Wilhelm Heinrich Riehl
Land und Leute
Wilhelm Heinrich Riehl

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

VIII. Volksgruppen und Staatengebilde.

Erstes Kapitel. Zufallsstaaten.

Die sociale Dreitheilung Deutschlands, wie ich sie in den vorhergehenden Kapiteln gezeichnet, wird vielfach durchkreuzt von dem Staatensysteme. Wie Europa nicht zum wahren Frieden und Gedeihen kommen kann, weil die Staatengebilde nicht in Einklang zu bringen sind mit den Nationalitäten, so werden auch die inneren Zustände Deutschlands immer unbefriedigende bleiben, so lange unsere Staatsgrenzen der natürlichen socialen Gruppirung von Land und Leuten so gar stracks widersprechen. Die alten Reichskreise des Kaisers Maximilian waren schier tiefer auf die Natur der Dinge begründet als unsere heutige politische Landkarte, und jeder Versuch einer organischen Gliederung der großen deutschen Gaue wird in den meisten und Hauptzügen die Linien jener Reichskreise wieder aufsuchen müssen.

Neben den größern Staaten, welche die politische Macht, die innere Lebenskraft haben, auch fremdartige Gebietstheile sich zu verschmelzen und mit der Zeit auch in socialem Betracht ein einheitliches Ganze herauszubilden – wie Oesterreich, Preußen und Bayern – besitzen wir eine ganze Reihe künstlicher Staaten, unächter Staatengebilde, entsprechend den »unächten Ständen« in der bürgerlichen Gesellschaft, den »künstlichen Städten,« von denen ich oben handelte. Aus dem Widerspruch dieser willkürlichen Gebiete mit den in Natur und Geschichte begründeten Bevölkerungsgruppen entwickelt sich der nichtsnutzige politische Particularismus (der von den berechtigten Besonderungen unseres Volkslebens eben so weit entfernt ist, als die geläufigen willkürlichen Rang- und Standesordnungen von einer natürlichen Gliederung der Gesellschaft), der politische Particularismus, welcher den lebenskräftigen Wuchs unserer Volksstämme verkrüppelt und dennoch von der Nationaleinheit immer weiter abführt.

Sicher und rasch rächt sich stets jegliche Unnatur im politischen Leben. In Folge der Länderfabrikation zu Zeiten des Lüneviller Friedens, des Rheinbundes und des Wiener Congresses, ist im Südwesten Deutschlands eine Staatengruppe entstanden, die ich in ihrer dermaligen Gestalt als »Zufallsstaaten« bezeichnen möchte. Die Diplomaten verfuhren bei der Bildung dieser Länder wie die plastische Chirurgie, welche einen Fetzen Stirnhaut herunterschneidet, um eine neue Nase daraus zu machen. Es erwies sich aber, daß die plastischen Chirurgen erfolgreicher dem lieben Gott in's Handwerk pfuschen können, als die plastischen Diplomaten der Geschichte. Denn gerade diese auf mechanischem Wege ausgerundeten kleinen südwestdeutschen Staaten waren fortan die Unruhe in der Uhr der großen deutschen Bundesmaschine. Sie erhielten ihre gegenwärtige Gestalt in einer Zeit, wo die sociale Politik fast ganz verschollen war, wo nur die militärische, bureaukratische, diplomatische Politik und die Hauspolitik der Fürsten herrschte. Mehr als ein Zufall, ein strafendes Verhängniß ist es daher, daß gerade in diesen Staaten die immer noch vorschreitende sociale Zersetzung Mitteldeutschlands ihren eigentlichen Herd gefunden hat.

Ohne innere geschichtliche Nothwendigkeit geriethen sie in ein stetes Schwanken; ihre politische Magnetnadel deutet heute nach Preußen, morgen nach Österreich, übermorgen schwirrt sie ziellos her und hin. Diese Staaten waren es, die den österreichisch-preußischen Dualismus so oft schon doppelt gefahrdrohend für Deutschlands Einheit und Bestand machten, weil sie nach beiden Seiten ein steter Gegenstand der Eifersucht waren und bleiben werden. Einigten sich die kleinen Gebiete mit den Mittelstaaten zu einem dritten Staatengebilde neben den beiden Großmächten, so wären sie dazu angethan, den alten Zwiespalt zu versöhnen. Blieben dabei auch Einzelne immer noch Zufallsstaaten, ihr Bund würde kein Zufallsbund seyn. Jetzt die äußeren Denkmale einer im Geiste der Nation bereits überwundenen Zerrissenheit, würden sie Grundsteine nicht zwar eines einheitlichen, aber doch eines einigen Deutschlands werden.

Schon die Natur hat dem Südwesten einen vermittelnden Einfluß auf die beiden großen Ostmächte vorgezeichnet: im Südwesten beginnt die große Wasserscheide der Nordsee und des schwarzen Meeres; am Rhein zieht sich mitteldeutsche Bodenform ungeschieden südwärts in die oberdeutsche hinüber und ragt gen Norden tiefer als irgendwo in die niederdeutsche Ebene; der Rhein verbindet überhaupt den äußersten Süden und Norden unsers Vaterlandes (trotz aller Bergketten, die sich dazwischen drängen wollen) durch eine Naturstraße, die gen Osten keine Parallele hat; nieder-, mittel- und oberdeutsche Art schmilzt zusammen in der rheinischen; der Rhein gehört den drei Stufen deutschen Landes zumal an, indeß die Donau nur ein süddeutscher Strom ist, Weser, Elbe und Oder nur mittel- und norddeutsche Flüsse.

Weil aber der deutsche Südwesten politisch zerstückt und aufgelöst ist, so vermögen seine Staaten nicht die Rolle zu spielen, welche ihnen von der Natur zugewiesen wurde. Das bewegliche Volk wußte wohl, rascher als andere Stämme, einen neuen Gedanken zu packen, Neues anzuregen, Altes zu zertrümmern, es verstand ganz Deutschland zu spornen und zu treiben, aber die südwestdeutschen Regierungen vermochten nicht, diesen Geist gleicherweise zu Thaten der aufbauenden Politik zu führen. Zur Zeit der inneren Revolution war darum die südwestdeutsche Staatengruppe bestimmend weit über das Maß ihrer Quadratmeilen- und Einwohnerzahl hinaus: zur Zeit der innern Ruhe, wo es galt den politischen Zwiespalt der deutschen Großmächte auszugleichen und den ganzen Bund neu zu gestalten, daß er auch nach Außen Achtung gebiete, verschwand urplötzlich all der herrschende Einfluß des Südwestens.

Hier zündete die Revolution des Jahres 1848 zuerst; hier ward sie sofort Sache des Gemüthes, der Begeisterung. Hier ward angeregt, während der Norden und Südosten die Revolution auf der einen Seite consolidirte, auf der andern zurückschlug. In derselben Ebene zwischen Rhein und Schwarzwald, wo vor dreihundert Jahren Hans Müller von Bulgenbach, mit rothem Mantel angethan und mit rothem Barett, die Sturmfahne der ersten deutschen Social-Revolution erhoben hatte, führte Hecker die erste bewaffnete Schaar der neuen Empörung in's Feld. Man sieht, die rothe Farbe hat hier ihren historischen Boden. In den südwestdeutschen Staaten, in Hessen, Baden, Nassau, Württemberg, wurde zuerst die Idee eines deutschen Parlaments auch von den Fürsten geltend gemacht. Der Schwerpunkt des neuerstandenen Deutschlands wurde, wenn auch nur auf kurze Frist, nach Frankfurt, dem Mittelpunkt dieser Staatengruppe, geworfen. Das Vorparlament war der Zahl nach von den Abgeordneten dieser kleinen Staaten beherrscht, noch mehr vertrat es ideell den hier webenden Geist. In seinen Beschlüssen diktirte die südwestdeutsche Ecke dem ganzen Deutschland Gesetze. Die vom Parlament geschaffene Centralgewalt wurde am raschesten und unbedingtesten von den Fürsten dieser Staaten anerkannt. Dagegen brach auch hier der Groll gegen die Reichsversammlung von demokratischer Seite zuerst in offene Empörung aus, weil das Parlament durch das Ueberwiegen der conservativen Männer, die aus dem Norden und Südosten herzugekommen waren, der Einbildung nicht mehr entsprach, welche sich der im Südwesten bei der Masse zum Durchbruch gekommene Geist der Revolution von einer deutschen Volksvertretung machte. Die Märzministerien hielten sich in den südwestdeutschen Staaten am längsten. Der Gedanke eines Erbkaiserthums siegte durch den Bund des preußischen Nordens mit den Vertretern der südwestdeutschen Staaten. Die Reichsverfassung fand hier den entschiedensten Eingang in's Volk, und die Fürsten waren am härtesten gedrängt, dieselbe anzuerkennen. Die unheilvolle Vereidigung auf dieselbe wurde mitunter nicht nur rasch, sondern auch voreilig vorgenommen. Der Aufstand zu Gunsten und unter dem Vorwand der Reichsverfassung gewann hier den breitesten Boden und den tiefsten Erfolg. Die Mediatisirungspläne, mit welchen man sich im Herbst 1848 in der Paulskirche trug, wurden dort zumeist aus Rücksicht auf die südwestdeutschen Staaten zurückgelegt, denn Centralgewalt und Parlament sahen unzweifelhaft ein, daß hier ihre größte moralische Stütze sey. Auch die Demokratie fand nebenbei, daß die südwestdeutschen Kleinstaaten das eigentliche Stamm- und Erbgut der Revolution seyen, und wollte denselben gleichfalls nicht wehe thun. Wenn man sich in Wien und Berlin rasch gewöhnte, das Parlament als die Sondervertretung Südwestdeutschlands im Gegensatze zu Oesterreich und Preußen aufzufassen, so hatte man wenigstens in sofern nicht unrecht, als jenes schwankende Zwischenglied der südwestdeutschen Staatengruppe eigentlich in der schwankenden Stellung des Parlaments sich versinnbildete.

Fast alle moderne Theilungsplane Deutschlands, vom »Manuscript aus Süddeutschland« bis zum Pentarchisten und den Phantasien des Journal des Debats abwärts, speculirten auf die zweifelhafte Lage der südwestdeutschen Staatengruppe. Eine Großmacht, welche hier Herr und Meister wäre, besäße Deutschland, denn sie könnte die österreichisch-preußische Eifersucht ausbeuten, wie der Mechaniker zwei auf- und niederziehende Gewichte als bewegende Kraft benutzt. Frankreich und Rußland haben in diesem Sinne den deutschen Südwesten immer auf's schärfste in's Auge gefaßt.

Diese Verhältnisse schreiben sich auch nicht von heute oder gestern; sie sind ein historisches Erbtheil, zu welchem die ganze deutsche Reichsgeschichte seit Karl dem Großen beigesteuert hat. Von Alters her war der Südwesten der empfindlichste Theil Deutschlands. Nirgends hat die deutsche Nation Verluste erlitten, die ihr so wehe gethan, als das was sie an diesen Grenzmarken eingebüßt. Was hier jetzt Grenze geworden, war einst der politische Mittelpunkt Deutschlands; aber in dem Maße als die deutsche Kaisermacht ihren Hauptsitz mehr und mehr in den Osten des Reichs hinüberzog, keilte sich im Westen eine feindliche Macht nicht nur immer tiefer in's deutsche Gebiet ein, sondern zugleich wuchs auch die Vereinzelung, der Particularismus der ganzen Staatengruppe. Hier zersplitterten sich die reichsritterschaftlichen Gebiete in eine solche Unzahl kleiner Besitzungen, daß dadurch die Schwäche, nicht die Macht der Aristokratie verewigt wurde. Das linke Rheinufer, ein klassischer Boden der deutschen Sage und Geschichte, wie kaum ein anderer, wurde von französischem Geiste überfluthet, so daß es jetzt theilweise vergleichbar ist jenen uralten Gesteinschichten, über welche sich später ein neues, fremdartiges Geschiebe gelagert hat, unter dem nur noch das Auge des Forschers das Urgestein entdecken kann. Nirgends haben die großen Religionskämpfe des 16. und 17. Jahrhunderts ihre trennende und zersplitternde Gewalt so scharf bekundet, als im deutschen Südwesten. Während sich anderwärts die Bekenner des alten oder neuen Glaubens nach breiten Landstrichen sonderten, ist in Baden, Württemberg, Rheinbayern, Hessen und Nassau die äußerste Zerrissenheit eingetreten, und in buntester Reihe schieben sich die Gebiete des einen Glaubens in die des andern hinein. Hier trifft am meisten der Ausspruch von Görres, wenn er sagt, im Religiösen habe sich das alte Reich zu einem Lebermeere umgestaltet, wie es die alten griechischen Seefahrer im Norden gefunden: nicht Wasser, Land noch Luft, sondern ein dickes, geronnenes Magma von allem. Auch in handelspolitischem Betracht lastete die gleiche Zerrissenheit auf dieser Staatengruppe. Man sollte meinen, die großartige Wasserstraße des Rheins, welche mitten durchzieht, müsse hier geeint haben; sie diente aber von Alters her fast mehr zur Absperrung und Trennung der Handelsinteressen. Die alten Zollsperren des Stromes, welche den Kaufmann nöthigten, am Mittelrhein seinen Weg über den Hundsrück oder durch den Einrich zu suchen, finden heute noch, wenn auch in noch so verringertem Maße, ihr Fürwort in dem Eigennutz mehrerer kleiner Uferstaaten. Sie müssen sich der Aufhebung des Rheinzolles widersetzen, denn die daraus fließende Einnahme bildet einen zu bedeutenden Posten im Staatsbudget und ist bei früheren Ländertauschen hoch genug angerechnet worden. Frankfurt, als Mittelpunkt des Handels in dieser Staatengruppe, hat in Sachen der nationalen Handelspolitik keineswegs einen Standpunkt eingenommen, welcher es in Vergleich treten ließe mit Hamburg, Bremen, Triest und andern Städten. Wahrend Oesterreich, Bayern, Württemberg einerseits schon lange eine feste Stellung in Bezug auf die großen Industrie- und Handelsfragen der Zeit behaupten, Preußen und die norddeutschen Länder andererseits nicht minder, schwankte der Kampf der Parteien in dieser Staatengruppe und namentlich in Frankfurt stets bis zur letzten Stunde. Ueberhaupt zeigte sich Frankfurt recht als das leibhaftige Sinnbild von den innern Widersprüchen der Länder, deren Mittelpunkt es bildet. Auf der einen Seite strenges Festhalten am alten reichsstädtischen Herkommen und eine Bürgeraristokratie, die mitunter an die Blüthezeit des mittelalterigen Städtewesens erinnert, auf der andern blinde Hingabe an jede Neuerung, wie sie sich von Ronge's Triumphen bis zu den letzten Augenblicken der Constituante in einer gleich mächtigen radicalen Partei verkörperte.

Jene lange Reihe diplomatischer Verhandlungen, welche im ersten Jahrzehnt unseres Jahrhunderts im Gefolge von Napoleons Siegen das deutsche Reich auflösten, führten immer neue Umgestaltungen der staatlichen Verhältnisse Südwestdeutschlands herbei, während man erst im letzten Zug an den Norden und Osten ging. Es wäre lehrreich, in diesem Betracht eine durchgeführte Parallele zu ziehen zwischen den neuesten Krisen und jenen Agitationen, wie sie vor der Rheinbundszeit von österreichischer, preußischer und französischer Seite betreffs der südwestdeutschen Staaten veranlaßt wurden. Die Geschichte würde dann vielleicht lehren, daß unsere Politiker gegenwärtig den mittelbaren Einfluß dieser Ländergruppe, weil die einzelnen Staaten an sich nicht schwer in die Wagschale fallen, viel zu gering anschlagen, wie man auch damals erst bei der letzten Zeche inne ward, zu welcher Summe sich diese kleinen Posten zusammengezählt hatten. Die Staatengruppe, von der ich rede, bildete den Kern des Rheinbundes, bei dessen Stiftung Napoleon den deutschen Südwesten dem österreichischen Einflusse entziehen wollte. Aus diesen willkürlichen Umwandlungen historischer Verhältnisse erwuchs aber zuletzt die Länderkarte des Wiener Congresses. Was man in dem Zeitalter des ärgsten politischen wie religiösen Nationalismus, wo man recht gescheidt zu seyn glaubte, wenn man die Geschichte recht gründlich verachtete, ausgeklügelt hatte, das diente jetzt als Grundlage zu den neuen Ländergebilden. Es liegt entweder eine tiefe Weisheit oder eine unbewußte Selbstironie in der Zusammenfügung der südwestdeutschen Länder und Provinzen. So schweißte man jedesmal mit einem liberalen Vorlande ein conservatives Hinterland zusammen: Rheinhessen an Hessen-Darmstadt, den Rheingau an Altnassau, die Pfalz zum Theil an Baden, zum Theil an Bayern u.s.w. Dadurch wurde die Unruhe und der innere Widerstreit in dieser Staatengruppe recht eigentlich verewigt. Ein wahrhaft ergötzliches Kunststück willkürlicher Gebietsvertheilung gründete man aber in dem Mittelpunkte dieser Staatengruppe, nämlich in der Nachbarschaft der freien Stadt Frankfurt. Die Landkarte ist hier das anschaulichste Sinnbild der Willkür des Wiener Congresses. Etwa zwanzig buntgemischte Enclaven auf einer Fläche von wenigen Quadratmeilen, darunter wirkliche mikroskopische Gebietstheilchen, die selbst auf den Spezialkarten nicht mehr verzeichnet sind, sondern bloß noch auf den Localkarten, da sie nicht einmal ein Dorf oder ein Gehöfte, sondern höchstens einen Waldschlag oder einen Berg in sich schließen!

Wenn man die Rheinprovinz an Preußen fügte, so hatte dies einen Sinn. Ein Staat wie Preußen besitzt die Kraft, das fremdartige Rheinland zu sich herüberzuziehen; denn Preußen wird mit der Zeit ganz Norddeutschland selbst in Sitte und Lebensart ausgleichend verschmelzen. Schon seine Heerverfassung wirkt hier gar tief. Das preußische Soldatenwesen gleicht tausende der zähesten Besonderungen im Volksleben gründlicher aus, als alle Eisenbahnlinien, die durch's Land führen. Aus den entlegensten Winkeln, die kaum je ein Fremder besucht, holt es die ungehobelten Bauernbursche in die Kasernen, um dort ihre Sitten langsam aber sicher abzuschleifen. Und diese Bursche tragen den neuen Geist in die versteckte Heimath zurück. Vielleicht bemerkt man jetzt noch nicht überall, wie gefährlich die allgemeine Wehrpflicht den Sondersitten des Volkes ist, wie förderlich also der socialen Uniformität. Aber schon in den nächsten Menschenaltern wird man dies an allen Orten mit den Händen greifen können. Die Demokratie will die stehenden Heere abschaffen im Interesse der allgemeinen Gleichheit. Welche Verblendung! Im Interesse der allgemeinsten Ungleichheit, im Interesse der Rückkehr zu einem völlig mittelalterlichen Einzelleben aller einzelnen Gaue und Winkel müßte man sie abschaffen.

Kann sich aber Preußen das fremdartige Rheinland auch innerlich aneignen, dann wird dies z.B. Hessen-Darmstadt mit seiner Provinz Rheinhessen kaum vermögen. Denn hier sind es ziemlich gleiche Kräfte, die sich widerstrebend gegenüberstehen. Der Rheinhesse hing erst da recht eifersüchtig und zähe an seinen alten politischen Einrichtungen, als er darmstädtisch geworden war. Er wurde erst recht inne, welche große Freiheiten er bereits besitze, als man ihm von Darmstadt aus neue schenken wollte, er merkte nun erst, daß seine Handels- und Gewerbeinteressen ganz andere seyen, als die darmstädtischen. In der Zeit der politischen Aufregung lag ihm darum die bayerische Rheinpfalz und Baden viel näher, als Darmstadt. Vor allen Dingen aber traten nun erst recht die socialen Gegensätze zu Tage, die sich nicht ausgleichen können, weil auf keiner von beiden Seiten eine überwältigende Anziehungskraft ist. Hier eine handeltreibende Gegend, dort eine ackerbautreibende; hier ein selbständiges Bürgerthum, dort fast nur Kleinstädterei und Beamtenwelt; in Rheinhessen ein städtisches Proletariat, dazu ein fast durchgängig aus den Schranken des alten Bauernthums herausgerissenes, verfeinertes und verstädteltes Volk, in Oberhessen noch vielfach der alte in sich abgeschlossene Bauernschlag.

Eine Staatengruppe, die solche Widersprüche organischen politischen Lebens und gemachter Staatskunst in sich schließt, wird immer in kritischen Zeitläuften bedeutungsvoll erscheinen. Mag das Geschick der inneren politischen Kämpfe Deutschlands sich erfüllen, wie es sey: diese südwestdeutsche Staatengruppe wird als der krankhaft erregteste, in sich zerrissenste Theil unsers Vaterlandes wo nicht entscheidende Einflüsse üben, doch jedenfalls auf sich üben lassen, und schwer wird sich dabei die Unnatur rächen, daß die staatlichen Gebiete hier sich abgrenzen im geraden Widerspruch mit den natürlichen Gruppirungen von Land und Leuten.


 << zurück weiter >>