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Im 18. Jahrhundert gab es bekanntlich zehnmal so viel kleine Staaten in Deutschland als gegenwärtig. Die äußerliche Lächerlichkeit und Nichtigkeit von gar zu winzigen Herrschaftsgebietchen trat dazumal wohl drastischer hervor und ist auch in Spott und Ernst genügend geschildert worden, allein die Unnatur der Kleinstaaterei im Großen und Ganzen empfand man durchaus nicht in dem Maße wie gegenwärtig. Diese Unnatur war aber damals auch gar nicht in so hohem Grade vorhanden. Die kleinen Staaten bescheideten sich in ihren Ansprüchen. Man verlangte nicht, daß sich die Bürger einer jeden Reichsgrafschaft als selbständiges reichsgräfliches Volk fühlen sollten, daß sie durchdrungen seyn sollten von einem aparten reichsgräflichen Nationalbewußtseyn. An die Forderung einer solchen idealen Loyalität dachte kein Mensch. Jetzt denkt man daran auch in dem kleinsten deutschen Ländchen. Man fingirt in höheren und höchsten Kreisen ein »Volk« (wohl gar einen »Stamm«) der Waldecker, Sachsen-Coburger, Hessen-Homburger, Neuß-Schleizer etc., da doch solche Völker und Stämme gar nie bestanden. Es gibt freilich deutsche Staaten, bei welchen ein eigener Volksstamm den Kern auch noch der heutigen Bevölkerungsmasse bildet, wie bei Preußen, Sachsen, Bayern, Hannover, Württemberg etc., allein bei den Kleinstaaten handelt es sich nur um das Unterthanenverhältniß von Bruchstücken größerer Volksgruppen zu einem, allerdings historisch berechtigten, Fürstenhause. Indem man die Kleinstaaten so einrichtet, als umfaßten sie auch eine selbständige, geschlossene Volkspersönlichkeit, zeigt man die Unnatur erst recht grell auf, welche in der Bildung dieser Staaten steckt. Nicht die Existenz der Kleinstaaten an sich ist vom Uebel, wohl aber, daß sie gegenwärtig ganz ebenso regiert und angesehen werden wie die großen.
Ich will diesen Widerspruch der Maße in den politischen Einrichtungen unserer Kleinstaaten mit den Maßen von Land und Leuten an einem Exempel nachweisen. Es bedarf dazu einiger in's Kleine gearbeiteten Sittenmalerei, und ich greife darum denjenigen Kleinstaat heraus, dessen Zustände ich gleichsam unter der Lupe zu betrachten Gelegenheit hatte, meine Geburtsheimath Nassau. Die hier geschilderten Verhältnisse wiederholen sich wesentlich in allen deutschen Kleinstaaten. Sie sind überhaupt charakteristisch für das mittelgebirgige Deutschland.
Wenn man die Geschichtbücher des gedachten Landes nachliest und wahrnimmt, welche naturgemäß einfache Verwaltung gerade zu der Zeit herrschte, wo sich sein gegenwärtiger Umfang noch in eine ganze Anzahl kleinerer Herrschaften abtheilte, wo also die Kleinstaaterei ihre höchste Blüthe erreicht hatte – dann begreift man erst, daß diese politische Kleinwirthschaft in der That vordem ihr Recht haben und höchst bestechende Vorzüge entfalten konnte. Ich will gar nicht der Zeit gedenken – ob sie gleich erst drei Jahrhunderte hinter uns liegt – wo die Landesfürsten von Burg zu Burg zogen, um solchergestalt eine wandernde Regierung in Person auszuüben und jedenfalls dadurch viel an Schreibereien, an Referenten, an Expeditions- und Registraturpersonal ersparten, während der Hofcapellan die Stelle eines Kanzlers und Schreibers zugleich versah, und also ein ganzes Ministerium vom Präsidenten bis zum letzten Kanzelisten abwärts in Einer Person darstellte. Von diesen Zeiten, wo der Kleinstaat wie das Musterbild des einfachsten und natürlichsten Staatswesens erscheint, will ich, wie gesagt, nicht reden. Ich erinnere vielmehr nur an das 17. und 18. Jahrhundert. Damals gab es in den nassauischen Landen bloß ein Hofgericht als oberstes Justizcollegium, eine Kammer als oberste Verwaltungsbehörde und einen Kirchenrath zur Leitung der geistlichen Angelegenheiten, Erst im Laufe des 18. Jahrhunderts kam noch als höchstes Collegium die Landesregierung hinzu. Dabei beschränkte sich die Zahl des höhern Beamtenpersonals, der Präsidenten, Direktoren, Assessoren etc. so viel als möglich, d. h. in der Regel auf einen Mann. Bei einer so eingerichteten Regierung hing natürlich das Meiste von dem persönlichen Ermessen des Einzelnen ab, man verfuhr patriarchalisch-absolutistisch. Der Fürst forderte von seinem Volke das einfache, strenge Unterthanenverhältniß. An den nassauischen Höfen hatte die Lebensweise eines begüterten Privatmannes geherrscht und zwischen dem Bürger und dem Fürsten meist eine ganz vertrauliche persönliche Beziehung stattgefunden, deren sich mancher Altnassauer noch freundlich erinnert und die sich für ein kleines Land ganz wohl schickt, wo sich die ganze Bevölkerung gegenseitig genauer kennt, als in einer großen Stadt die Bewohner eines einzelnen Viertels. Von einer Volksvertretung bestand in den nassauischen Landen in dem ganzen großen Zeitraum, seit die freien Männer zum letztenmal auf den uralten Mallstätten getagt hatten, bis zum Jahre 1817 keine Spur. Nur im Rheingau hatte sich der alte Landtag, welcher auf einer Rheininsel zusammenkam, bis in's 16. Jahrhundert erhalten. Man scheint aber auch dieses Gegengewicht gegen die Fürstengewalt früher um so weniger vermißt zu haben, da der Einfluß der überaus zahlreichen adeligen Grundherren ein sehr bedeutender war und die Fürstengewalt weit mehr als anderwärts in Schranken hielt. Auch dies war eine naturgemäße Folge jener alten, weiland berechtigten Kleinstaaterei, denn die faktische Machtvollkommenheit des kleinen Fürsten ragte nicht allzuweit über die des großen Grundherrn hinaus. Als man nun nach der napoleonischen Zeit die Kleinstaaten in gleicher Art wie die großen Reiche einzurichten begann, mußte natürlich auch eine vollständige Volksvertretung geschaffen werden. Bei fast allen deutschen Kleinstaaten sind aber von vornherein gar nicht einmal alle socialen Elemente zu einer vollständigen Volksvertretung vorhanden – weil es nämlich an einem Volke fehlte; denn nicht jede beliebige Summe von Menschen ist ein Volk, Eine unabhängige grundbesitzende Aristokratie mangelt allen den kleinen Ländchen, oder sie beschränkt sich auf zwei bis drei Leute. Aus dem Bürgerthume finden sich meist nur der Kleinbürger vor, da die größeren Städte fehlen, während unsere republikanischen Kleinstaaten, die freien Städte, keine entsprechende Landbevölkerung haben. Eine Volksgruppe aber, welche nur Fragmente der bürgerlichen Gesellschaft in sich schließt, ist auch nur befähigt zur Repräsentation vereinzelter Interessen, nicht aber zu einer Vertretung »des Volkes,« Denn »das Volk« muß die ganze Gesellschaft in sich umfassen.
Nirgends zeigt sich aber die schwache Seite der Kleinstaaten schroffer als bei den Abgeordnetenkammern, die von Haus aus auf ein größeres Land, auf eine vollgültige Volkspersönlichkeit berechnet sind. Nassau zählte nach dem Wahlgesetz von 1848 einundvierzig Landtagsabgeordnete. Würde etwa Frankreich nach derselben Proportion seine Volksvertretung wählen, so müßte es ungefähr vierthalbtausend Abgeordnete zur Nationalversammlung schicken! Es ergibt sich daraus, daß die Volksvertretung mit der zunehmenden Kleinheit des Staates in steigender Progression theurer wird. Die nassauische Volkskammer hat im Jahr 1848 12,000 fl. allein für den Druck ihrer Protokolle verausgabt, während sich die Gesammtsumme der Staatseinnahmen nur auf einige Millionen Gulden beläuft. Dazu kommt aber, daß die Zahl von einundvierzig Abgeordneten, trotzdem daß in einem so kleinen Lande eine eigentliche sociale Vertretung des »Volks« gar nicht stattfinden kann, doch eigentlich noch viel zu niedrig ist. Denn um das rechte Maß für eine Volksvertretung zu finden, muß man nicht sowohl das Zahlenverhältniß der Vertretenden zu den Vertretenen in Betracht ziehen, als vielmehr darauf sehen, daß die Versammlung groß genug werde, um den Charakter einer Volksrepräsentation überhaupt zu erlangen, welche alle wesentlichen Elemente des Volkes im Auszug in sich schließen soll. Da man aber bei dem Glücksspiel der Wahlen auf zehn taube Nüsse höchstens eine zählen kann, welche einen Kern enthält, und erst in einer größeren Zahl von Gewählten die Zufälligkeiten der einzelnen Wahlakte sich ausgleichen, so sind vierzig Männer eben so gewiß nicht zureichend, um ein trotz aller Wahlzufälle doch sicheres Abbild aller Hauptgruppen eines Völkchens von vierhunderttausend Köpfen darzustellen, als etwa fünf- bis sechshundert vollkommen genügen, um vierzig Millionen zu vertreten. Diesen Mißstand der Volksvertretungen in kleinen Staaten hat man auch sofort herausgefühlt, und als im Jahre 1849 Stimmen sich erhoben, welche forderten, daß man mit der Mediatisirung der Einzelkammern in den Kleinstaaten das Werk der deutschen Einigung beginne, fanden diese Stimmen ein lautes Echo in den Kleinstaaten, und zwar nicht bloß bei den Reaktionären und Absolutisten. Freilich würde diese Mediatisirung der Kammern dann auch zur Mediatisirung der Ministerien führen müssen – und so weiter!
Die kleinen deutschen Länder haben sich nothgedrungen Verfassungen gegeben, welche ihrem ganzen Wesen nach auf größere Staaten berechnet sind. Unsere Kleinstaaten nehmen sich aus wie eine Compagnie Soldaten, der man einen auf ein ganzes Armeecorps eingerichteten Generalstab vorgesetzt hat. So lange die Regierung und Verwaltung der Ländchen ganz bescheiden aus ihren geschichtlichen Verhältnissen hervorwuchs, wie es meist bis zum Jahr 1816 gewesen, kannte man den Begriff der Kleinstaaterei gar nicht, er drängte sich erst auf, als man den Staaten von ein paarmal hunderttausend Einwohnern den vollständigen Abklatsch einer für England, Frankreich oder meinetwegen auch für Ruhland bestimmten Verfassungs- und Verwaltungsform geben zu müssen glaubte. Denn der kleinste Staat ist kein »Kleinstaat,« so lange der Verwaltungsaufwand zu dem Verwalteten, so lange die beanspruchten politischen Rechte zu den politischen Leistungen in richtigem Verhältniß stehen. Es kann sogar ein großer Staat zur Kleinstaaterei herabsinken, wenn er mehr zu seyn sich anmaßt, als er wirklich seyn kann.
Die Verfassung des Nassauer Landes vom Jahr 1814, und namentlich die Verwaltungsorganisation galt in den zwanziger Jahren für musterhaft. Sie war in der That ein Musterbild, aber in dem Wortsinn des todten Modells, welches nach abstracten Lehrsätzen entworfen ist, im Gegensatze zu dem lebendigen Leibe. Man hätte glauben sollen, damals, als noch der Hofcapellan das ganze nassauische Ministerium vorstellte, müsse die Verwaltung viel centralisirter gewesen seyn, als nunmehr, wo sie an ein ganzes Regiment von Behörden und Unterbehörden überging. Es war aber gerade umgekehrt. Es gab wohl keine deutsche Verfassung, welche den Grundsatz der Centralisirung so folgerichtig durchgebildet, welche jede freie Bewegung der vielen im Staatsleben ineinander greifenden socialen und politischen Mächte so vollständig in der obersten Regierungsgewalt hatte binden und aufgehen lassen, als jene nassauische. Bekannt ist die humoristische Klage, die der Freiherr von Stein in seinen Briefen an Gagern darüber erhebt, daß nicht einmal die einzelnen Gemeinden ihre Faselstiere nach eigenem Ermessen sich ankaufen dürften: auch dies war Sache der Regierung! sie kaufte die Ochsen für das ganze Land. Und wie mit den Faselstieren, so ging es mit allen andern Dingen, mit Kirche und Schule, Handel, Gewerbe und Ackerbau, Gemeindewesen, Medicinalverwaltung, Forstcultur, alles wurde von der Regierung vorsorglich angeordnet, über alle technischen Angelegenheiten entschieden fast nur Juristen, das Haus- und Staatsministerium bereinigte alle Zweige ministerieller Wirksamkeit in Einem Bureau.
Man ging so weit in der Centralisation, daß man sich fürchtete, studirte Finanzmänner und Kameralisten in Staatsdienst zu nehmen, weil es für einen der obersten Grundsätze der Staatsweisheit galt, daß auch die ökonomischen Fragen nur durch die Hände von Männern der Schreibstube oder von Juristen gehen dürften. Man glaubte, daß durch das Eindringen der »Techniker« die rechte disciplinarische Uniformität der Schreibstube gestört würde, und in letzterer hatte man es in der That in den meisten kleinen Staaten zu einer musterhaften Einheit gebracht. Es ist z. B. in Nassau vorgekommen, daß ein Beamter in seinem Bericht an eine vorgesetzte Behörde den »Submissionsstrich« zwischen dem Text und seiner Namensunterschrift weggelassen hatte, worauf demselben die Weisung zuging, in Zukunft den Submissionsstrich nicht wieder zu vergessen. Der Beamte hatte Humor genug, der Behörde ein ganzes Buch Papier voll großer Submissionsstriche einzusenden, mit der gehorsamsten Bitte, sich hiervon, falls er den Strich wieder vergessen sollte, einen solchen auszuwählen: und die sittengeschichtlich denkwürdige Komödie endigte mit einer Geldstrafe für den allzu humoristischen Beamten.
Preußen verfolgte in jener Zeit eine ganz ähnliche bureaukratische Centralisation, und am Ende ist man in den kleinen »Musterstaaten« noch vielfach freisinniger dabei zu Werk gegangen als in Preußen. Allein Preußen erfüllte in dieser Blüthezeit der Bureaukratie einen großen historischen Beruf, er schaffte reines Feld, es half die letzten Reste der abgestorbenen mittelalterlichen Gesellschaft zertrümmern, es brachte strenge Ordnung in den Staatshaushalt, es bereitete der Zukunft des gesammten deutschen Verfassungslebens neue Bahnen vor, es leitete die sociale Centralisation des ganzen deutschen Nordens ein. In Nassau dagegen reichte die ganze Macht des neuen bureaukratischen Regiments nicht einmal hin, um das Sonderthum der einzelnen kleinen Landstriche in dem kleinen Sonderstaat zu brechen.
Die nassauischen Länder waren damals binnen fünfundzwanzig Jahren so häufig in ihrem Bestand geändert worden, daß wirklich ein gutes Gedächtnis und keine geringen statistischen und geographischen Kenntnisse dazu gehörten, um genau anzugeben, welche Gebietstheile seit einem Menschenalter nassauisch gewesen und geworden waren. Als im Jahr 1816 das Herzogthum zu seiner jetzigen Gestalt abgerundet wurde, nahm es nicht nur fremdartige Bestandtheile in seinen Verband auf, sondern es wurden in demselben Maße altnassauische, durch Jahrhunderte engverbundene Landstriche auch wiederum abgeschnitten. So fiel z. B. das Siegener Land und der sogenannte Hüttenberg an Preußen, wo heute noch ein großer Theil der Bevölkerung viel besser nassauisch gesinnt ist, als in den Nassau zugetheilten kurmainzischen und kurtrier'schen Gebietstheilen. Die Schicksale der nassau-oranischen Regentenfamilie, als dieselbe ihre deutschen Stammlande verlor, gingen den Alt-Oraniern im Dillenburgischen und Siegen'schen tief zu Herzen, und der Anfall an die weilburgische Linie ist von vielen damals wohl gar als ein Landesunglück betrachtet worden! Es ist darum eben geradezu unmöglich, eine Geschichte des Herzogthums Nassau als »nassauische Geschichte« zu schreiben. Es gibt überhaupt nur eine Nassau-dietzische, Nassau-weilburgische, nassau-usingische etc. Geschichte, keine nassauische; wiederum ist etwa die Geschichte der Herrschaft Kirchheim-Bolanden in der bayerischen Rheinpfalz, der Grafschaft Saarbrücken etc. etc. für die Geschichte Nassaus wichtiger, als die des jetzt zu Nassau gehörenden Rheingaues. Ein gutes Theil ihrer Geschichte haben die Nassauer auch in den Niederlanden, ja wohl gar ein Zipfelchen derselben in Südfrankreich zu suchen, und so liegt ein großes Bruchstück ihrer historischen Erinnerungen in der That in partibus infidelium. Wie soll man da von einem »nassauischen Volksthum« sprechen! Dies eben sollte nun gleichsam mit Dinte und Feder hergestellt werden, indem man aus dem diplomatischen Flickwerk des neuen nassauischen Gesammtstaates durch die straffste Verwaltung ein ganzes Stück Zeug machen wollte. Man tilgte aber auf diesem Wege viele berechtigte Besonderungen im Volksleben weg und kam doch nicht zu dem erstrebten höhern Ganzen.
So viele Aemter jetzt das Herzogthum zählt, aus fast ebenso vieler Herren Ländern war es im Lauf der Zeiten zusammengesetzt. Es spaltet sich in eine katholische und eine protestantische Hälfte, und zwar ist in den strengprotestantischen Landestheilen das Andenken an ein altes patriarchalisches Fürstenregiment noch ebenso lebendig, als in den strengkatholischen an die ehemalige priesterliche Herrschaft von Kur-Mainz und Kur-Trier. Dazwischen liegen wieder kleinere Striche, wo im Lauf des 16. und 17. Jahrhunderts fast von Geschlecht zu Geschlecht der Glaube gewechselt wurde, nach dem Grundsatze, daß dessen der Glaube sey, dem der Herrscherstab. Wollte einer eine Confessionenkarte dieser zweiundachtzig Quadratmeilen entwerfen, sie würde ebenso buntscheckig ausfallen, ebenso bespritzt mit zerstreuten Einzeltheilchen, wie die geognostische Karte des Landes, welcher an zerrissener Mannigfaltigkeit auf so kleinem Raum kaum eine gleichkommt.
Eben so bunt nehmen sich die socialen Zustände aus, und doch kann man nicht einmal sagen, daß hier alle berechtigten und nothwendigen Elemente der bürgerlichen Gesellschaft vollständig vertreten seyen.
Ein armer, aber bedürfnißloser Bauernschlag, nach der Urväter Weise mehr in Gruppen von Gehöften als in geschlossenen Dörfern wohnend, bevölkert den hohen Westerwald; ein aristokratischer, auf den geschlossenen Besitz stolzer Bauernstand theilweise die Mainebene und die obere Lahn; ein furchtbar verkommenes, an Schlesien und Irland gemahnendes Bauernproletariat hat auf dem östlichen Taunus seine Sitze, wo der magere Boden die wenigen Bewohner nicht ernähren kann, wo verunglückte Industriespeculationen ganze Gemeinden an den Bettelstab gebracht haben, und in den elenden Hütten nicht selten ein Haufen Laub die Stelle des Bettes vertritt; ein städtisches Proletariat, welches sonst beinahe fehlte, hat die frühere Regierung in wahrhaft fabelhafter Verblendung nach der Hauptstadt gepflanzt, indem sie hier den verkommenen Leuten aus aller Herren Ländern eine förmliche Freistätte öffnete, und mit dem Zuschub einer besitzlosen Menschenmenge ein großes nationalökonomisches Kunststück vollführt zu haben glaubte. Der Rheingau zeigt uns in dritter Abstufung das Proletariat der Winzer, welche auf das Glückspiel des Weinhandels wetten müssen und ein Jahr im Ueberfluß schwelgen, um sechs Jahre am Hungertuch zu nagen. Dazu gesellt sich in den mittleren Theilen des Landes ein halb wohlstehender, halb dürftiger Bauernstand, der noch schwankt zwischen den alten Ueberlieferungen des Bauernmajorats und moderner Güterzersplitterung. Die zahlreichen kleinen Städte sind größtentheils mit einer Bevölkerung angefüllt, welche Ackerbau und Gewerb zugleich treibt, und dadurch in keinem von beiden zu was rechtem kommt. Die Badeorte umgeben sich im Sommer mit dem trügerischen Schein des großstädtischen Lebens, während sie doch eigentlich in jedem Betracht ebenso arme Landstädtchen sind wie die übrigen. Ein paar Orte haben auch den Anschein, als ob sie Handel trieben, indeß dies doch bei der Concurrenz der großen Nachbarstädte und der Dürftigkeit der Verkehrsmittel im Inneren des Landes ebensowenig bedeuten will, als die Scheinindustrie der handwerkenden Bauern. So gewahren wir hunderterlei Proben von diesem und jenem, von allen Elementen eines größeren Staates ein bißchen, von keinem etwas rechtes.
Wir finden ganz jene Mischung und jenes Maß der socialen Elemente, wie es in Mitteldeutschland die Auflösung der Gesellschaft bedingte, und bei der Ohnmacht und Zersplitterung der natürlichen Stände treten dann auch hier die »unächten Stände,« namentlich ein kastenmäßig abgeschlossenes Beamtenthum, statt eines selbständigen, unabhängigen Bürgerstandes und ein machtloser Hof- und Titularadel, statt der grundbesitzenden Aristokratie in den Vordergrund.
Unter den dreißig Städtchen des Nassauer Landes sind fast die Hälfte in früherer Zeit fürstliche und gräfliche Residenzen gewesen, nicht nur mit Hofhaltungen, sondern auch mit Regierungscollegien ausgestattet. Die Erinnerung an diese Zeit ist noch nicht ganz erloschen, und wenn auch nur die verfallenen Schlösser und die verwitterten öffentlichen Gebäude wären, deren täglicher Anblick dieselbe wach erhält, und die diesen Städtchen in der That den äußern Anschein von etwas größerem geben, als sie wirklich sind. Es ist dadurch ein Zug der Bitterkeit, der gegenseitigen Eifersucht und des Neides bei den Bewohnern dieser ehemaligen Residenzen heimisch geworden, der dem Geiste des Particularismus im Particularismus, wie wir ihn eben in Nassau schildern, nicht geringen Vorschub leistet. Namentlich war es dieser Geist der Eifersucht, welcher mehr als alles andere den Einungsplänen der früheren Regierung entgegenarbeitete. Je mehr sich dieselbe bestrebte, das neu aufblühende Wiesbaden zum eigentlichen Mittelpunkt des Landes zu machen, desto höher stieg ein stillgenährter Groll gegen diese Stadt, die freilich eine sehr geringe historische Berechtigung hatte gegenüber vielen andern uralten Fürstensitzen des Landes. Und mit der Revolution brach diese unter der Asche glimmende Eifersucht zur hellen Flamme aus.
Sehen wir auf das geistige Leben, so erscheint uns die Zerklüftung schier noch größer. In früherer Zeit besaß das Land eine Akademie (welche der Nassauer gerne eine Universität nennt) in Herborn, und die Stadt hatte eine der ältesten und bedeutsamsten Buchdruckereien, ebenso wie das rheingauische Städtchen Eltville, aufzuweisen. Herborn war ein Sitz solider Gelehrsamkeit und wichtig für das Land. Seine Akademie ging ein, als der Umfang des nassauischen Gebietes an Quadratmeilen zwar zunahm, die politische Geltung aber zusammenschrumpfte. Denn dies ist gerade die wunderbarste Eigenthümlichkeit unserer Kleinstaaten, daß sie, wenn ihr Landbestand auch derselbe bleibt, doch von Jahr zu Jahr kleiner werden, weil nämlich die Welt größer wird, und der Blick des Menschen jetzt mit demselben Maß ein Landesgebiet ermißt, wie vordem eine Stadtgemarkung. Weilburg besaß eine vielhundertjährige, altberühmte lateinische Schule, die es zu einem Bildungsmittelpunkte für die Gauen weit und breit machte; die lateinische Schule ist zwar geblieben, aber so viele gleichgute sind ringsum erstanden, daß sie eben zu einer Localanstalt in einem kleinen Lande herabgesunken ist. Der Rheingau und das Lahnthal waren Brennpunkte mittelalterlicher Kunstthätigkeit, aber in dem Maß, als die geistlichen Reichthümer von Mainz und Trier aufhörten hieher zu fließen, erlosch dieselbe.
Die Kunst wie die höhere Wissenschaft erscheint in dem constitutionellen Kleinstaat als ein Ueberfluß, ein Luxusartikel, für den weder der Staat noch der Fürst Geld genug besitzt. Man wird kein neues Weimar im 19. Jahrhundert hervor zaubern können, die moderne Kunst ist zu theuer geworden für die Kleinstaaten. Hängt vollends die Pflege der Kunst von einer kleinstaatlichen Volksvertretung ab, dann ist gar alles verloren. Auch hier tritt dann der Particularismus im Particularismus hervor. Ein schlagendes Exempel erlebten wir im Jahr 1848 in der nassauischen Volkskammer, wo ein Abgeordneter erklärte, er stimme deßhalb nicht für einen Staatszuschuß zum Wiesbadener Theater, weil man die Erhaltung desselben als einer Kunst- und Bildungsanstalt befürworte. Er erläuterte hiezu, daß ja Wiesbaden bereits am meisten Kunst und Bildung im ganzen Land besitze, er könne daher nur für einen Theaterzuschuß stimmen, wenn man dieses Institut in denjenigen Theil des Landes, wo bis jetzt noch am wenigsten Kunst und Bildung vorhanden sey, nämlich auf den Westerwald, verlege. Diese Ansicht war ernstlich gemeint und der Abgeordnete wußte nicht, daß die Kunst sich selbst ewig fortbilde und von Einem Mittelpunkte einen weitern Umkreis überstrahle, und daß man nicht sagen könne, eine Stadt habe nunmehr genug Kunst, man müsse jetzt auch einmal einer anderen ein gleich großes Stück Kunst bringen und so weiter die Reihe um durch's ganze Land!
So fehlt es denn in fast allen solchen Kleinstaaten an jedem größeren Sammelplatze wissenschaftlichen und künstlerischen Strebens, und ganz in gleicher Weise wie der Gewerbestand verbauert ist und die Bauersleute mit der kläglichen kleinen Arbeit für des Leibes Nothdurft sich abquälen, ist auch die Geistesarbeit zur Kleinkrämerei heruntergedrückt. Da sich dem wissenschaftlichen Mann gar keine andere Aussicht eröffnet, als für den Hausbedarf einer eng begrenzten Amtsthätigkeit seine Talente und Kenntnisse zu vernutzen, so begreift sich's, daß ein weitgreifender wissenschaftlicher Drang ebenso wenig sich entfalten mag, als die große Speculation auf gewerblichem Gebiet. Als die Revolution einigermaßen diese Schranken niederwarf, und wenigstens hier und da höhere Ziele des geistigen Ringens eröffnete, da merkte man erst mit großem Schrecken, welch ein Mangel an hervorragenden Köpfen in diesen Ländern herrsche, und bei den Landtags- und Reichstagswahlen hatten oft die unbedeutendsten Leute ganz leichtes Spiel, weil auf weit und breit gar kein Nebenbuhler zu finden war. Namentlich vermißte man schmerzlich, daß der eigentliche Bürgerstand so wenig geistige Kräfte in's Feld zu schicken wußte, wodurch für die Wühlereien des Beamtenproletariates von vornherein der Boden gewonnen war.
Zur Verwirklichung eines großen und reichen constitutionellen Staatslebens stehen sich die Menschen in den kleinen Staaten viel zu nahe; jeder betrachtet den andern von dem bekannten Standpunkte des Kammerdieners, der an seinem Herrn keine Größe mehr entdecken kann. Im alten patriarchalischen Staate war dieses Nahestehen dagegen von entschiedenem Vortheil gewesen, da man ja ohnedieß das ganze kleine Ländchen nur als eine große Familie dachte. Bei unsern constitutionellen Zuständen suchte man geschlossene politische Parteien in den Kleinstaaten zu bilden und ward selbst in den aufgeregtesten Tagen nicht recht fertig damit.
Denn zu einer politischen Partei gehört doch auch, daß man einen Führer anerkenne, während in einem Kleinstaate, wie in einem kleinen Neste von einer Stadt, keiner dem andern die erforderlichen hervorragenden Eigenschaften zusprechen mag. Gelang es auch einer Partei in einer einzelnen Stadt etwa in einem Vereine ihre Kraft zu sammeln, dann brachte man es in der Regel wieder nicht zu Stande, daß sich ähnliche Vereine zum Anschluß in den übrigen Städtchen des Landes bildeten; denn dazu war die gegenseitige Eifersucht viel zu groß.
Die Kammern fanden auch schon hierdurch in den Kleinstaaten ungleich schwieriger die Wirksamkeit einer Gesammtvolksvertretung als in den größeren. Es ist leichter die preußischen Interessen einheitlich zu vertreten, als die waldeckischen oder hessen-homburgischen.
Wir begegnen in diesen kleinen Kammern einer solchen durch Jahr und Tag fortschwankenden Zersplitterung der Ansichten, daß eigentlich nie eine rechte Stimmenmehrheit vorhanden war. Die wichtigsten Fragen wurden mitunter dadurch entschieden, daß ein ober das andere Mitglied krank oder verreist gewesen, ja wohl gar, daß sich jemand eine Weile aus dem Saal entfernt hatte. So hing der Ausschlag fast immer an einer einzigen Stimme. Jeder Abgeordnete hatte die ganze Tasche voll von Sonderwünschen und Bedürfnissen seines kleinen Wahlbezirks, und nicht selten wurde dann im parlamentarischen Kleinhandel ein Zugeständnis; für die eine Gegend gegen ein Zugeständniß für die andere wechselsweise ausgetauscht. Dadurch spannen sich die Verhandlungen endlos fort, und die wichtigsten Staatsfragen blieben hängen, weil sich die Heerschaar der Localfragen immer wieder dazwischen drängte. Am schlimmsten kamen die Landeskassen bei diesem parlamentarischen Particularismus weg, indem sich die hunderterlei kleinen Verwilligungen für die einzelnen Gegenden und Einzelinteressen zu einer gewaltigen Gesammtsumme thürmten.
Die widerstrebenden Elemente in den künstlich zusammengesetzten Kleinstaaten glaubte man am besten dadurch verschmelzen zu können, daß man die natürlichen Besonderungen als gar nicht vorhanden ansah. Dies ist nicht der Weg der socialen Politik. So schnitt man in Nassau den ehemals unter geistlicher Herrschaft gestandenen Landestheilen ihr uralt heiliges Herkommen ab, verbot z. B. die Prozessionen, verletzte die katholische Bevölkerung durch die Art der Verwendung von allerlei aus den Säcularisationen geflossenen Geldern. Um diese Gebiete den andern zu verschmelzen, hätte man eben gerade ihr besonderes Volksthum bis zu einem gewissen Punkte gewähren lassen sollen. Man centralisirte die Gemeindeverwaltung, in welcher just die örtlichen Verschiedenheiten das größte Recht hatten, auf's strengste, konnte es aber nicht einmal dahin bringen, daß die Kronenthaler und die preußischen Thaler in dem kleinen Lande einerlei Curs gewannen, indem dieselben bis vor einigen Jahren nördlich der Lahn je um drei Kreuzer höher verausgabt wurden, als südlich dieses Flusses. Das nasse Maß wechselte trotz aller Verwaltungscentralisation durch alle Stufen, und war fast in jedem Städtchen ein anderes. Noch viel schlimmer stand es mit dem Fruchtmaß. Statt hier eine sehr wohlthätige Einigung herbeizuführen, begründete man z. B. eine höchst überflüssige Einheit des Kalenders, indem jeder Einwohner gezwungen ist, den sogenannten Landeskalender zu kaufen, und bis auf diesen Tag eine Visitation nach Neujahr von Haus zu Haus geht, um nachzufragen, ob man seinen Kalender auch richtig gekauft hat! Es bildet einen wahrhaft komischen Gegensatz, wenn man bedenkt, daß sich der Staat so viele Mühe gibt, sämmtliche Einwohner nach der nämlichen Kalenderausgabe ihre Zeitrechnung regeln zu lassen, während er auf einem Raume von 62 Quadratmeilen nicht weniger als siebenzehnerlei verschiedenes Fruchtmaß im Schwange gehen ließ, nämlich: zweierlei Mainzer Maß, Darmstädter, Friedberger, Frankfurter, Wetzlarer, Weilburger, Herborner, Dillenburger, Hachenburger, Herschbacher, Nassauer, Hadamarer, Dietzer, Limburger, Coblenzer und Bopparder Maß! Diese Maße unterschieden sich obendrein nicht bloß nach der Größe, sondern mehrentheils auch wieder nach ihrem Eintheilungsgrund, sie wurden demgemäß im Einzelnen wieder zerfällt nach dem System der Achtel, Malter, Virnsel, Mesten, Sester, Simmern, Kompf, Gescheid, Mäßchen, Minkel, Schoppen u. s. w., was dann schließlich zu einem babylonischen Wirrsal führte. Und trotz der centialisirten Verwaltung ist es doch erst in neuester Zeit möglich geworden, eine Einheit des Maßes herzustellen! Ja die Bureaukratie hatte im Gegentheil früher mitunter ihr sonderliches Wohlgefallen an derlei sinnloser Vielfältigkeit, während ihr die natürlichen Besonderungen ein Gräuel waren. Wie es eine Zeit gab, wo es in Deutschland für eine Art von Demagogie galt, auf Zoll- und Münzeinigung und dergleichen zu dringen, so in Nassau, wenn Einer über das bunte Farbenspiel dieser Schoppen und Malter Beschwerde führte. Als die frühere Abgeordnetenkammer den gleichmäßigen Curs des preußischen Thalers für das ganze Ländchen nicht ohne Kampf durchsetzte, galt dies als ein Triumph der Opposition, als ein Sieg der »modernen Ideen«!
»So schwer man es in einem Kleinstaate irgend einer bedeutenderen Persönlichkeit oder Thatsache machen wird, sich zur Geltung zu bringen, so blind hängt hier doch gemeiniglich der Autoritätsglaube an dem, was sich einmal einer gewissen Anerkennung erfreut. Es mag widerspruchsvoll erscheinen, aber es ist doch richtig: nicht sowohl der Freiheitsdrang war es, als vielmehr der pure Autoritätsglaube, das Gelüsten einer anerkannten Macht zu gehorchen, was die kleinen Staaten so rasch zu Anhängern der Revolution machte. Man konnte sich vorher die Möglichkeit einer solchen Staatsumwälzung gar nicht denken, darum war, als sie wirklich hereingebrochen, der Glaube an die Allmacht ihrer Triebkräfte ein unbegrenzter. Man hielt zu der Revolution nicht um der Freiheit willen, sondern aus Furcht vor ihrer Macht, d. h. man ward freisinnig aus Knechtssinn: man katzbuckelte vor den neuen Volksmännern, nicht weil man sie für besser gehalten hätte, als die Herren vom alten Regiment, sondern weil man sie für mächtiger hielt. In den größeren Staaten behielt die Regierung doch immer noch ein Stück ihres Ansehens, und der Glaube an ihre Macht war nicht ganz verschwunden; in den kleinen Staaten hatte die herrschende Gewalt mit dem ersten Stoß alle Autorität eingebüßt. Allein deßwegen waren die Männer der Revolution auch wiederum der gleichen Gefahr ausgesetzt. So lange die revolutionäre Stimmung oben war, regierte und verwaltete der Landtag, und die Ministerien konnten höchstens einen guten Rath geltend machen; als der Rückschlag des neu gekräftigten conservativen Sinnes eintrat, regierten wiederum bloß die Ministerien und die Kammer sank von selbst zu einem bloßen Beirath herab. Wozu nützte nun all der großstaatliche constitutionelle Apparat in diesen kleinen Ländern? Es waren bei diesem Wechsel der Macht keineswegs förmliche Verfassungsverletzungen hüben oder drüben vorgekommen, es war bloß die moralische Macht oder Ohnmacht gewesen, die zwischen beiden Extremen auf- und abgestiegen war. In Oesterreich und Preußen konnte die Krone in den schlimmsten Tagen doch immer noch auf das treffliche Heer weisen, das auch eine Art von Volksvertretung ist, und wenn revolutionäre parlamentarische Versammlungen auf das Recht des Aufruhrs pochten, dann war bei so ausgedehnten Ländermassen die Größe und die natürliche sociale Gliederung der Landesbevölkerung selber wieder das natürliche Hinderniß einer allgemeinen Volkserhebung. In Nassau dagegen konnte, als die Kammer herrschte, die Bevölkerung des ganzen Landes binnen zwei Tagen vor dem Hotel eines widerstrebenden Ministeriums versammelt werden, und als gegentheils das Ministerium oben war, bedurfte es nur eines telegraphischen Hülferufs nach Mainz, um mit ein paar Regimentern Reichstruppen die ganze widerspenstige Bevölkerung in die Tasche zu stecken. Da hört der Constitutionalismus von selber auf. So lange die nassauischen Soldaten in dem Revolutionsjahr in den einheimischen Garnisonen lagen, fehlte die Autorität, und es zeigten sich bedenkliche Symptome der Widersetzlichkeit, mancher Vers des Heckerliedes wurde gesungen, und die verblendeten badischen Republikaner glaubten, sie hätten deßwegen schon das ganze nassauische Militär in der Tasche. Als aber dieselbe Mannschaft gegen den badischen Aufruhr in's Feld rückte und zwischen preußische und hessische Truppen zu stehen kam, da ging ihnen wieder der Glaube an eine ganz andere Autorität auf, als diejenige war, der sie im Heckerlied gehuldigt, und sie schlugen kraft dieser Autorität den Freischaaren unbedenklich auf die Köpfe. Diese Mischung des neuen und des alten Autoritätsglaubens machte sich dann auch in ganz humoristischer Weise geltend, namentlich bei den Bauern, von denen nicht wenige nach der Republik verlangten, dazu aber auch den Herzog beibehalten wollten.
Aus allen diesen Thatsachen, welche das Mißverhältniß zwischen großstaatlichem Regierungswesen mit einem kleinstaatlichen Landesgebiet darlegen, läßt sich eine zwiefache Folgerung ziehen: Die wesentlich auf einen großen Staatsorganismus berechneten modernen Verfassungsformen sind in einem Kleinstaat nur dem Wortlaut, nicht der Sache nach, zu verwirklichen, und in Ländern so kleinen Umfanges kann nur die patriarchalische Regierungsform eine Wahrheit seyn. Nimmt man aber an, daß die patriarchalische Regierungsform in unsern Tagen eine Unmöglichkeit ist, dann muß man sich auch nicht scheuen, weiter zu folgern, daß auch die kleinen Staaten eine Unmöglichkeit geworden sind.