Wilhelm Heinrich Riehl
Land und Leute
Wilhelm Heinrich Riehl

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VI. Centralisirtes Land.

Wer aus dem westlichen Mitteldeutschland kommt, wo überall auf engstem Raum so große Mannichfaltigkeit des Volks und Bodens zusammengedrängt ist, wo man bei jeder Meile Wegs gleichsam um eine Ecke tritt, daß sich der Anblick eines neuen Landes, anders gearteter Menschen eröffnet, für den fällt auf den langgestreckten bayerischen Hochflächen zwischen der Donau und den Alpen vor altem das Weitschichtige, Auseinandergezogene der Landschaft wie der Volksgruppen auf, der Mangel der feineren Durchbildung auf kleinem Raum. In den erstgenannten Gauen liegt der Stoff zu Landes- und Volkskunde in zahlreichen Duodezbändchen angehäuft, hier in zwei bis drei großen Folianten. Wo dort manchmal ein Nachmittags-Spaziergang genügt, um Gegensätze von Land und Leuten neben einander im Original zu vergleichen, da fordert dieß hier Tagemärsche. Nicht als ob es dem Flach- und Hügellande zwischen Iller und Inn an scharf geprägtem Charakter fehle: derselbe ist nur in breiten Zügen angelegt, und eben darum wußte er sich so ungebrochen derb zu bewahren.

Den bis in's Kleinste individualisirten Landstrichen gehört die Vergangenheit, namentlich die mittelalterige. Gehört vielleicht den in's Breite und Massenhafte angelegten Ländergruppen die Zukunft? Der Hauptstock der am individuellsten durchgebildeten Gegenden Deutschlands: Thüringen, Hessen, die Uferlande des Ober- und Mittelrheins etc. ist in der Kleinstaaterei stecken geblieben; die Ländergebiete der drei mächtigsten deutschen Staaten: Oesterreich, Preußen, Bayern gliederten sich seit alter Zeit nach massenhafteren Gruppen. Auf den weiten Hochflächen an der Isar, in den weiten Sandniederungen an der Spree zogen sich in der neuesten Zeit die zwei bedeutendsten Mittelpunkte deutschen Kunstlebens zusammen; nie und nimmer hätte das Mittelalter an solchen Punkten Kunsthauptstädte zu gründen vermocht. Die große Fabrikindustrie und der Weltverkehr der Eisenbahnen sucht jetzt mit Vorliebe die weiten gleichförmigen Ebenen auf, und die endlosen Steppen des russischen Reiches sind es, aus welchen die beklommene Phantasie des vielgliedrigen Abendlandes die dunkeln Schattenbilder einer neuen Völkerwanderung von ferne heranziehen sieht.

Es gibt wohl einen Dualismus des deutschen Volksthumes, aber er fällt durchaus nicht mit den Gegensätzen von Nord- und Süddeutschland zusammen. Er gründet sich auf die Doppelart gleichheitlich geeinigten und vielgestaltig gesonderten Landes und Volkes. Die beiden bewegenden Kräfte des Einigungstriebs und des Sondergeistes in der bürgerlichen Gesellschaft entwickeln sich hier auch geographisch und ethnographisch. Der Norden und Süden unsers Vaterlandes zeigt entschieden wahlverwandte Gruppen von Volkscharakteren: Mitteldeutschland ist es, was den Gegensatz hierzu bildet. Sieht man von den Zufälligkeiten, von der Dekoration, dem äußeren Gewand des Volksthumes ab, dann stehen die Ostfriesen, Schleswig-Holsteiner, Niedersachsen, Mecklenburger, Pommern den Altbayern, Tirolern, Steyermärkern unendlich näher als Beide den Obersachsen, Thüringern, Rheinfranken ec. Im Norden und Süden sitzen noch Volksstämme in großen und ganzen Gebilden, im Binnenland sind die Trümmer ursprünglicher Stämme aufgelöst und bunt durcheinander geworfen. Im Norden und Süden findet sich noch reines Bauernvolk, reine Dörfer, dazwischen aber auch reine Städte. In der Mitte ist bäuerliches und städtisches Wesen vielfach verwischt und in einander getrieben, die Bauern sind städtisch, die Kleinstädter bäuerisch, bei hunderten von kleinen Städten und großen Dörfern läßt es sich gar nicht genau bestimmen, ob sie mehr das eine oder das andere sind. Rein bäuerliche Bezirke sind da nur noch im kleinen eingesprengt, Ausnahmen, welche die Regel bestätigen. Reine Großstädte wie etwa Hamburg, Berlin, Wien, hat Mitteldeutschland nicht aufzuweisen, eben so wenig so reine Bauerndörfer gleich jenen am Fuß der Alpen und an der Meeresküste. Im Norden und Süden weiß man noch ungefähr, was Stände sind, in der Mitte ist das Verständniß für die organische Gliederung der Gesellschaft fast ganz erloschen. Die letzten bedeutsamen Reste des alten Innungswesens muß man an der Nord- und Ostsee und in den Vorländern der Alpen suchen. In Ober- und Niederdeutschland herrschen noch reine Volksmundarten vor; die aufgelöste und verwitterte Volkssprache zeichnet Mitteldeutschland. Im Süden und Norden wurzelt vorzugsweise noch ein strenges Kirchenthum im Volke, und der Pommer sieht noch ebensogut im Papste den wirklichen Antichrist, wie ihn der Tiroler im Doctor Luther sieht. Im Binnenland mischen sich die Bekenntnisse, und Duldung und Gleichgültigkeit hat selbst im niederen Volke fast nur noch gebrochene und gedämpfte Tinten des kirchlichen Lebens übrig gelassen.

Im Norden und Süden wohnen noch einsame Menschen, der Cultur entrückte Volksgruppen, in der Mitte sind alle Pfade aufgeschlossen und jedes Einzelnen Haus steht an der großen Heerstraße. Dort kann man noch Entdeckungsreisen machen, hier stolpert je alle zehn Schritte ein Tourist über den andern. Wie die Bewohner des einsamen Oberlechthales und vieler andern Alpenthäler in jungen Jahren in die weite Welt ziehen, um draußen ihr Brod zu suchen und erst am späten Lebensabend als gemachte Männer in die stille Heimath zurückzukehren, so ziehen Tausende von Küstenbewohnern in gleicher Absicht nach allen Meeren. Von den alten Normännern geht die Sage, daß sie durch das Loos ein Procent des jüngern Volks zu ihren Seezügen ausgewählt hätten, und wunderbar genug wird ganz das Gleiche auch in den alten schweizerischen Wandersagen erzählt.

Norddeutsches und süddeutsches Volksthum unterscheidet sich in vielen Äußerlichkeiten; im Kern und Wesen stehet sich beides erstaunlich nahe. Schon in der Landesart ist diese Verwandtschaft im Gegensatze zu Mitteldeutschland auf's schärfste herausgekehrt. Im Norden und Süden herrschen die massenhaften geographischen Gebilde vor, große Ebenen, das Meer, große Ströme, große Gebirge; in Mitteldeutschland der bunteste Wechsel kleiner Hügel- und Flachlandpartien, Mittelgebirge der mannichfaltigsten geognostischen Zusammensetzung, eine Ueberfülle kleiner Gewässer. Dem entspricht massenhaft geeintes Volksthum auf der einen Seite, zersplittertes auf der andern. Wenn Prof. Bernhard Cotta auf den schlagenden Zusammenhang zwischen dem revolutionären Volksgeiste und den örtlichen geologischen Bodengebilden in Deutschland hingewiesen hat, so liegt in solcher Vergleichung in der That mehr als ein bloßes Spiel des Witzes. Wo die urweltlichen Revolutionen augenfällig am tollsten gewirthschaftet und die mannichfaltigsten Gesteinschichten neben und untereinander geworfen haben, da konnte naturgemäß auf dem zerrissenen Boden auch das Volksleben am frühesten zerrissen und zersplittert werden, und in diese Risse setzte sich die moderne Bildung und mit ihr die Empfänglichkeit auch für die revolutionären Produkte derselben, während ein auf massenhaft gruppirtem Lande heimisches, massenhaft abgeschlossenes Volksthum ungleich spröder und zäher in seiner Eigenart verharren wird. Den mitteldeutschen Stämmen fehlt jene ausschließende Einseitigkeit, aus welcher sich große Volksgruppen als ein einheitliches, zäh beharrendes Originalgenie entwickelten, wie diese Einseitigkeit den geognostischen und geographischen Bildungen seines Bodens fehlt.

In der Absicht nun, ein nach breiten Massen angelegtes Land, ein in großen Zügen gestaltetes Volksthum dem auf's äußerste durchgearbeiteten kleinen Winkel des Rheingaues gegenüberzustellen, wenden wir uns zu den südbayerischen Hochflächen. Blicken wir zuerst auf die Eigenthümlichkeiten des Landes.

Ein hohes, rauhes Tafelland, bildet es die Riesenbrücke zwischen den Alpen und unsern binnenländischen Mittelgebirgen. Nur Hügel, namenlose Hügel, keine Berge beleben die ungeheure Fläche. Jeder Fernblick gegen Süden wird begrenzt durch die am Himmel verschwimmenden Bergspitzen der Voralpen. Man kann auf zwanzig Meilen von Westen nach Osten wandern, und schaut immer dieselbe Bergkette im Hintergrunde. Die ewigen Alpen, das Sinnbild der Stätigkeit in der Natur gleich dem ewigen Meere blicken als Herrscher und Hüter über das ganze weite Land. Zahlreiche kleinere Flüsse schießen vom fernen Bergwall in reißendem Laufe die steil geneigte Hochfläche hinab der Donau zu, aber kein größerer Strom gliedert das Land. Ufer und Wasserlauf gleichen sich täuschend bei fast allen diesen Gewässern; die meisten strömen in gleicher Linie von Südwest nach Nordost. Bei den Thälern des Lech, der Isar, Iller, Amper, Paar, Glon, Zusamm, Schmutter etc., ist allenthalben, sowie sie den äußersten Damm des Hochgebirges durchbrochen haben, die Thalweitung unverhältnißmäßig breit gegen die Höhe der umsäumenden Hügel und die Masse des Wasserlaufs. Sonst bändigt und beherrscht in der Regel der Berg, ja der Hügel den Fluß oder Bach, zwingt ihn um seine Ecken und Vorsprünge sich zu beugen: die Felsen und Höhen sind die Riesen, und die Bäche, zu ihren Füßen sich windend, die Zwerge. Hier dagegen sieht es aus, als ob die Hügel den Bächen nachliefen, und obendrein stets in ehrerbietiger Entfernung: diese Alpenströme ohne Alpen sind die Riesen, und die Hügel ohne sichtbaren Felsenkern, mit weibisch rundlichen Formen die Zwerge. Man sieht fast überall zu viel Himmel und zu viel Erde.

Die größeren Flüsse dieser Hochfläche haben selten ein geregeltes Bett, sie laufen fast überall in zahlreiche Zweiggeflechte und Seitenarme aus einander, und nehmen mit nutzlosen Inselchen, Sand- und Geröllbänken, Altwassern, kleinen Sümpfen dreimal mehr Platz ein, als ihnen von Rechtswegen gebührte. In diesen schwer zugänglichen Flußauen herrscht oft noch Urwildniß. Denn es sind diese Flüsse noch nicht Knechte der Gesittung, sondern wilde Feinde derselben. Sie hemmen den Verkehr, statt ihn zu beleben. Die menschliche Ansiedelung hat sich nicht an ihren Ufern gesammelt, sie ist ihnen vielmehr möglichst weit ausgewichen. Das Schwemmland, welches das Hochwasser heuer geschaffen, wird im nächsten Jahre wieder verschlungen von den tobenden Fluthen. Vielleicht zeigen sie nur in einer einzigen regnerischen Sommerwoche ihre volle jähe Zerstörungswuth, aber ein paar Stunden genügen dann, um den Acker, welchen man jahrelang dem Element mühselig abgetrotzt, in eine für immer zur Cultur unfähige Geröllbank zu verwandeln. In der Meringer-Au am Lech lag das uralte Schloß Gunzenlech, wie die Sage erzählt, ein Bau von fabelhafter Größe und Herrlichkeit, in welchem die alten bayerischen Herzoge ihre stolzesten Feste feierten – es ist im Lech versunken und nicht bloß das Schloß, auch der Boden, auf dem es mit seinen weitberühmten Prunkgarten gestanden, und Keiner weiß mehr seine Stätte.

Uebermäßig breite Strombette, weitgedehnte unfruchtbare Alluvionen, große Moorflächen, in denen noch vereinzelte Siedler wohnen neben den kleinen Dörfern, ansehnliche Seen und Weiher, zahllose Hügelgruppen, die einander folgen und sich gleichen wie eine Wasserwoge der andern, darüber ein Himmelsgewölbe, welches südwärts von den Alpen aufsteigt, um im Norden weit über die Donau hinaus im Frankenlande sich wieder auf der Grundlinie des Erdkreises niederzulassen.

Diese breite Physiognomie sitzt dann auch den natürlichsten Kunstwerken des Landes wie angeboren: den Dörfern. Sie sind viel gedehnter angelegt, die Häuser geräumiger, als man's bei den Bauernwohnungen Mitteldeutschlands zu finden pflegt, die Fenster so breit, daß sie zum Entsetzen jedes künstlerischen Auges wohl gar quadratförmig werden. Selbst auf den Kirchhöfen liegen die Todten oft auffallend weit auseinander gebettet. Ueberall der Eindruck, daß in diesen Gegenden noch sehr viel Platz sey, Platz für eine verdoppelte Volkszahl. Es ist noch allerlei Rohstoff des Landes vorhanden, nicht jedes Zipfelchen der Oberfläche präsentirt sich sofort als verarbeitetes Produkt. Die Wahrnehmung, daß hier die Welt noch nicht ganz vertheilt sey, hat für Jemand, der aus einem übervölkerten Landstrich kommt, etwas Behagliches, Beruhigendes. Die Ackerstücke sind für ein mittelrheinisches Auge mehrentheils erstaunlich groß. Es wäre freilich sehr verkehrt, wenn man diese Raumgröße als Beweis eines größeren Reichthums nehmen wollte, denn auch der Bau des Bodens zielt meist mehr auf das Massenhafte, als auf die Benützung im Kleinen und Einzelnen. Die Ackerfurchen sind auffallend breit und tief gezogen, die Pflanzen meist weitschichtig gesetzt. Wie folgerecht leuchtet dieser Grundcharakter eines ausgedehnten, geräumigen Landstrichs überall durch! Und diese hohen und breiten Beete des gepflügten Ackers, deren Urbild die bis zur Donau streifenden sogenannten Hochäcker oder Bifänge zeigen, sind zugleich historische Denkmale; denn so breit und tief wie heute der oberbayerische Bauer seine Furchen zieht, zog sie hier auch vor langen Jahrhunderten der Kelte mit dem rhätischen Pflug, den Plinius beschreibt. In den Wäldern sieht man mehrentheils die gefällten Bäume mehrere Fuß über der Wurzel abgesägt, während dieser lange Stumpf mit der Wurzel im Boden stecken bleibt und häufig genug unbenutzt verwittert. Das ist das letzte Zeichen der Erinnerung an die Zeiten, wo die ganze Bevölkerung an dem in den Wäldern von selbst verdorrenden Holze gerade genug hatte, um ihren gesammten Feuerbedarf damit zu bestreiten.

Dem regellosen Lauf der Flüsse auf diesen Hochflächen sind mehrentheils auch die Wege zu vergleichen. Die kleineren Gemeindewege zumal nehmen sich mit ihren Krümmen – die in uralter Zeit der Fuß des Wanderers vorgezeichnet haben mag, nicht die Meßschnur des Wegbauers – mit ihren dem Hauptweg bald nahe bald weitab zur Seite laufenden Hülfsfußpfaden genau wie das wilde Strombett eines vertrocknenden Flusses aus. Diese ungeregelten, überzähligen wilden Pfade fressen unglaubliche Strecken culturfähigen Landes weg. Wenn Walther in seiner »Topischen Geographie von Bayern« versichert, daß Bayern durch die Cultur aller seiner Moore innerhalb seiner eigenen Grenzen an urbarem Flächeninhalt ein nicht unbedeutendes Fürstenthum erobern könne, so glauben wir, daß durch die Regelung der wilden Wege wenigstens auch noch eine stattliche Grafschaft dazu zu gewinnen wäre. Aber dann müßten die geregelten Wege freilich in einem ganz andern Stande gehalten werden als gegenwärtig; denn so lange man bei nassem Wetter selbst im frisch gepflügten Acker reinlicher geht, als in dem Schlammstrom der Straße, wird die Nothwehr von Roß und Mann doch immer die wilden Wege erzwingen. Nur wer die Armuth an Bruchsteinen auf diesen Hochflächen mit eigenem Auge gesehen, begreift, wie die Straßen so schlecht seyn können, während doch das Budget so beträchtliche Summen für deren Pflege aufweist. Elendes kleines Kalkgerölle, welches man in andern Gegenden zu schlecht erachten würde, um den letzten Feldweg zu stücken, wird hier wohl gar meilenweit verfahren zur Unterhaltung von Staatsstraßen ersten Ranges. Wenn man in dem weiten Hügel- und Flachlande zwischen Ulm und München gelegentlich einen durch den Zufall verschleuderten tüchtigen Bruchstein am Wege liegen sieht, so betrachtet man ihn mit kindischer Freude, mit jener Pietät, mit welcher man in holzarmen Gegenden zu einem vereinzelten Baume aufblickt. Hölzerne Grenzsteine sind in den Dorfmarken nichts seltenes; dem Widerstreit mit der Logik, der in diesen hölzernen Steinen liegt, geht man in neuerer Zeit wohl auch durch Grenzsteine von gebranntem Thon aus dem Weg.

Wo der Backsteinbau ausschließend herrscht, werden Land und Leute fast immer nur nach breiten Massen gegliedert seyn. Der Backstein und die ebenmäßigen breiten Wandflächen bedingen sich gegenseitig, und der Mensch ist enger mit seinem Haus verwachsen, als man gemeinhin glaubt. Ich habe oben auf die Parallele zwischen den Marschen und Niederungen des deutschen Nordens am Saume des Meeres und den Mooren und Hochflächen des deutschen Südens am Fuße der Hochalpen hingewiesen, da nicht bloß die Bodengestalt, sondern auch die darin gewurzelte Verwandtschaft des Culturlebens des Volkes zum Vergleich herausfordern. Und gerade diese letztere Verwandtschaft läuft in hundert Zweigen auf den gemeinsamen Mangel des Bruchsteins und die Aushülfe durch den gebrannten Stein zurück. Ein Landmann vom Nordsaum der Allgäuer Alpen erzählte mir als etwas mährchenhaftes, daß er in Mannheim Häuser gesehen habe, deren Dächer »ganz mit Schreibtafeln benagelt« seyen. Er war entzückt von diesem Eindruck; ganz dasselbe hätte bei einem norddeutschen Küstenbewohner der Fall seyn können.

Den Einfluß des Bruchsteins oder Backsteins auf den Volkscharakter in seiner ganzen Breite und Tiefe nachzuweisen, ist noch eine stattliche Aufgabe für einen Culturhistoriker. Die Gegensätze, welche sich auf diese entscheidenden Rohstoffe der Civilisation gründen, erweitern sich bei geschichtlichem Rückblick in riesigem Maßstabe; aus dem örtlichen Gegensatze wächst ein weltgeschichtlicher auf: der Orient des Alterthums, der, wie Babylon durchaus, oder wie Indien zum großen Theil, auf den gebrannten Thon hingewiesen war, und das bruchsteinreiche Hellas und Rom; der backsteinbauende Nordosten Deutschlands im Mittelalter und die südwestdeutschen Bruchsteingegenden in demselben Zeitraum! Ueberall kommen wir auf gleiche Grundunterschiede zurück, die zuletzt in dem Bruchsteinhaus des Gebirgsbauern und in dem Lehm- oder Backsteinhaus des Flachland- oder Moorbauern zu dem kleinsten Maßstab zusammengeschrumpft, aber nicht erloschen sind.

Wie fein stuft sich wieder, um auf der südbayerischen Hochebene stehen zu bleiben, hier der ziegelgedeckte Backsteinbau in den Dörfern des hügeligen Theils gegen die strohgedeckten Häuser der Moosdörfer, gegen die schweizerischen Holzschindelhäuser der höheren Lage ab! Die plumpen, massiven, breit und tief gebauten Häuser der Hügelregion mit ihren quadratförmigen Fenstern, ihren hohen, aber fast im stumpfen Winkel gespannten Giebeln, ihrer weiten Hausfluren stellen uns den festen, wohlhäbigen, aber schwerfälligen Kornbauer dieser Gegend, der aussieht, als könne man Wände mit ihm einrennen, den Pommer Süddeutschlands, in klarster architektonischer Symbolik dar. Da, wo die Amper bei Wildenrott, die Würm bei Obermühlthal gegen die Ebene des Dachauer Mooses durchbricht, hat die Natur zum letztenmal, als auf dem letzten vorgeschobenen Posten, ein Stück wildromantischer Hochgebirgsscenerie inmitten des Flachlandes improvisirt, und genau in dieser Gegend tritt auch bei den Dörfern die Bauart des Gebirges ein, obgleich bei den Nachbarn rechts und links noch weit hinaus die Bauart der Hügel- und Moosstriche gilt, und eine zwingende klimatische Nothwendigkeit zur Anlage dieser Hochgebirgshäuser gewiß noch nicht vorhanden war. Mit so wunderbar sicherem Instinkt hat der Volksgeist seine bescheidenen architektonischen Gebilde dem Charakter des Landes angepaßt. Eine vergleichende Ueberschau des überlieferten deutschen Dorfbaustyls, nach Gauen und Stämmen geordnet, würde äußerst lehrreich seyn, und es wäre hohe Zeit, dieselbe zusammenzustellen, bevor die immer weiter fressende Gleichmacherei auch hier die alten natürlichen Unterschiede verwischt hat. Die Bauart der Bauernhäuser, wo sie noch historisch und ächt ist, gehört ebensogut der Kunstgeschichte, als das Volkslied der Geschichte der Musik. Nicht überall freilich gibt es Dörfer, deren Bau den ästhetischen Gehalt eines volksthümlichen Kunstwerkes beanspruchen darf, aber auch nicht überall sprudelt der Quell des Volksliedes. Die moderne Architektur, nachdem sie mit der Nachahmung der höheren Kunstformen vergangener Jahrhunderte so ziemlich fertig geworden ist, hat jener Baukunst des Volkes schon manche für neu geltende Formen abgelauscht, was uns lebhaft an die Ausbeutung des Volksliedes durch unsere gelehrten Componisten erinnert; und wenn bei manchen neumodischen Fabrik- und Eisenbahnbauten das travestirte Bauernhaus des Hochgebirges aus allen Ecken hervorlugt, so ist dies nichts anderes, als wenn die große Oper durch den Schmuck alter Volkslieder wieder jugendlichen Reiz zu gewinnen sucht.

Wie im deutschen Mittelalter das Volksleben in allem Sonderthum auf's einzelnste durchgebildet war, so zeigt auch die gothische Architektur das gleich Individuellste in ästhetischer Hinsicht. Der Backstein ist der ärgste Feind der gothischen Architektur. Nicht leicht mag eine Stadt solch redendes Zeugniß dafür ablegen, als Augsburg, der uralte Centralpunkt der südbayerischen Hochflächen. Die gothische Architektur ist hier verkümmert in dem widerstrebenden Material, die altromanische Weise und der Zopf, beide mit breiten Wandflächen, herrschen despotisch. Das geht dann weiter fort durch's ganze Land. Die Centralisierung des Dorfkirchenbaues hat sich zwischen Iller und Isar in einer Weise vollendet, die vielleicht in ganz Deutschland ohne Gleichen ist. Ueberall derselbe romanische Unterbau des Kirchenthurmes, auf den der Zopf dann einen luftigen achteckigen Pavillon gesetzt und diesen mit einer zwiebelförmigen Kappe gekrönt hat, überall dieselben schlanken minaretartigen Thürme, die, dem Charakter des Flachlandes entsprechend, wie riesige Spargeln aus der weiten Ebene aufschießen. Es geht eine scharfe Grenzlinie des bayerischen und schwäbischen Volksstammes mitten durch die Hochfläche, das Land in zwei große, nach Geschichte, Sitte, Mundart grundverschiedene Gruppen theilend, aber die Dorfkirchen sind in der gleichen Weise gebaut, hüben wie drüben. Wer da weiß, wie folgerecht sich im Mittelalter der Kirchenbau, und zumal dieser kleinere, handwerksmäßige, streng nach den Grenzen des Gaues sonderte, der wird das Gewicht dieses Umstandes ermessen. Ich wies oben auf die unterschiedliche Bauart der Hügelland-, Moor- und Gebirgsdörfer hin: für die alten Dorfkirchen allein gelten diese Unterschiede nicht: sie sehen sich in allen drei Strichen fast durchweg so ähnlich, wie ein Ei dem andern. Diese Gleichförmigkeit mag das künstlerische Auge zur Verzweiflung bringen: der Culturhistoriker sieht in den Hunderten gleich gebauter Thürme, Schiffe und Chöre ein imponirendes Denkmal der centralisirenden Gewalt der Kirche.

Auch diese alten Dorfkirchen sind wenigstens ein Bruchstück volksthümlicher Kunst. Wenn uns die charaktervollen Bauernhäuser die schöpferische architektonische Kunstrichtung des Volkes darstellen, dann bezeichnen uns diese Kirchen die nachbildende. Denn in ihnen spiegelt sich die rohe, handwerksmäßige Auffassung, welche der gemeine Mann in alter Zeit von dem höheren Kunststyl sich aneignete, gleichsam sein praktisch dargelegtes Verständniß des letzteren. Wer freilich an den modernen Dorfkirchenbau denkt, der lediglich durch die Willkür des Baumeisters, der Gemeindevorstände etc. bestimmt wird, der mag schwer begreifen, welch ein ungehobener Schatz für die Kunstgeschichte noch in den alten Dorfkirchenbauten liegt, die sich nach ganz natürlichen örtlichen Gruppen ordnen und, wie die ganze mittelalterliche Baukunst, auf's festeste in dem engbegrenzten Boden gewurzelt sind, der sie trägt.

Eines der merkwürdigsten Denkmale der Wahlverwandtschaft der norddeutschen Küstenländern mit den süddeutschen Hochflächen ist die gothische Frauenkirche zu München. Sie zeigt in ihrer Bauart die auffallendste Aehnlichkeit mit den gothischen Kirchen der deutschen Ostseeländer, die eine so ganz eigenthümliche, in der Natur von Land und Volk wie in der Art des Baumaterials (Backstein) begründete Einzelart des gothischen Styles darstellen. Weite Länderstrecken liegen trennend zwischen diesen beiden Polen Deutschlands, nirgends ist eine örtliche Vermittelung, ein Uebergang: und doch bauete man zu München in derselben, weil dem Volksgeist, dem Boden und dem Material entsprechenden Weise, wie an der fernen Ostseeküste.

Barthold in seiner Geschichte des deutschen Städtewesens zieht eine Parallele zwischen dem alten Lübeck und dem alten München, und weiset auf den großen Abstand in den jüngsten Epochen beider Städte. Nur in zwei Bauwerken findet er, daß ein Denkmal der alten Verwandtschaft geblieben sey: in den düsteren, hünenhaft über das Maß ausgereckten Formen der Münchner Frauenkirche und der stylverwandten St. Marienpfarre zu Lübeck. Und wie der Dachgiebel und die wunderlich bekuppten Doppelthürme der Frauenkirche, alles moderne Werk nebenan an Masse überragend, dem von den Alpen niedersteigenden Wanderer als erstes Wahrzeichen aus der Ebene aufsteigen, so begrüßt auch der Schiffer im Golf von Wagrien das Gewölbe und Nadelpyramidenpaar der Marienpfarre als erste Landmarke.

Ein Holsteiner oder Mecklenburger könnte von Heimweh überwältigt werden, wenn er an den kleinen Seen zwischen dem Ammer- und Starnbergersee wandert, durch diese Buchenhaine von so tief gesättigtem, saftigem Grün, wie es nur die Nähe des Meeres oder der Alpen erzeugen kann, über diese smaragdfarbigen Triften, wie sie nur dem äußersten Norden und dem äußersten Süden unseres Vaterlandes eigen sind. Unter unsern älteren Landschaftsmalern haben die größten Meister jener duftigen Luftperspectiven, jener feuchtverklärten Fernen entweder an unsern nordischen Meeren oder auf unsern südlichen Hochflächen ihre besten Studien gemacht.

In der Mitte Deutschlands, im besonderten Land, spielt der vorzugsweise romantische Theil unserer Geschichte und Sage. Dort ragen auch unsere schönsten Burgen, der reichste Kranz von dichterisch schönen Städtetrümmern und Kirchen- und Klosterruinen. Viel grimmigere Völkerschlachten wurden aber im Nordosten und im Süden geschlagen; an beiden Punkten Vertilgungskämpfe gegen einbrechende Barbarenhorden. Die südbayerische Hochfläche ist seit länger als einem Jahrtausend gleichsam Ein großes Schlachtfeld gewesen. Hier prallten die Massen auf einander, wenn im individualisirten Mitteldeutschland die Individuen zusammenstießen. Und doch sind unsere nordöstlichen Grenzmarken gleich den Hochflächen des Südens arm an augenfälligen historischen Trümmern. Die zahlreichen Burgen des linken Lechufers sind fast alle bis auf die Grundmauern hinweggetilgt. Es ist ein Charakterzeichen für diese Gegend, daß man fast immer entweder lediglich die Burgkapelle stehen ließ, oder aus dem letzten Trümmerrest eine Kirche auf die Burgstätte gebaut hat.

Mehr als bloßer Zufall aber ist es, daß in den Gauen, wo die äußeren historischen Denkmale am reichsten bewahrt sind, der historische Charakter des Volkes am meisten erloschen ist, während in den von monumentalen Trümmern so arg entblößten großen Landstrichen des Südens und Nordens das lebende Denkmal alter Sitte, Sage, Sprache und Siedelung am festesten sich erhalten hat.

An den norddeutschen Meeresküsten zeigt man oft kleine Strecken des Küstensandes, die ganz roth gefärbt sind von zermalmten, aus der Tiefe des Meeres aufgespülten Ziegelsteinen. Es sind die Stätten, wo ganze Dörfer vor Jahrhunderten von den Fluthen verschlungen wurden. So sieht man auf den südbayerischen Flächen mitunter Hügel, deren Köpfe ganz roth gefärbt sind von einer förmlichen Saat zerbröckelter Backsteine. Einen solchen Hügel nennt man am Lechrain einen Burgsel, weil er eine Burg getragen; das rohe Gerölle aber ist jetzt das einzige Monument versunkener Macht und Herrlichkeit.

In ihrer Masse und Fülle sind diese Hochflächen schön, wie die flachen Meeresküsten in ihrer Masse. Der landschaftliche Reiz unserer mitteldeutschen Gegenden liegt dagegen fast immer in gesonderter Plastik einzelner Formen. So geht auch die landschaftliche Schönheit Hand in Hand mit dem allgemeinen Landes- und Volkscharakter. Das Lechfeld von der Sage wie von der Geschichte geweiht, ist eine Oede, baumlos, hügellos, eine unabsehbare braungrüne Fläche. Man hat sie mit einem erstarrten See verglichen. Aber gerade über dieser endlosen Oede schwebt im verglimmenden Abendsonnenschein ein heimlicher herzbewegender Zauber. Es ist nur eine ungeheure Oede, aber doch wieder von tiefem, ureigenem Gepräge. Und in der Erhabenheit der endlosen Oede überwältigt uns der Gedanke, daß die Erde überall schön sey, denn sie ist überall Gottes.

Alles südlich der Donau gelegene bayerische Land gliedert sich für unsere Anschauungsweise nur in zwei große Hauptmassen. Seit uralten Tagen macht hier der Lech den Satz zu Schanden, daß die Flüsse nicht trennende Grenzlinien, sondern Verbindungslinien der Ufervölker seyen. Und nicht bloß Südbayern theilt sein Lauf von der Quelle bis zur Mündung in zwei große Gruppen, sondern alle südlich der Donau gelegene deutsche Gaue in eine schwäbische und eine bayerisch-österreichische Hälfte. Der Charakter des Bodens auf beiden Ufern bildet durchaus keinen entsprechenden Gegensatz, und doch hält der schmale Wasserstreif so scharfe Gegensätze im Volkscharakter mit der Genauigkeit einer mathematischen Linie auseinander. Es ist merkwürdigerweise eine Völkerscheide ohne zugleich eine Landesscheide zu seyn. Lediglich im äußeren Grundriß des Bodens liegt die Grenznatur: der Lech ist die senkrechte Linie von den Alpen auf die Donau gefällt, also die natürlichste Vertheidigungslinie gegen jedes durch die breite Heerstraße des Donauthales einfluthende Heer. Und so ward der natürliche Landwehrgraben in so vielen Völkerkämpfen zum Grenzgraben, an welchem die zwei Hauptgegensätze süddeutschen Volksthumes auseinander gehen.

Aber auch die politische Zersplitterung der Ecke zwischen Iller und Lech war eine zufällige, nicht durch des Landes Art gebotene. Selbst das landschaftliche Gesicht der Gegend verkündet dieses Verhältniß. Die Hochfläche zerklüftet sich zwar in zahllose Hügel, diese aber sondern sich nirgends zu selbständig geschlossenen Einzelgruppen ab. Das Bewußtseyn der alten zufälligen Gebietsunterschiede wird gar bald beim Volke vollends erloschen seyn, aufgesogen durch den in unvordenklicher Verjährung eingewurzelten Hauptunterschied der schwäbischen und bayerischen Lechseite, den keine politische Verschmelzung so bald vertilgen wird. Nur ein Rückgedanke an die alten Herrschaftsverhältnisse ist – wie fast überall – auch bei den bayerischen Schwaben des linken Lechufers noch unverloren, daß nämlich alte Leute aus den ehemals geistlichen Gebietstheilen mit wehmüthigem Behagen der goldenen Zeit erwähnen, wo sie noch unter dem Schatten des Krummstabs wohnten, und – die Maas Bier nur zwei Kreuzer kostete.

Wie scharf die Lechlinie sich auch als Grenze der beiden Mundarten bewährt, dafür genüge ein einziges Beispiel. Auf dem linken Lechufer gehen gut drei Viertel aller Ortsnamen auf die Schlußbildung »ingen« aus, diese charakteristische Form der schwäbischen Ortsnamen, die im Herzen Schwabens bis zum Komischen die Alleinherrschaft behauptet. Also: Göggingen, Bobingen, Inningen u. s. w. Sowie man aber den Fuß über den Fluß setzt, ist schlechterdings kein »ingen« mehr aufzuspüren: dieselbe Form hat sich in »ing« verwandelt, welches in Bayern eben so bezeichnend vorherrscht wie »ingen« in Schwaben. Also: Meering, Statzling, Derching u. s. w. Diese Ortsnamen auf »ing« geben aber, obwohl sparsamer, durch das ganze südlich der Donau gelegene Oesterreich fort bis zur ungarischen Grenze; auf der andern Seite läuft das schwäbische »ingen« durch Württemberg und Baden nach dem Elsaß, und erlischt erst in den Ostgrenzen Lothringens und der Freigrafschaft. Diese Strenge, mit welcher sich die am meisten charakteristische Formbildung der Ortsnamen für ganz Süddeutschland am Lech abschneidet, zeigt uns recht, welch eine scharf gezogene Grenze der Volksstämme in diesem Flusse gegeben ist. Im Norden der Donau wird man die Grenzlinie zwischen »ingen« und »ing« da finden, wo die Marken des alten schwäbischen und fränkischen Reichskreises im Flußgebiet der Altmühl und Wörnitz in einem Winkel mit dem bayerischen Kreise zusammenstoßen. In Franken kommen beide Endungen neben einander, doch nur vereinzelt, vor. Vorzugsweise in Süddeutschland zeigt sich die Kreiseintheilung des Reichs, wie sie Kaiser Maximilian I. geschaffen, als großentheils trefflich begründet auf die natürlichen Länder- und Völkergrenzen. So hatte sie sich auch bei Bayern und Schwaben streng an den großen Wehr- und Grenzgraben des Lechbettes gehalten.

Heute noch hat der Lech auffallend wenig Brücken, und der Ortsverkehr zwischen beiden Ufern ist erstaunlich gering. Der nächste Uebergangspunkt oberhalb Augsburg ist nicht weniger als sechs bayerische Stunden von dieser Stadt entfernt bei dem Dorfe Lechfeld. Hier ist eine Brücke, allein nur für Fußgänger praktikabel. Sie ist mit einem Thor abgeschlossen, und eine gute Strecke seitab in den Wiesen steht das Haus des Pförtners und Brückenzollerhebers. Will man diese Brücke passiren, so ruft man diesen Mann herbei, der uns mit dem Schlüssel zur Brücke begleitet, das Thor aufschließt und den Zoll erhebt, um dann wieder hinter uns abzuschließen. Diese ebenso gemächliche als gründliche Art der Brückengelderhebung und Controle gibt ein Bild von der hier herrschenden Lebhaftigkeit des Verkehrs zwischen beiden Ufern.

In alten Tagen lag es im Interesse der Politik, möglichst wenige feste Brücken über den großen Grenz- und Vertheidigungsgraben des Lech zu bauen; die moderne Zeit aber hat in Bayern überhaupt noch nicht allzuviel von dem nachgeholt, was frühere Jahrhunderte in Brücken- und Straßenbau versäumten. Der Abgeordnete v. Koch bemerkte in einem 1850 erstatteten Bericht über das Budget des Straßenbaues als etwas besonders auffallendes, daß fast sämmtliche Brücken des Königreichs Bayern als gleichzeitig reparaturbedürftig aufgeführt seyen. Als Sanct Sebaldus im heutigen Bayern an die Donau kam, fand er weder eine Brücke noch ein Fahrzeug. Er besann sich aber nicht lange, breitete seinen Mantel aus und steuerte wie auf einem Schifflein wohlbehalten über das Wasser. Man sieht, die Brückennoth ist historisch im Lande.

Aeußerst wenige Dörfer liegen unmittelbar am Uferrande des Lech, die meisten sind bis auf eine Stunde Wegs landeinwärts geschoben; dagegen sieht man vielfach die verwachsenen Reste alter Wälle, Schanzen und Gräben am Wassersaum.

Im allgemeinen ist auf der bayerischen Lechseite noch viel größere Abgeschlossenheit des Volkslebens, ältere Sitte, minder bewegliche Entwicklung wahrzunehmen als auf der schwäbischen. Schon die Bauerntracht, obgleich nicht mehr ganz streng nach der Flußgrenze geschieden, macht dies anschaulich. Auf beiden Ufern sind alterthümliche Volkstrachten, aber das Datum der bayerischen ist das bei weitem ältere. Wenn unsere heutigen Volkstrachten nichts anderes sind als aus der Mode gekommene städtische Trachten, dann sind die Altbayern bei einer wenigstens um hundert Jahre früher abgelegten Garderobe stehen geblieben als die schwäbischen Bayern. Das rechte Lechufer zieht den Rock des 17., das linke den des 18. Jahrhunderts vor. Dort hohe spitze Hüte, kurze Wämser und lange faltige Lederstiefel bei den Männern und die über die Schultern emporgedrückten Schinkenärmel der Frauen; hier das kleine runde Hütchen oder der Dreimaster der Zopfzeit, lange Oberröcke mit stehendem Kragen, kurze Hosen mit Schnallenschuhen und Zwickelstrümpfen, oder auch kurze Hosen mit Schnallenschuhen und – keine Strümpfe, wobei das possirlichste Widerspiel von Natur und Etikette auf Beineslänge zusammengedrückt ist. In der Dachauer Gegend ist die altüberlieferte Tracht der Frauen häßlich, unbequem und ungesund zugleich. Aber je mehr man die Leute verspottet über ihr wunderliches Kleid, welches auch das schlankste Mädchen von hinten wie eine Buckelige, von vorn wie eine Schwangere erscheinen läßt, desto fester halten sie an demselben.

Warum sind aber diese Volkstrachten gerade bei den oben bezeichneten bestimmten Zeitpunkten stehen geblieben, warum nicht eben so gut bei einem späteren oder früheren? Und ist nicht beiläufig in demselben Zeitraum, wo der Dorfkirchenbau auf dem rechten Lechufer zu stehenden Formen erstarrte, auch die Volkstracht dieser Gegenden für die kommenden Geschlechter gefestet worden? Wäre ein solches Zusammentreffen so ganz zufällig? Wenn ein Volk die Tracht einer bestimmten Zeit auf Jahrhunderte beibehält, dann betrachtet es damit jene Tage als die für sein ganzes nachfolgendes Culturleben entscheidenden, als die Periode, in welcher es, Hegelisch zu reden, den letzten »Ruck in seiner Weltgeschichte« gemacht hat.

Die Formen der altbayerischen Dorfkirchenthürme und der altbayerischen Volkstrachten gehören wesentlich den nächsten Jahrzehnten nach dem dreißigjährigen Kriege an. In diesem Vernichtungskampfe war in den bayerischen Landen von Freund und Feind furchtbar gründlich aufgeräumt worden. Es war Raum für Neubildungen da. Daß sie hervorbrachen, darf nicht Wunder nehmen. Weil aber gleichzeitig das vorwärts drängende politische Leben in Bayern erstarrte, blieben auch diese einzelnen äußerlichen Schöpfungen des Volksgeistes stehen. Die geistigen Kämpfe des 18. Jahrhunderts mit ihren Gährungen, Zersetzungen, Auflösungen, mit ihren Vorgebilden der Neuzeit sind für Altbayern im Allgemeinen kaum, für das Bauernvolk gar nicht vorhanden gewesen. Das 19. Jahrhundert setzte hier gleichsam unvermittelt an das 17. an, das 18. war für diese Gegenden nur eine Wiederholung des 17. gewesen. Dieser Umstand, daß Altbayern an der Hand seiner geistlichen Führer um das 18. Jahrhundert herumgekommen ist, mag gar manche Eigenart des Volkslebens wie neuerer politischer Zustände erst in das klare Licht setzen.

Der gemeine Mann ist hier im Durchschnitt noch streng kirchengläubig, er weiß nichts von den religiösen Kämpfen und Zweifeln, die seit den letzten hundert Jahren wieder die gebildetere Welt aufgerüttelt haben. Er kennt nur seinen Katholicismus, und mancher sehr anständige Mann in Altbayern, der einen sehr feinen Rock trägt, würde baß erstaunen, wenn man ihm die Neuigkeit berichtete, daß die Protestanten auch an Christum glauben. Als Luther mit Langenmantel zur Nachtzeit Augsburg verlassen, ritten sie acht große Meilen in Einem fort das Lechfeld hinauf dem blauen Hochgebirg zu, und die zur Verfolgung ausgesandten Leibwächter des päpstlichen Legaten kehrten erschreckt um, da sie Luther und den Langenmantel auf gluthschnaubenden und die dunkle Oktobernacht erhellenden Rossen mit Windeseile vor sich herbrausen sahen. In einer in der Lechgegend merkwürdig allgemein verbreiteten Kunde fügt der plumpe Volkshumor hinzu, daß der Reformator bei seiner Flucht in Augsburg die Zeche für zwei Bratwürste schuldig geblieben sey. Diese Geschichte von den Bratwürsten und den feuerschnaubenden Rossen ist dem Landvolk jedenfalls geläufiger als irgend eine auch nur entfernte Anschauung von Luthers Lehre. Der Bauer vom alten Schrot und Korn treibt hier sein Roß an mit den stehenden Worten: »Vorwärts in Gottes Namen!« und wenn er's muthwillig unterließe, vor jedem Crucifix und Heiligenbild am Wege den Hut zu lüpfen, so würde er schwerlich mit heiler Haut oder ganzem Geschirr heimzukommen glauben. In München hörte ich, wie zwei Bettelleute von Fach, die geschäftsmäßig für jede empfangene Gabe ein Paternoster zu beten versprachen, sehr nachdenkliche Erwägung pflogen, inwiefern die Fürbitte eines Lebenden einem andern Sterblichen nützen könne, und ob sie den vornehmen Hallunken, denen sie für ihre Pfennige ein Gebet zurückzahlten, noch zu einem Danke verpflichtet seyen oder nicht vielmehr diese ihnen. Unter den bayerischen Volkssagen bilden die kirchlichen Legenden eine ungeheure Zahl. Der bestimmte kirchliche Geist sitzt so tief im Volksleben, daß selbst der Volksschwank noch arglos kirchliche Anschauungen in seinen Bereich zieht. Eine fromme Mutter aus Balderschwang hatte ihr Söhnlein vermahnet, vor jedem Crucifix die Kappe zu ziehen und auch, wo möglich, dasselbe andächtig zu küssen. Der Bube nahm sich's zu Herzen und als er auf dem Felde ein eisernes Ding wie ein Crucifix liegen sah, warf er sich andächtig zum Kusse nieder. Es war aber kein Crucifix, sondern eine Fuchsfalle: sie schlug zu und nahm dem Andächtigen die halbe Nase weg. Allein der Bube rief bloß voll Verwunderung über diesen Empfang: »O g'rechter Herrgott, wie g'schnell bist du!« Selbst in vielen Spruch- und Redeweisen spricht sich noch diese Sättigung des ganzen Volksgeistes mit kirchlichen Bildern aus. Ein Ding das schnell läuft, läuft »wie ein Vaterunser.« und ein bestialischer Trinker säuft nicht wie ein Bürstenbinder, sondern noch, nach dem mittelalterlichen Worte, »wie ein Templer.«

Hier hat die Macht des Clerus in der That ihre feste Stütze im Volke selbst. Eine höchst eigenthümliche Erscheinung ist der altbayerische niedere Geistliche des vorigen Jahrhunderts gewesen, wie ihn Bucher so oft und mit so großer Meisterschaft seines humoristischen Griffels geschildert hat. Diesen Priestern aus der guten alten Zeit machte die Wissenschaft in der Regel nicht viel Beschwerde, sie waren kapuzinerhaft volksthümlich, Bauern, die geistlich studirt hatten, und deren höchst handfeste Auffassung des priesterlichen Berufes vortrefflich zu der handfesten Natur ihrer Beichtkinder paßte. Diese merkwürdigen Leute waren es, welche zumeist dafür sorgten, daß das bayerische Volk vom 17. Jahrhundert in's 19. herüberging, ohne etwas vom 18. gemerkt zu haben. Sie hielten zugleich das gemüthliche Zusammenhalten des Bauernvolkes mit dem Clerus zu einer Zeit fest, wo sich's anderwärts der gebildetere Geistliche gerade umgekehrt zur Pflicht machte, jede unmittelbare Berührung mit der rohen Natürlichkeit des Volkslebens von sich zu weisen, ja von seinem einsamen Pastoralstandpunkte aus die überlieferten Volkssitten möglichst umzubilden und zu zerstören. Das altbayerische Volk ist politisch conservativ, allein erst in zweiter Linie; in erster Linie ist es kirchlich conservativ. Das weiß der Clerus sehr wohl. In den social zersetzten Kleinstaaten Mitteldeutschlands respectirt das Volk vielfach nur noch deßwegen die Macht der Kirche, weil es durch die Staatsgewalt gesetzlich dazu gezwungen ist. In den streng protestantischen Provinzen Preußens dagegen geht im Volksbewußtseyn noch vorwiegend die Treue gegen die ideelle Herrscherwürde der Kirche in den allgemeinen Gedanken einer preußisch-protestantischen Loyalität auf. Wenn irgendwo, dann ist dort noch der protestantische Grundsatz, daß der Landesfürst summus episcopas sey, eine in der Volksauffassung gewurzelte Thatsache. Wir erhalten also auch hier wiederum drei Gruppen. Allein der Gegensatz des streng-katholischen Südens und des streng-protestantischen Nordens berührt sich auch wieder ungleich näher in sich, als mit der kirchlichen Indifferenz Mitteldeutschlands. Südbayern war zuerst durch die Kirche geeinigt, nachher durch den Staat. Im Norden und Osten Preußens dagegen trat die neue kirchliche Einung, wie in allen protestantischen Ländern, erst mit der politischen und durch dieselbe ein. Der Protestantismus kennt nicht nur Landeskirchen, sondern auch Provincialkirchen, und wo der Partikularismus seiner Kirchenverfassung teilweise aufgehoben wurde, da ist dies immer auf den Anstoß oder wenigstens unter thätigster Mithülfe der Staatsgewalt geschehen. Im Süden sehen wir, daß die katholischen Bischöfe durch sehr entschiedene Forderungen zu Gunsten der politischen Unabhängigkeit ihrer Kirche die Ministerien in Verlegenheit setzen, wahrend im protestantischen Norden die Ministerien in dem kirchlichen Eifer ihrer Bischöfe eine Stütze für ihre eigenen, an das Volk gerichteten politischen Forderungen finden.

Wir kehren zu unserer Charakterskizze des Volkes auf den südbayerischen Hochflächen zurück.

Auf dem rechten Lechufer sind bis zur Donau hinab buntbemalte »Todtenbretter« an allen Straßen aufgestellt, und überall prangt noch in den Dörfern der altbayerische Maibaum, statt des Laubes und der Zweige mit Hunderten von geschnitzten und übermalten kleinen Figuren geziert. Auf der linken Lechseite wird man so wenig ein einziges Todtenbrett oder einen mit Holzfiguren prangenden Baum finden, als einen Ortsnamen, der auf »ing« statt auf »ingen« auslautete. Es bekunden aber die Todtenbretter sowohl wie die Maibäume einen eigenthümlichen monumentalen Sinn bei den altbayerischen Bauern. Ist Jemand gestorben, so wird ein Brett von Manneshöhe bunt bemalt mit den Sinnbildern des Todes, die Leiche wird eine Weile auf das Brett gelegt und dasselbe nachher mit einer Inschrift versehen, die gewöhnlich anhebt: »Auf diesem Brett ist todt gelegen der ehrengeachtete N. N.« etc. Diese Bretter werden an Feldwegen, bei Crucifixen und Heiligenhäuschen, an einem Acker des Verstorbenen, oder auch an seinem Lieblingsplatz, wo er sich in Wald oder Feld auszuruhen pflegte, aufgestellt. Mehrentheils findet man sie an Grundstücken der einzelnen Familien, und zwar familienweise, zusammengeordnet. Der Bauer hat keine Familiengruft, aber die » Monumenta« seiner Familie, wie sie auch oft ausdrücklich genannt sind, stehen bei einander auf dem ererbten Grundstück. Der Cultus der Leiche, welcher darin liegt, daß der entseelte Körper durch unmittelbare Berührung das Brett, auf dem er »todt gelegen,« sich zu eigen weihen muß, hat etwas schaudererregendes, und wenn der einsame Wanderer des Nachts am Saume des Waldes oder der Feldflur sich plötzlich von einem solchen Brett mit dem hellgemalten Todtenkopfe angegrinst sieht, so weckt das gerade nicht die behaglichste Stimmung. Und doch wohnt diesen bunten Brettern zugleich etwas Ehrwürdiges bei; sie sind einer der Uranfänge aller monumentalen Kunst, die in der vollen Naivetät des grauen Alterthums hier in unsere gesittete Welt hereinragt. Ein roh bemaltes Brett, das sich in seinen Umrissen sogar oft der menschlichen Gestalt nähert, zum Gedächtniß eines Verstorbenen an seinem Acker aufgestellt, könnte ebensowohl auf einer Südseeinsel landesüblich seyn als in Altbayern.

Der Maibaum ist das Denkmal der Lebenden und zwar in ihrer Arbeit wie in ihrem Spiele. Statt der Zweige sind breite Brettchen sprossenartig über einander in den Stamm gefügt, und auf demselben die Kirche des Orts und die vornehmsten Häuser in Schnitzwerk nachgebildet, dazu die Figuren der Bewohner in ihren verschiedenen Hantierungen begriffen. In den Rathhäusern unserer alten Reichsstädte haben unsere Vorfahren mitunter die Modelle ihrer Häuser, dazu Abbildungen der üblichen Trachten u. dgl. als ein ausdrückliches Vermächtnis für kommende Jahrhunderte niedergelegt. Ist ein solcher Baum, an dessen Stamm das Abbild des Dorfes mit seinen bedeutsamsten Häusern und Berufszeichen sich bis zum Gipfel rankt, nicht ganz dasselbe Vermächtniß, zwar nicht für kommende Jahrhunderte, aber doch vielleicht, wenn Sturm und Wetter gnädig sind, für die nächste Generation?

Das Bestreben, dem Einzelnen eine besondere Erinnerung zu stiften und zu bewahren, offenbart sich auch noch in vielen anderen Eigenheiten des geschilderten Volksschlages. So gilt es z. B. als Ehrenpunkt der Familien, daß bei dem Begräbniß eines jeden ihrer Glieder vom Pfarrer ein Lebensbild des Verstorbenen in die Grabrede eingeflochten werde, ja bei Kindern, die keine acht Tage alt geworden, werden die Geistlichen häufig um ein »Lebensläufle« ersucht. Denn nach den Anschauungen dieser Bauern mangelt es auch bei einem Säugling von drei Tagen keineswegs an biographischem Stoff. Es gilt da zu erörtern, ob er leicht oder schwer zur Welt gekommen und gestorben sey, namentlich aber einen Excurs über die Eigenschaften der Eltern und Taufpathen einzuflechten und ihre Stellung in der Familie und in der Gemeinde zu schildern, wobei der Würden, welche dieselben etwa im Gemeinderathe, im Feldgericht etc. bekleiden, um keinen Preis vergessen werden darf. In diesem Herkommen spricht sich ein merkwürdiges Werthhalten des Individuums aus, welches sehr gut zu dem historischen Geiste stimmt, der überhaupt in dieser Bevölkerung webt. Während diese Bauern selbst dem Säugling seine persönliche Geschichte zuerkennen und dieselbe über dem offenen Grabe ausdrücklich beurkundet wissen wollen, ist es eine angeblich unendlich höhere Civilisation, welche die Menschen nur noch nach Haufen und Massen mißt und es darum für ganz passend hält, daß der einzelne Verstorbene, der ja aufhört »Werthe zu produciren,« in der Stille wie ein Hund verscharrt und sein Gedächtniß der Vergessenheit überliefert werde!

Eine andere Betätigung des monumentalen Sinnes im Volke zeigt sich in den gemalten Votivtafeln, die in ungezählter Menge in allen den südbayerischen Kirchen hängen, welche ein wunderwirkendes Kleinod besitzen. Auf diesen Tafeln sind die Gebrechen und Krankheiten, welche geheilt wurden, die Stücke Vieh, welche durch das Mirakel vor Seuchen, die Häuser, welche vor Feuer- und Wassersnoth bewahrt werden sollen, in einem höchst populären Genrestyl abconterfeiet. Mustert man eine solche oft hunderte von Tafeln umfassende Bildergalerie, dann wird man eine Menge interessanter Züge aus dem Volksleben vieler Generationen in naivster Weise bildlich verewigt finden.

Dieses buntfarbige Bildwerk aller Art, wozu auch noch die zahllosen ausgemalten Gedenktafeln für Verunglückte zu rechnen sind, hebt in den Alpen an, herrscht auf der rechten Lechseite weit entschiedener vor als auf der linken und verschwindet größtentheils an der Donau. Auch der Schmuck der Bauernhäuser innen und außen mit allerlei bunten Schnörkeln des Tünchers (den man hier, und zwar oft mit vollem Recht, einen »Maler« nennt) pflanzt sich aus den Alpen über die südbayerischen Hochflächen fort, gegen das Donauthal hin mehr und mehr verblassend. Es ist der Zug der alten Handelsstraße aus Italien, auf welchem diese rohen Aeußerungen des Kunstsinnes beim Volke immer noch fortleben. In den Städten hat selbst der Mangel guter Pflastersteine den Vorwand zu künstlerischem Schmuck abgeben müssen, indem man die kleinen dunkeln und hellen Flußkiesel zu allerlei Rosetten, Sternen, Schachfeldern, mit Arabesken und Namenszügen durchwebt, mosaikartig zusammengepflastert. Dasselbe findet sich auch in italienischen Städten.

Die Rohheit der Sitten und die dürftige Schulbildung, in welcher vielfach noch das südbayerische Landvolk befangen ist, erhält ein merkwürdiges Gegengewicht durch die Pflege des künstlerischen Schaffenstriebes. Die Kunst hat hier wirklich einen volksthümlichen Boden, und wer die Malereien und Schnitzwerke in Hunderten von altbayerischen Dörfern gesehen, der wird nicht behaupten, daß die moderne Kunstpflege in München willkürlich in die Luft gestellt sey und außer allem Zusammenhange mit der Bildung und dem Geiste des Landes stehe. In Sachen der Volksbildung sind überhaupt unsere städtischen Literaturmenschen gar flink mit einseitigen Urtheilen zur Hand. Die oberdeutschen Gebirgsbauern, welche von den niederdeutschen Küstenbewohnern in allerlei Kenntniß und Wissen weit überflügelt werden, besitzen wiederum für sich einen Schatz des Kunstsinnes und technischer und künstlicher Fertigkeiten, von welchen jene keine Ahnung haben. Wenn in den bayerischen und tyrolischen Dörfern hübsche Heiligenbilder gemalt, niedliche Holzschnitzereien gemacht werden, wenn dort von allen Feldern sinnige Volkslieder in tausendfacher Auswahl erklingen, wenn auf dem Schwarzwald in Strohflechterei und Uhrmacherei treffliches geleistet wird, so ist das auch Volksbildung. Es gehört zu den größten modernen Verkehrtheiten, daß man die Volksbildung bloß darnach mißt, wie viel Procent von Artikeln des Conversationslexikons der gemeine Mann im Kopfe hat.

Zwischen Lech, Iller und Donau dehnt sich ein waldbewachsenes Hügelland, dessen Bewohner, die sogenannten »Staudenbauern,« gewiß zu den abgeschlossensten und bildungsärmsten des ganzen südbayerischen Tafellandes gehören. Man wird hier wahrlich keinen sonderlichen Kunstsinn suchen. Und doch stieß ich auch hier auf die überraschendsten Spuren volksthümlicher Kunstübung. Einen verweltlichten Nachklang der Schauspiele von Oberammergau, vielleicht auch einen Ueberrest jener Bauernspiele, wie sie im 17. Jahrhundert durch die Jesuiten eingeführt wurden, fand ich in einem der abgelegensten Thale dieser Waldhügel, in dem Markte Weiden. Auf einer Anhöhe über diesem Orte standen bis vor wenigen Jahren die Trümmer einer Burg mit dem Aufgang einer stolzen hundertjährigen Lindenallee. Diese malerischen Ruinen bildeten die Schaubühne, auf welcher früher in bestimmten Jahrescyklen zwischen Ostern und Pfingsten weltliche dramatische Bauernspiele von den Bauern aufgeführt wurden. Jetzt, wo man die Burg der Erde gleich gemacht und die herrlichen Propyläen des Theaters, die Lindenallee, niedergehauen hat, ist die kühle Bräuhalle des Marktes zum Musentempel erwählt worden. Im Frühling 1852 wurde die Geschichte des sächsischen Prinzenraubes vom Schulmeister eigens für die Bretter gerecht gemacht, an allen Sonntagen und einigen Mittwochen zwischen Ostern und Pfingsten dargestellt. Aus der Umgegend war fortdauernd großer Zustrom des Bauernvolkes. Der Bearbeiter hatte sein Buch ganz im Geiste der Darsteller und dieser Zuhörerschaft gehalten. Unstreitig hatte er ein Ritterschauspiel aus dem vorigen Jahrhundert zu Grunde gelegt, dieses aber in der Art umgebildet, daß er alles eigentlich Buchmäßige daraus entfernte, namentlich die Phrasen und Gefühlsergüsse strich, die psychologischen Motivirungen auf das nothdürftigste einschränkte, dagegen alle thatsächlichen, die Handlung vorwärts bewegenden Züge stehen ließ und in derben, unvermittelten Gegensätzen aneinander reihte. So war das literarische Ritterstück in der That zu einem ächten Bauernspiel geworden, und die Darsteller fanden sich vortrefflich zurecht in dieser ihrem Bildungsstandpunkte durchaus angepaßten Dichtung. Sie entwickelten die in rohen Umrissen gezeichneten Charaktere auf das Bestimmteste und sprachen ihren Dialog in bayerisch-schwäbischer Mundart, öfters unverkennbar improvisirend, mit einer Naivetät, welche ein Ueberschlagen der ernsthaft pathetischen Geschichte in's Komische durchaus verhütete. Wir sahen im Dämmerlichte der kühlen Halle auf Brettern, die über Bierfäßchen gelegt waren, hinter uns eine athemlos lauschende, durchaus andächtige, von allem Splitterrichten weit entfernte Zuhörerschaft, vor uns die matt erleuchtete Bühne mit ihrer kindlichen im Orte selbst gemalten Scenerie, mit den derben, überkräftigen Gestalten der bäuerlichen Spieler, die in seltsam travestirtem Gewand dröhnenden Schrittes auf dem Kothurn einhergingen, und unvermerkt wurden wir kritische städtische Zuschauer in dieselbe Andacht hineingezogen wie die Bauern, und folgten der Handlung gleich Kindern, die zum erstenmal die Zauberei der Bühne schauen; wir waren vollkommen von dem Ernste der dargestellten Situationen erfüllt und verließen die Halle mit einem Eindruck, mit dem man bei Dramen verwandten Inhaltes unsere besten Theater so selten verläßt, mit dem Eindrucke, das historische Ereigniß mitgelebt zu haben. Dies kam aber lediglich daher, weil die Darsteller selbst noch so unbefangen waren, daß sie im vollen Ernste in ihren Rollen staken, weil sie mit heiligem Eifer spielten, in dem naiven Bewußtseyn, das einzig Richtige zu wollen und zu leisten, ohne alle Kritik sich dem geahnten Verständniß der ganz einfachen für ihre Bildung passenden Thatsachen, Charaktere und Ereignisse hingebend.

Das begeisterte Lob, welches einer der ausgezeichnetsten Kenner deutscher Bühnenkunst unlängst der freilich ohne Vergleich höher stehenden vollendeten Natürlichkeit der Kunstübung bei den Passionsspielen von Oberammergau spendete, hat die Zionswächter der nüchternen Aufklärerei im Volksleben sofort allarmirt. Denn daß ein Volksschlag dem Drange nach geistiger Bewegung in derlei idyllischer Kunstpflege Genüge thut, statt nützlichere Dinge zu lernen und seinen Geist zur selbständigen Kritik an Staat und Kirche zu schärfen, ist doch wohl schlimm genug, und dem in sich befriedigten Traumleben einer solchen Kunstspielerei das Wort zu reden, dahinter steckt doch wohl ein arger Obskurantismus!

Wie wir aber die persönliche Mannichfaltigkeit in den Gliederungen der Gesellschaft erhalten und weiterbilden möchten, so auch bei den örtlichen Volksgruppen. Das Volksleben eines jeden Gaues strebt seinem eigenthümlichen Berufe zu, und statt darüber zu streiten, ob oberdeutsches Volksthum um seiner natürlichen Poesie und seiner naiven Sitten willen höher oder tiefer stehe als manche in Wissen und Urtheil besser geschulmeisterte Volksgruppen des deutschen Nordens, sollten wir froh seyn, daß wir beide Bildungsformen neben einander besitzen; denn die vielgestaltige Durchbildung des Charakters der einzelnen Volkskreise ist eine Bürgschaft für die Lebensfähigkeit der gesammten Nation.

Der oben aufgestellte Satz, »daß in jenen deutschen Gauen, wo die äußeren historischen Denkmale am reichsten bewahrt sind, der historische Charakter des Volkes am meisten erloschen sey, während in andern von monumentalen Trümmern entblößten Landstrichen das lebende Denkmal der historischen Einrichtungen und Sitten am festesten sich erhalten habe,« läßt sich auch auf die moderne Pflege des überlieferten volksthümlichen Kunstschaffens theilweise anwenden. In den Rheingegenden, wo im Mittelalter so reges Kunstleben waltete, ist jetzt der schöpferische Kunsttrieb im Volke entweder ganz erloschen, oder außer allem Zusammenhang gekommen mit der früheren volksthümlich künstlerischen Thätigkeit. Ein neues Volk wandelt zwischen den alten Denkmalen. Ganz anders ist dies bei Südbayern. Hier hat das Volk die geschichtliche Spur seiner alten Künstlerthätigkeit bis auf diesen Tag nicht ganz verloren. Namentlich in der bildenden Kunst sind die verschiedensten populär gewordenen Spielarten des Styles neben und durch einander stehen geblieben und weiter verarbeitet worden, ganz wie bei dem ächten Volkslied, wo auch Jahrhunderte ihren Beitrag zu einzelnen Formen, Wendungen und Zügen liefern, so daß es vielen Geschlechtern zu eigen gehört, aber keinem von ihnen ganz. Dies zeigt sich schon in dem Häuserbau der Dörfer, in dessen mannichfaltigen Abstufungen von den Alpen bis zur Donau die verschiedensten Zeitalter neben einander vertreten sind. Klarer noch tritt es in den Cultusbildern zu Tag. Die steifen, byzantinischen Formen der Muttergottes von Altötting, mit geradlinigem, durchaus vergoldetem Gewande, schwarzem Gesicht und einem Mohrenknaben als Christkind auf dem Arme, werden von dem ländlichen Bilderschnitzer Südbayerns immer noch in alterthümelnder Weise nachgeahmt, während bei anderen Bildern der Madonna das Ideal der gothischen Sculptur oder der Zopfzeit in einer modernen und volksthümlichen Auffassung festgehalten und weitergebildet worden ist. So sind die ältesten Anfänge der geistlichen Bauernspiele in dem »Pfingstritt« zu Kötzing im Bayerwalde, in dem »Drachenstich« zu Furth in der Oberpfalz etc. lebendig geblieben, während in den Oberammergauer Passionsspielen diese Volksdramen nach der Tradition ihrer reifsten Entwickelung fortgeführt wurden und in den oben geschilderten periodischen Schauspielen zu Weiden im Zopfgewand des 17. Jahrhunderts erscheinen, wobei aber einzelne ältere historische Erinnerungen halb erloschen immer noch durchschimmern.

Zu solch unläugbarem künstlerischem Instinkt, der überall im südbayerischen Volksleben aufblitzt, stehen dann freilich so manche hervorstechende Züge massiven, rohen, ungeschlachten Wesens in grellem Gegensatz, Züge jenes derben Sinnenlebens, welches der deutsche Norden, so gern in Verbindung bringt mit den vielberufenen 7½ Millionen bayerischen Eimern Bier, die jährlich im Lande gebraut werden. Der Zug des Plumpen und Derben im Charakter des Volkes dieser rauhen Hochflächen spiegelt sich trefflich in einer bayerisch-schwäbischen Variante zu einer hessisch-thüringischen Legende von der heiligen Elisabeth. Der frommen Landgräfin von Hessen verwandelten sich bekanntlich die Speisen, welche sie verbotenerweise den Kranken zutrug, in Rosen, als sie, von ihrem Gemahl ertappt, behauptet hatte, der Korb enthalte Rosen. Die heilige Radegundis, welche von den Anwohnern des Lechs verehrt wird, trug gleichfalls Speisen verbotenerweise den Kranken zu; als sie ertappt wurde, behauptete sie, sie trage Lauge und Kämme im Korbe, und Milch und Butter fand sich in Lauge und Kämme verwandelt. Das charakterisirt mitteldeutsches und oberdeutsches Volksthum: dort Rosen, hier Lauge und Kämme. Auch im volksthümlichen Kunstbetrieb Südbayerns wird man die Anmuth, den rheinisch-französischen Schick für eine zierliche Gesammtwirkung vergeblich suchen.

Jeder, der auch nur ein winzig Bruchstück des deutschen Volkes kennt, glaubt sich berechtigt, dieses Stücklein für das deutsche Volk schlechtweg zu nehmen und demgemäß von den Ansichten, dem Bewußtseyn, den Forderungen des Volkes zu sprechen.

Das Bewußtseyn des deutschen Volkes unterscheidet sich aber dadurch von dem der meisten andern Völker Europa's, daß es sich im reichsten Sonderleben durcharbeitet und abstuft und dennoch in den großen Grundzügen eins ist.

Die Bauern der südbayerischen Hochflächen, die so gut wie gar nicht politisch räsonniren; die in der überfüllten Schenkstube, wenn die Abendglocke das Ave Maria läutet, das Bierglas vom Munde setzen und in dem plötzlich kirchenstill gewordenen Raume, während vielleicht die Wirthin oder gar die Kellnerin den Abendsegen spricht, andächtig die Responsorien sagen, und wenn der letzte Ton der Glocke verklungen, wieder zum Bierglas greifen und weiter zechen, wie die Bürstenbinder – diese Bauern sind ebensogut ein Stück deutschen Volkes, und zwar ein tüchtiges Stück, wie ihre viel aufgeklärteren Brüder in Baden, Rheinpreußen oder sonstwo.

Die groben Verbrechen gegen Person und Eigenthum: Mord, Todtschlag, Raub, Diebstahl sind hier verhältnißmäßig noch häufig unter dem rohen Volk; anderwärts wiegen die feineren selbst bei dem gemeinen Manne schon vor: Meineid, Fälschung, Betrug etc. Wer will entscheiden, welches von beiden für die tiefere Unsittlichkeit zeuge? Man erzählt sich von altbayerischen Orten, wo eine Kirmes nicht für eine recht lustige gilt, wenn nicht Einer wenigstens im Jubel todtgeschlagen worden ist. Es wird den Leuten so kannibalisch wohl, daß sie ausrufen: »Heute ist's sakrisch lustig, heute muß noch Einer hin werden!« Das ist etwas zu viel Natur, aber doch eben noch Natur. Es gibt gar manche feine Schlechtigkeit, die viel schlechter ist als gar manche grobe, und die Criminalstatistik läßt uns vielleicht auf die Bildung eines Volkes schließen, aber sie hat keine Prozentziffern für das Herz eines Volkes.

Das Landvolk steht im weitaus größeren Theil Süddeutschlands fast durchweg unter geistlichem Einfluß. Man muß daher in Sachsen oder am Rhein nicht glauben, daß dem »deutschen Volke« überhaupt der Weg zur Kirchenthüre bereits aus dem Gedächtniß gefallen sey. Bei Bergheim im Wertachthale sind zwei merkwürdige hölzerne Unglückstäfelchen aufgerichtet. Das eine besagt, daß hier ein Bauer des Ortes im dreißigjährigen Krieg von einem Schweden erschlagen worden; das andere, daß der Dorfschmied dem Pferde eines schwedischen Reiters an den Schweif gebunden, bis dorthin geschleift worden sey und an der Stätte seinen Geist aufgegeben habe. Solche landesübliche hölzerne Tafeln dauern in der Regel nur zehn bis zwanzig Jahre, man läßt sie verwittern und mit der erlöschenden Schrift erlischt auch allmählich das Gedächtniß des Unglücksfalles. Aber während man tausende solcher Tafeln zu Grunde gehen ließ, sorgte man, daß gerade diese Denksäulen von Gräuelthaten der Schweden durch mehr als zwei Jahrhunderte immer wieder hergestellt wurden, damit dem Volke das Grauen vor den schwedischen Ketzern recht frisch und lebendig bleibe.

Das wunderliche Gemisch von natürlicher Rohheit und naiv religiöser und volkskünstlerischer Bildung macht den südbayerischen Bauer zu einer höchst anziehenden Charakterfigur. Gesteigert finden sich dieselben Züge bei den Tirolern wieder, wo die blasirten vornehmen Leute ja längst das Anziehende solchen Wesens herausgefunden haben und dem pfiffigen Gebirgssohn einen Sechsbätzner geben, damit er sie dutzt und ihnen ein paar Grobheiten sagt und hinterher die dummen Teufel auslacht, welche meinen, diese bezahlte Grobheit sey Natur gewesen. Viele bayerischen Dörfer haben ihre förmlichen Heroen der Rauf- und Prügelkunst, Bursche von fabelhafter Kraft der Faust, deren Thaten oft noch nach hundert Jahren im bewundernden Gedächtniß des Volkes fortleben. Wir wissen nicht einmal, ob der alte Heide Herkules, oder der starke Hermel aus Rheinland wirklich gelebt hat; aber daß der »Herkules von Bächingen« wirklich gelebt hat, daß er den bayerischen Hiesel mit der Faust zu Boden geschlagen, daß er die Franzosen in den Revolutionskriegen gefoppt und durchgewalkt hat, wie Simson die Philister, das wissen wir bestimmt. Dieser Herkules aus dem 18. Jahrhundert, von dessen Thaten noch immer die Spinnstuben in dem Winkel zwischen Donau, Iller und Lech widerhallen, ließ sich an den Webstuhl fesseln, wie der alte Herkules an den Rocken, und starb als ehrsamer Webermeister.

Wo die Rohheit dieses Volk herabwürdigt, da adelt es auf der andern Seite die Kraft. Wenn man solchen Leuten mit einemmale raschen Geist und feinen Schliff aufdringen wollte, dann würde man sie in Grund und Boden verderben. An den bayerischen Seen theeren sie ihre Kähne nicht, so daß dieselben nach wenigen Jahren verfaulen. Ich möchte aber den Hexenmeister sehen, der es solchen Stockbauern in den Kopf brächte, daß ein getheertes Schiff, welches doppelt so lange hält, als ein ungetheertes, darum fast noch einmal so wohlfeil sey, als dieses.

Die Bauern der südbayerischcn Hochflächen sind unzugänglich, schwer in's Gespräch zu bringen: sie verrathen dem Fremden gegenüber durchaus nicht jene vordringliche Neugier, welche den mitteldeutschen Bauer auszeichnet. Wo die nächsten Hügel grenzen, da ist ihnen, wie man sagt, die Welt mit Brettern zugenagelt. Eben weil ihnen die Neugierde fehlt, kann eine fremde Bildung nicht bei ihnen eindringen. Einem ganz gescheidten und in seiner Art sehr gewürfelten Bauersmann am Ammersee suchte ich vergeblich die Thatsache begreiflich zu machen, daß seine Seegegend vor den benachbarten Hügelregionen durch große Regenmassen heimgesucht sey. Er meinte, wenn es am Ammersee regne, werde es auch in der übrigen Welt regnen, übrigens bekümmere es ihn gar nicht zu wissen ob es anderwärts regne, er habe an seinem eigenen Regen genug. Der rheingauische Bauer ist das gerade Widerspiel zu dieser Art. Er ist das neugierigste Geschöpf, und seine Phantasie weilt oft lieber in Holland, dem gelobten Lande seiner Schiffer und Floßknechte, als in der eigenen Heimath.

Der gemeine Mann auf den südbayerischen Hochflächen trägt zu jeder Jahreszeit einen schweren Tuchmantel, der aufgeklärte Bauer der mitteldeutschen Gebirgsgegenden meist einen luftigen Kittel.

In Südbayern ißt man im Dorfe noch Fleisch, und zwar großmächtige Stücke, dazu auch häufig Weizenbrod, und trinkt ein kräftiges Bier. In den rauheren Gegenden Mitteldeutschlands ist Fleisch längst eine Rarität beim Bauersmann geworden, man hilft mit Kartoffeln und Käse aus, ißt schweres, nasses Hafer- oder Kartoffelbrod und trinkt Branntwein dazu.

Das materielle Wohlbehagen ist im äußersten Süden wie im äußersten Norden Deutschlands dem Landvolk auch in solchen Schichten noch zu Theil geworden, wo in Mitteldeutschland die Armseligkeit vorwiegt. Bei den südbayerischen Bauern, die doch immer noch auf einem Wagen mit ein paar schweren Pferden wettfahrend in die Stadt zum Markte kommen, ist der letzte Rest des städtischen Wohlstandes, der weiland in Augsburg Geschäfte mit 175 Procent Reingewinn machte, gleichsam auf's Land gezogen. Wenn ich in einem Dorfwirthshause nur die Hälfte der aufgetragenen mächtigen Fleischportionen zu bewältigen vermag, und der Wirth überrascht mich mit einem Bogen Papier, damit ich die andere Hälfte, weil sie ja bezahlt sey, zu mir stecken und mit mir nehmen möge, so zeugt das doch noch von Wohlstand und Gediegenheit. Erkennt man nicht auch hierin, wie sich in Bayern die neue Zeit unvermittelt an die alte angesetzt hat?

Treten wir in unsere mitteldeutschen Dörfer, so fällt mehrentheils das Schulhaus, als der Palast im Dorfe, dem Wanderer zuerst in's Auge. In Südbayern ist dagegen mehrentheils das Wirthshaus der Palast im Dorfe, das Schulhaus findet man seltener heraus. Aber neben dem Wirthshaus steht gemeiniglich die Kirche, und wenn das Wirthshaus am Sonntag Abend bis zum Erdrücken voll ist, so war doch auch die Kirche im Lauf des Tages nicht minder überfüllt. Es gibt mancherlei Volkserziehung, und aus sich selber bildet das Volk immer diejenige Pädagogik heraus, die seiner Natur am angemessensten ist. Diese so grundverschieden geartete Natur der deutschen Volksstämme läßt sich vielleicht ausgleichen im Laufe der Jahrhunderte, aber gewiß nicht heute oder morgen. Wer so frischweg von dem Bewußtseyn und den Bedürfnissen des deutschen Volkes im Allgemeinen spricht, der bringe es einmal erst dem südbayerischen Bauern bei, daß er den Schulmeister über den Pfarrer setze, daß er links vom Lech einen spitzen und rechts vom Lech einen runden Hut trage, daß er Kartoffeln esse statt Kalbsbraten: daß andererseits der mitteldeutsche Bauer im Sommer einen schweren Tuchmantel überhänge, statt des Kittels, und daß die rheinischen Gastwirthe aus freien Stücken dem Gast einen Bogen Papier bringen, damit er den bezahlten, aber unverzehrten Rest seiner Mahlzeit mitnehmen könne. Wer das nicht fertig bringt, der muß auch das ihn zunächst umgebende Bruchstück des deutschen Volkes nicht flugs für das ganze Volk nehmen. Es gibt zweierlei Kunst der inneren Verwaltung: für individualisirtes und für centralisirtes Land. Das ausgelebte, übervölkerte, individualisirte Land fordert, daß man neue Entwickelungsbahnen für die Thatkraft seiner Bewohner aufschließe, neue Gewerbe, neue Formen des Bodenbaues schaffe: das dünn bevölkerte von der Natur in's Große angelegte Land mit seiner in der Cultur noch naiven Bevölkerung bleibt steif und störrig in seinen alten Formen stehen. Dem alten Ackerbau, dem alten Gewerb muß man hier breiteren Raum gewinnen, das Volk aus seiner eigenen Art heraus zu größerer Rührigkeit wecken, nicht aber eine fremde Cultur ihm unvermittelt aufpfropfen wollen. Hier wäre Gift, was dort heilende Arznei.


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