Neuen, Praktischen und Zeitgemäßen, daß er hier die nächsten Fragen seiner bürgerlichen Existenz, seiner Stellung in der Gesellschaft vom kirchlichen Standpunkt erörtern und prüfen hört, statt der weiland beliebten allgemeinen Moralfragen. Diese Standespredigten übersetzen die Naturgeschichte des Volkes in's Erbauliche. Dies wirkt hinreißend auf das Volk selber, es fühlt bei den Jesuitenpredigten wohl heraus, daß durch dieselbe die Kirche dem Volksthum wieder näher treten will. Wir sahen Bauern und Handwerksleute, die alle Geschäfte stehen und liegen ließen, und täglich fünf solcher Predigten eine und zwei Wochen lang anhörten und doch nicht müde wurden. Es ist das eine ganz neue Art von Volksreden, von denen man sich etliche Jahre früher nichts hätte träumen lassen. Die Jesuiten ziehen gleich den Männern der protestantischen innern Mission die sociale Politik in die Kirche, Mögen wir uns erfreuen oder ärgern an dieser Thatsache, so sollen wir wenigstens ihre Tragkraft nicht unterschätzen, und der Staatsmann, der Volksredner und Volksschriftsteller kann von den Jesuiten lernen, wie man das Volk am Herzen packt. Schon hört man die Behauptung immer allgemeiner, daß der Neubau unserer zerbröckelnden Gesellschaft durch gar keine andere Macht mehr geschehen könne, als durch die Kirche. Während man noch vor wenigen Jahren allgemein in der entgegengesetzten Einseitigkeit befangen war und gar nicht daran dachte, daß die Kirche Theil nehmen könne und müsse an der Reform unserer socialen Zustände, halten Viele jetzt alle Heilversuche der weltlichen Mächte hier für eitel Spielerei. Auch der »christliche Staat« ward seit 1850 auf's Neue ein Schlagwort für Freunde und Feinde der Kirche. Diese Richtung steckt so tief in unserer Zeit, daß sie sogar schon veräußerlicht als Modesache auftritt, namentlich bei den höheren Ständen, und hier wieder insbesondere bei den Frauen. Wie im 18. Jahrhundert der Unglaube eine noble Passion war, so ist es jetzt zur noblen Passion geworden, möglichst kirchlich zu scheinen und sich an dem guten Werke der kirchlichen Erziehung des unteren Volkes, an der Linderung des socialen Elendes bei geistlichem Zuspruch - wenigstens durch den Geldbeutel zu betheiligen.
Als die Kluft zwischen den rein politischen Parteien immer größer wurde, als der Riß, welcher den Norden und Süden Deutschlands durch die sich befehdende Politik Oesterreichs und Preußens trennte, immer klaffender, gerade damals hatten sich die Protestanten im Norden und die Katholiken im Süden insoweit wenigstens auffallend genähert, als sich die entschiedenen Glieder beider Bekenntnisse auf dem Boden positiver Kirchlichkeit begegneten. Der Mutterwitz des Volkes begriff das recht gut und drückte es in seiner Sprache aus, wenn er behauptete, die Pfaffen seyen diesmal früher einig geworden als die Fürsten. Aber je entschiedener man am Kirchenthum festhielt, um so weniger konnte dieses Vergessen der kirchlichen Gegensätze von Dauer seyn. Der kirchliche Doppelzug des deutschen Volkslebens trat bald wieder immer strenger hervor und es zeigte sich, daß er nicht durch Zufälligkeiten bedingt, sondern in dem innersten Wesen der deutschen Volksbesonderungen als etwas Nothwendiges gegeben sey.
Noch hat nach jeder großen politischen Bewegung die Kirche einen Sieg gefeiert, denn eine solche Bewegung führt sie eben immer dem lebendigen Volksthum wieder näher. Erst nach dem Bauernkriege schloß sich der Protestantismus in kirchlich strengere Formen ab, und es ist bekannt, wie gerade die Eindrücke dieser socialen Revolution es waren, welche in Luthers Geist die Bedeutung des äußeren Kirchenthums wieder in den Vordergrund drängten. Durch die erste französische Revolution und die Befreiungskriege ward die Macht des protestantischen Rationalismus gebrochen und der Orthodoxie sammt der Mystik der Romantiker ein neuer Weg gebahnt. Durch die Wucht politischer Erschütterungen ist den Deutschen schon unzähligemale die Lust am leidigen Dogmatisiren zu Gunsten einer praktischeren Religiosität ausgetrieben und der edlere Theil der Nation vom Pelagius zum Augustinus bekehrt worden.
In social nivellirten Gegenden und in großen Städten, von denen das Gleiche gilt, hat die Unkirchlichkeit auch neuerdings vielleicht nicht in dem Grade abgenommen, wie in den anderen Gauen. Sie hat dagegen ihren Platz gewechselt und ist binnen wenigen Jahren merklich aus gebildeteren Schichten der Gesellschaft zu ungebildeteren, ja zu den ungebildetsten hinabgestiegen. Wenn Schleiermacher noch nöthig hätte, gegen die »gebildeten Verächter« der Religion zu Felde zu ziehen, so wäre jetzt überhaupt eine Bekämpfung ihrer ungebildeten und halbgebildeten Verächter mehr an der Zeit. In dem Maße, als der begüterte Mittelstand und die Gebildeteren religiöser gesinnt wurden, als die Regierungsgewalten in der Kirche ihre Verbündete wieder erkannten, schwand die religiöse Sitte unter den sogenannten »Arbeitern« modernen Styles, bei dem Rahm des Proletariats, und leider auch in den social zersetzten Staaten Mitteldeutschlands bei den städtisch gewordenen Kleinbauern. Selbst der äußerliche klerikale Einfluß hat hier offenbare Rückschritte gemacht. Dies hätte weniger zu bedeuten. Allein es wird in solchen Gegenden auch geklagt, daß sich z. B. die Zahl der Meineide in den unteren Volksschichten neuerdings erschreckend gemehrt habe. Der Begriff der religiösen Heiligkeit des Eides ist gewichen, weil dort dem Volke mit dem Ansehn der überlieferten Sitte überhaupt auch das Ansehn der religiösen Sitte wankend geworden, und das Gesetz ist im Volksleben ja etwas todtes, nur die Sitte ist das lebendige Gesetz. Auch Kirchendiebstähle sind in manchen Gegenden etwas alltägliches geworden, seit man dem Proletariat die Kirche selber zu etwas alltäglichem zu machen wußte.
Der Fall ist in Südwestdeutschland nicht selten vorgekommen, daß die Hälfte einer Gemeinde sich als eine freikirchliche constituirte, bloß deßhalb, weil sie keine Kirchensteuer und kein Glockenschmiergeld mehr bezahlen wollte, und daß nachgehends die andere Hälfte beitrat, weil es die Leute nicht mehr anhören mochten, daß ihnen Jene von ihrer neuen Steuerfreiheit im Wirthshause täglich vorprahlten. Oder eine Gemeinde mag einen Pfarrer nicht, den ihr die Kirchenbehörde hingesetzt; erst wird petitionirt, darauf protestirt, und um den höchsten Trumpf auszuspielen, tritt schließlich die Gemeinde aus dem Kirchenverbande, wo dann der mißliebige Pfarrer in Gottesnamen im Dorfe sitzen bleiben mag.
Wer die sociale Auflösung ganzer Gaue in Mitteldeutschland kennt, den werden solche Thatsachen nicht Wunder nehmen. Die tief gewurzelte Sitte bringt es mit sich, daß namentlich das Landvolk einen Glaubenswechsel als das Außerordentlichste ansieht, einen Abtrünnigen, einen Convertiten mit unheimlichem Grauen betrachtet. Diese Auffassung der Religion als einer ewig unantastbaren Sitte, welche durch Jahrhunderte widergehalten, um derentwillen die Vorfahren vielleicht Elend und Verfolgung freudig auf sich nahmen, über deren Bruch wohl noch die Väter des lebenden Geschlechts im Grabe sich umdrehen würden – diese Auffassung kann nicht wie über Nacht bei dem gemeinen Manne wankend werden, wo nicht die ganze sociale Persönlichkeit des Volkes, das Volksthum, schon lange der Auflösung preisgegeben ist.
In jenen Gegenden, wo Stadt und Land sich ausgleicht, wo die Dörfer städtisch geworden sind, findet man wohl, daß der Kirchenbesuch in den Städten zunimmt, während die Kirchen in den Dörfern veröden. Der Bürger fühlt sich zu innigerer Einkehr in seine kirchliche Gemeinschaft hingedrängt; der Bauer tritt aus derselben, weil er kein Glockenschmiergeld mehr bezahlen mag. Das Kirchenregiment hat auch in den hier besprochenen Gegenden neue Autorität bei der weltlichen Macht gewonnen; aber mancher gemeine Mann mag vor seinem Pfarrer nicht mehr die Mütze abziehen. Schwerer aber als alle äußere Gewalt und Herrlichkeit der Kirche wiegt die hier gebrochene religiöse Sitte des Volkes, die kirchliche Tradition, das uralt heilige Herkommen. Wo dies einmal zu wanken beginnt, da kann es durch kein Schulmeistern, durch kein Predigen wieder gestützt weiden, sondern nur durch eine politische und sociale Erfrischung des ganzen Volkslebens von innen hervor. Nur Stürme aber und schwere Wetter reinigen die Luft und die Völker von Grund aus, mit dem bloßen Wetterleuchten ist es nicht gethan.
Wenn der Drang zur »Emancipirung« von allem Kirchlichen vielfach aus den gebildeten Schichten in die minder gebildeten übersiedelt, so ist dieser Verlauf ein ganz natürlicher. Ein großes Resultat der Wissenschaft geht in der Regel im Verlauf von Menschenaltern in der Weise in die Stufenreihe der Volksmassen über, daß je mit dem folgenden Geschlecht eine niederere Bildungsschicht die geistige Erbschaft der höheren antritt, um sich dieselbe zu verwässern und populär zurecht zu schneidern. So nahm im 18. Jahrhundert die kritische, zersetzende Philosophie bei den ersten Denkern der Nation ihren Ausgang; einige Jahrzehnte später bemächtigten sich die Leute, welche aus der Intelligenz Profession machten, die Schöngeister, Pastoren, Pädagogen u. s. w. dieser Errungenschaft und verbreiteten sie in Literatur, Theologie, Erziehungslehre; wiederum eine Weile nachher griff der gebildetere Mittelstand diesen Rationalismus auf und verwässerte den schon einmal verwässerten Stoff zum andernmal in seiner Weise als praktische Lebensmoral; die dritte Verwässerung des bereits zwiefach Verwässerten zu Gunsten der ächten Halbbildung erfolgte durch den Deutschkatholicismus; und nun sind wir endlich bei dem vierten Stadium dieses Verdünnungsprocesses angelangt. Denn was die ganz Bildungslosen, was das Proletariat unter der Firma der freiesten Kirche jetzt begierig entgegen nimmt, ist nichts weiter, als der Schaum der alten kritischen und skeptischen Philosophie in seiner unendlichsten Verflüchtigung. Das Aergerlichste für den Mann der Wissenschaft besteht bei diesem Hergange nur darin, daß man ihm zumuthet, jede dieser Verwässerungsformen als etwas ganz Neues anzusehen, da er doch weiß, daß alles schon einmal dagewesen, und nur in dem Geschäfte des Abrahmens und Verdünnens das einzig Neue liegt.
Gegenüber diesem Proceß der Trivialisirung überlieferter Resultate zeigt sich gegenwärtig bei allen thatkräftigen, originalen Richtungen des geistigen Lebens die Tendenz, mit dem 17. und 18. Jahrhundert zu brechen. Liberale und Conservative, Philosophen und Theologen schreiben auf ihr Banner die Befreiung von den uns noch immer theilweise anhängenden Fesseln der Zopfzeit. Dieselbe war aber nicht nur die Zeit der politischen Willkürherrschaft, deren Reste der freisinnige Politiker wegschaffen will, der künstlerischen Unnatur, gegen welche der vorwärts strebende Künstler eifert, sie war auch die Zeit des ärgsten Verfalles der Gesellschaft, der Auflösung in Religion und Sitte. Es fragt sich nur, wo die Zopfzeit aufhört und die neue Zeit, unsere Zeit, die rechte, für uns berechtigte Zeit anfängt. Darüber eben sind die Gelehrten noch gar nicht einig. Denn während die Aufklärungsperiode des 18. Jahrhunderts von den Liberalen als der Frühmorgen dieser gesegneten neuen Zeit bezeichnet wird, gilt sie den Kirchlich-Orthodoxen gerade als die rechte Mitternacht der Zopfzeit. Man verfängt sich hierbei in den Extremen: es gibt keine Periode der Weltgeschichte, die an sich ganz unberechtigt und schlecht gewesen wäre. Vor hundert Jahren lag es der Literatur des aufgeklärten Europa nahe, alle geistlichen Dinge weltlich zu richten, während in der modernen Literatur eine mächtige Phalanx dem entgegengesetzten Ziele immer näher rückt, alle weltlichen Dinge geistlich zu richten. Der Kunst soll nur noch vom Standpunkte der Kirche ihr Urtheil gesprochen werden, nicht minder der Wissenschaft, den Institutionen der Gesellschaft und des Staates. Man kann aber die Bedeutung der Kirche für das gesammte Leben der Nationen vollauf anerkennen und doch bei der zwischen den Extremen des 18. Jahrhunderts und der neuesten Zeit mitten innen stehenden Forderung beharren, daß eben Weltliches weltlich und Geistliches geistlich gerichtet werde, daß der Staat und die Gesellschaft dem Staatsmanne bleibe, die Kunst dem Künstler, wie die Kirche Herrin in ihrem eigenen Hause bleiben soll: alle diese Mächte aber sollen darum nicht weniger einträchtig zusammenwirken zum Aufbau des gesammten öffentlichen Lebens, an dessen Vollgehalt jede derselben ihre gerechten Ansprüche hat.