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Auf den ersten Blick erscheint alles deutsche Land in zwei große Massen der Bodenoberfläche getheilt: Tiefland und Hochland; Nieder- und Oberdeutschland.
Im Norden läuft die große uralische Niederung längs der Meeresküsten her und erstreckt sich in einer Breite von durchschnittlich vierzig Meilen in das Innere Deutschlands herein. Diese norddeutsche Tieflandszone nimmt etwa ein Drittel der Gesammtfläche Deutschlands hinweg.
Dann aber erhebt sich ein Bergwall, der bei den Oderquellen am Westende der Karpathen beginnend unter häufig wechselnden Formationen und Namen bis zu den Ardennen hinüberzieht, gegen Norden vielfach in das Tiefland eingreifend: die mächtige Schwelle Oberdeutschlands.
Dieser für die ganze Culturentwickelung Deutschlands so entscheidende Bergwall hat merkwürdiger Weise keinen gemeinsamen volksthümlichen Namen. Darin liegt ein tiefer Sinn. Denn eben dieses namenlose Gebirg sollte der eigentliche Grundbau der guten deutschen Mannichfaltigkeit und der schlimmen deutschen Zerstückelung werden. Die moderne Landeskunde hat die ganze Kette dagegen mit mancherlei volltönenden Namen getauft! ich nenne den gesammten über 130 Meilen langen Berggürtel kurzweg das deutsche Mittelgebirge.
Von da gen Süden steigt der Boden fortwährend. Massenhafte Hochflächen (wie in Bayern), massenhafte Gebirgsbecken (Böhmen) bilden den Uebergang zu den Alpen. Das eigentliche Oberdeutschland breitet sich vor uns aus, dessen Bodenfläche nur ausnahmsweise in tiefen Einschnitten unter 800 Fuß über den Meeresspiegel sinkt.
Dieses gebirgige Oberdeutschland könnte man – dem Boden nach – auch das alte Deutschland, Ur-Deutschland nennen; die erst viel später dem Meere entstiegene Tiefebene dagegen das neue Deutschland. Der Bevölkerung nach würde sich aber die Benennung umkehren müssen; denn im Norden strömen zuerst die Germanen ein, während in Oberdeutschland noch lange die Kelten sitzen bleiben.
Eine genauere Rundschau zeigt jedoch, daß Oberdeutschland wieder aus zwei grundverschiedenen Gebirgsgruppen besteht.
Der große nördliche Grenzwall, das namenlose deutsche Mittelgebirge, ist eine wahre Musterkarte der mannichfaltigsten Gestein- und Bodenarten; das südliche Hochgebirg dagegen mit seinen vorgeschobenen Hochflächen und Becken strebt nach einförmig massenhaften Gebilden. Dieser Unterschied ist im geologischen Bau wie in dem äußeren landschaftlichen Gepräge so groß, daß die massenhafte Hochgebirgszone oft weit mehr Aehnlichkeit zeigt mit der einförmig massenhaft angelegten Tiefebene des norddeutschen Küstenlands als mit den zerstückelten Formen des Mittelgebirges.
So kommen wir denn zu einer dreifachen Gliederung der deutschen Bodenoberfläche:
Das deutsche Tiefland. Das mittelgebirgige und das hochgebirgige Deutschland.
Das deutsche Tiefland ist vorwiegend Küstenland und schon hierdurch ganz besonders berufen zu Schifffahrt und Handel. Aber auch die Flußzüge bilden hier große, schiffbare Wasserstraßen. Fast in Parallelzügen strömen Niederrhein, Ems, Weser, Oder und Weichsel in ruhigem Strom und festen Bahnen dem Meere zu. Eine Flußschifffahrtslinie von mehr als 600 Meilen Länge erstreckt sich tief in's Land hinein. Hier fand also ein Handelsvolk den bereiteten Boden. Dagegen haben die Gewässer dieser Tiefebene sehr wenig Gefälle. Dies hinderte ein massenhaftes und allgemeines Gedeihen der Industrie. Dafür spricht schon die Geschichte der ältesten industriellen Anlagen: der Mühlen. Jahrhunderte lang hatte Mittel- und Oberdeutschland bereits Wassermühlen besessen, bevor man im norddeutschen Küstenlande den großen Fortschritt von der Handmühle zur Windmühle machte. Erst in der modernen Zeit beginnt die Kraft des Dampfes hier ausgleichend zu wirken.
Das mittelgebirgige Deutschland zeigt eine ganz andere Flußkarte. Hier ist ein nach allen Winden ausstrahlendes Netz von Flüssen und Bächen. Schifffahrt und Industrie theilen sich im Ausbeuten dieser Wassergefälle. Namentlich aber ließen die zahllosen, überallhin verbreiteten, kleinen und doch nutzbaren Wasserkräfte eine beispiellose Mannichfaltigkeit der industriellen Entwickelung zu. Am Rande des mitteldeutschen Bergwalles lagern die großen Steinkohlenschätze der Saar und Ruhr, der Eifel, des Thüringer Waldes, des Erzgebirges und Riesengebirges. Als Vorposten Mitteldeutschlands schiebt sich, auf diese Kohlenschätze gegründet, die Maschinenindustrie im Nordwesten weit in's Flachland vor. Während die Parallellinien der großen Ströme das norddeutsche Tiefland zu großen Massen vereinen, wird das mittelgebirgige Deutschland durch die planlos gekreuzten Thal- und Flußlinien zerstückt. Elbe und Rhein durchbrechen den ganzen Gebirgswall, Donau- Rhein- und Elbegebiet zieht gegeneinander und verschlingt sich ineinander. Darum sind hier jene berühmten Dachtraufen zu finden, von welchen das Regenwasser nach zweien Meeren abläuft, und die Bergköpfe, von welchen man in acht bis zehn deutsche Staaten hineinschauen kann.
Das hochgebirgige Deutschland läßt wiederum ein dem Norden verwandtes Gleichmaaß im Zuge der Flußlinien erkennen. Hier gibt es wieder eine einigende Hauptwasserstraße: die Donau. Fast in Parallelzügen fallen ihr die meisten größeren Alpenströme zu. Aber die meisten dieser wilden verheerenden Alpengewässer taugen weder zur Schifffahrt noch mögen sie sich dienstbar dem Gewerbe fügen. Sie verbinden die Gaue nicht, sondern schließen das Land in großen Massen ab. Der langsame Fortschritt, das reine Bauernleben zahlreicher Landstriche ist hier schon durch Berg und Fluß bedingt. Dagegen zieht im Südosten die Industrie in breiter, reicher Entfaltung durch Böhmen aus Mitteldeutschland herüber nach Oesterreich und bildet hier eine Enclave, die wie ein Gegenbild zu den westphälisch-niederrheinischen Industriestrichen am Saume der nordwestdeutschen Tiefebene erscheint.
Die Grenzlinien lassen sich überhaupt nicht überall mathematisch genau ziehen, und die Dreitheilung der Tiefebene, des mittelgebirgigen und hochgebirgigen Deutschlands läßt sich keineswegs durch drei Parallellinien auf der Karte darstellen. Wie das Mittelgebirg im Osten schmal anhebt, dann aber im westlichen Zug sich immer mehr gegen Norden und noch stärker gegen Süden verbreitert, so geht auch das mittelgebirgige Deutschland herauf bis zum Bodensee und in die nördliche Schweiz, herunter bis gegen Köln. Seine größte Ländermasse liegt in West- und Südwestdeutschland, während im Osten, in Obersachsen und Schlesien niederdeutsche und oberdeutsche Art ganz nahe zusammenrücken. Auf der Karte würde also das mittelgebirgige Deutschland fast wie ein Dreieck aussehen, dessen einer Winkel in Schlesien, der andere am Bodensee, der dritte an der preußisch-belgischen Grenze bei Aachen läge.
Der Bodenbildung entsprechen klimatische Unterschiede.
Die norddeutsche Ebene hat schwere, feuchte Luft, massenhaft gleichmäßigen Zug der Windströme, wie der Gewitter- und Nebelbildungen.
Im hochgebirgigen Deutschland dagegen herrscht dünne, trockene Luft vor, schroffer Temperaturwechsel, die schärfsten Gegensätze der Jahreszeiten, verheerende Gewitter- und Hagelgüsse. In beiden Zonen aber stählt der Kampf mit den Unbilden des Klima's den Menschen.
Das mittelgebirgige Deutschland weiß wenig von diesem Kampf. Hier gleichen sich die klimatischen Gegensätze aus, die milde weiche Luft der Thäler half wohl auch die Menschen behäbig, üppig und weich machen. Nur in den höheren Gebirgslagen wird man an die rauhe, sprunghafte, einen verzärtelten Körper aufreibende Witterung der süddeutschen Hochflächen erinnert.
Wie die Luft von den norddeutschen Küsten hinauf zum hochgebirgigen Deutschland stätig leichter und dünner wird, so nimmt auch die Durchschnittsziffer der Selbstmorde von Norden nach Süden stätig ab. Mecklenburg steht hier voran, dann folgt Preußen: dagegen kommen in Bayern und Oesterreich am wenigsten Selbstmorde vor.
Die Isothermen neigen sich im Osten Deutschlands gegen Süden herab und steigen im Westen gegen Norden auf. So erscheint also der Westen, das rheinische Land, die breite Basis des mitteldeutschen Dreiecks als das mit dem gleichförmig mildesten Klima gesegnete. Am frühesten der Cultur erschlossen, ist es zum Theil ebenso gründlich cultivirt als anderntheils auscultivirt.
Die Tiefebene des Nordens ist noch reich an unbedingten Oedungen, als Dünen, Mooren, Sümpfen, Haiden; nicht minder der hochgebirgige Süden, wo sich zu den Haiden und Mooren Schneefelder und nackte Felsengebirge gesellen. Dagegen sind im mittelgebirgigen Deutschland fast alle größeren Oedungen längst der Cultur gewonnen und absolute Wüsten gleich den Dünen und Schneefeldern sind massenhaft gar nicht vorhanden.
Im Norden treten die Wälder nicht nur in großen Massen auf, sondern auch die Art des Waldbestandes ist einförmig, vorwiegend in's Große und Ganze angelegt: große Nadelholz- und Birkenwälder im Osten, reine Buchenwälder in Holstein und Mecklenburg, reine Eichenbestände in Westphalen. Man kann Eiche und Buche immer noch die charakteristischen Waldbäume Norddeutschlands nennen, während sich im Mittelgebirg Nadelholz und Laubholz um den Vorrang streiten. Hier sind überhaupt die Wälder kleiner, zerrissener, die verschiedensten Baumarten wechseln in denselben; gemischte Waldbestände sind häufig. Freilich ist dies eine neuere Thatsache; denn vor anderthalbhundert Jahren herrschte auch im Mittelgebirg noch das Laubholz massenhaft und einseitig. Aber wie viel schärfer hat sich seitdem überhaupt die Dreitheilung im Bodenbau wie im Volksleben Deutschlands ausgeprägt! Die Uebergangsformen von Wald und Feldbau, in der Haubergswirthschaft, ferner von Forstwirthschaft und Forstgärtnerei, wie von Waldarbeit und gewerblicher Arbeit (im Eichenschälwald) finden im Mittelgebirg ihren Stammboden.
Dagegen sehen wir im hochgebirgigen Deutschland wieder massenhafte und einförmige Wälder. Entschieden überwiegt das Nadelholz. In zahlreichen Winkeln des Hochgebirgs wuchern die Bäume noch wie im Urwald und tausende von mächtigen Stämmen brechen vor Alter verwitternd in sich zusammen, bevor die Axt des Holzhauers sie erreicht.
Dieselben Gegensätze wiederholen sich auf anderen Gebieten der Pflanzenwelt. Man hat den allgemeinen Satz aufgestellt, daß in Norddeutschland die Flora ärmer sey an Gattungen, die Gattungen aber reicher an Individuen als in Süddeutschland. Dabei ist jedoch Süddeutschland, wie so oft, mit dem mittelgebirgigen Deutschland verwechselt. Der eigentliche Süden, die Zone der Hochflächen und Hochgebirge, zeigt wieder massenhaft gesellige Haidepflanzen, Alpenpflanzen, Sumpf- und, Moorpflanzen, Wiesenkräuter, wie die nach großen Gruppen vertheilten Gewächse der Wald- und Feldcultur: er ist also (mit Ausnahme der mildesten südlichen Hochgebirgsthäler) bei weitem nicht durch die auf kleinstem Raume mannichfaltigste Pflanzenfülle ausgezeichnet wie die Mittelgebirge. Unbedingt gilt dies namentlich von den Culturpflanzen.
Im Norden sehen wir ungeheure gleichförmige Getreidefluren, weitgedehnte Kartoffelfelder, große zusammenhängende Wiesengründe, Haiden, die auf viele Stunden Wegs mit geselligen Haidekräutern derselben Gattung überdeckt sind. Die gleiche Erscheinung wiederholt sich auf den südlichen Hochflächen und dem Waideland der Alpen. Im Mittelgebirgsland dagegen wechseln Brod- und Handelsgewächse und Obstbäume aller Art auf kleinstem Raume. In ganzen Gauen wird der Acker schier zum Garten. Nicht bloß die Bodenbildung, auch der damit zusammenhängende Gattungsreichthum der Flora lädt hier ein zur Kleingüterei, wie er andernseits wieder durch letztere zum Aeußersten erhöht wird. So konnte also in Mitteldeutschland der Ackerbau zu gartenmäßiger Vielgestalt gebracht werden, während er im Norden und Süden weit mehr durch die Massen seiner Produkte mächtig ist. Entsprechend haben die rohesten, ursprünglichsten Wirthschaftsweisen noch ihren Hauptsitz im Tiefland und im Hochgebirg: Waidewirthschaft oder Graswechselwirthschaft geht durch fast alle norddeutsche Küstenländer, wie durch die Alpenstriche, die alte Dreifelderwirthschaft herrscht noch immer in Bayern, Oesterreich, Böhmen, einem großen Theile von Preußen, Hannover und Braunschweig. Dagegen ist die vollendetste, geschulteste Bauart des Fruchtwechsels recht eigentlich in Mitteldeutschland zu Hause: Sachsen, das südliche Westphalen und Schlesien, die Pfalz, Württemberg und Baden gehen hier voran im durchgebildetsten landwirthschaftlichen Betrieb.
Als Parallele dazu kann man anführen, daß auch die älteste, roheste Betriebsart des Waldbaus, die Fehmel- oder Plänterwirthschaft nur allein im Hochgebirg und einzelnen unbedingten Waldstrichen der Meeresküste ihr Recht nicht nur behauptet hat, sondern behaupten muß. Denn der Kampf mit der Natur zwingt hier, wie beim Ackerbau, zum einfachsten aber auch unergiebigsten Wirthschaftsverfahren.
Im Nordosten strömen die deutschen Stammvölker in die Tiefebene ein und bilden dort für viele Jahrhunderte ein Hinterland des rohen, ursprünglichen deutschen Volksthumes.
Im Südwesten dagegen stößt deutscher Naturwuchs zusammen mit römischer Cultur. Hier bildet sich der eigentliche Heerd der mittelalterlichen Gesittung, in welcher germanische und romanische Eigenart verschmolzen erscheint. Das südwestliche Mitteldeutschland wird die bewegende deutsche Culturmacht des früheren Mittelalters. während die Bewohner des Rheingebiets, siegend oder besiegt, im Kampfe mit höher civilisirten Völkern deren Gesittung aufnehmen und weiterbilden, erprobt sich die Naturmacht des deutschen Volksthumes im Norden und Südosten gegen barbarische Völker, von denen wenige oder gar keine Bildungselemente in jene Gaue einströmen konnten.
Das entscheidende deutsche Culturvolk des früheren Mittelalters, die Franken, übernimmt die große Rolle der Verschmelzung deutschen und romanischen Wesens je mehr es aus seinen ursprünglichen nordwestlichen Sitzen heraufsteigt zum Nieder- und Mittelrhein. Der Geist der Wildniß, zugleich aber auch der strengen, harten germanischen Eigenart, weicht von ihm, so wie es aus den Marschen des Küstenlandes dem Zauberbanne des mittelgebirgigen Westdeutschlands näher rückt. Wie ein Keil schieben sich die Franken zuletzt in das mittelgebirgige Deutschland selbst hinein und Klodwig legt schon am Mittel- und Oberrhein den Grund einer neuen fränkisch-deutschen Cultur.
Die mächtigen Nebenbuhler der Franken in unserer älteren Culturgeschichte, die Gothen, kommen hier nicht in Betracht, weil ihre Sitze außerhalb der Grenzen des späteren Deutschlands fallen, und weil sie ihr Volksthum auch nicht zum Theil wenigstens, gleich den Franken, selbständig zu bewahren wußten, sondern es ganz hingegeben haben in den großen Zersetzungsproceß mit dem Wesen der besiegten Romanen.
Karl der Große gründete den Stuhl seiner Weltmacht im westlichen Mitteldeutschland. Durch ihn wird der Rhein erst recht der König der deutschen Flüsse. Die dichterische Feier rheinischer Natur, rheinischen Geistes, rheinischer Sage und Geschichte zieht sich von da an durch alle Zeitstufen unseres Volkslebens. Die Heimwehseligkeit nach dem Rhein, die den Deutschen auch dann so oft beschleicht, wenn er kein Rheinländer, ist zugleich das Heimweh nach der verklungenen Herrlichkeit der poetischen Jugendtage unserer nationalen Macht. Und diese Jugendgeschichte ist überwiegend eine mitteldeutsche, eine rheinische Geschichte bis zu den Tagen der Hohenstaufen – oft auch nur ein rheinisches Mährchen.
Dem vielfach gemischten deutschen Culturvolk der Franken steht im Norden das rein germanische Naturvolk der Sachsen gegenüber, während im Südosten noch der deutsche Boden den aus Ungarn andringenden Barbaren abgerungen werden muß. In den Glaubens- und Nationalitätskämpfen Karls des Großen im deutschen Norden und Südosten sind es bereits die Vorgebilde der später immer kräftiger entwickelten deutschen Volksdreiheit, welche auf einander stoßen.
Mit dem Erlöschen der karolingischen mitteldeutschen Großmacht schiebt sich der Schwerpunkt des kaiserlichen Regiments wie der Culturblüthe auf längere Zeit von der westlichen Basis des mitteldeutschen Dreiecks gegen das Innere unsers Mittelgebirgslands vor. In dem Jahrhundert der Herrschaft der sächsischen Kaiser werden in Thüringen und Obersachsen neue Herde der Gesittung und Staatsmacht gegründet; dieses Land wird nun erst recht hineingezogen in die Individualisirung des mitteldeutschen Volkslebens. So geht es weiter bis in die Mitte des dreizehnten Jahrhunderts. Durch Thüringen und Sachsen zum Rheine geht die Achse der großen Culturentwickelungen und mit den Hohenstaufen wird im mittelgebirgigen Deutschland zum letztenmale das bewegende Centrum unserer nationalen Macht aufgestellt.
Greifbar hat sich die Geschichte der alten Culturmacht Mitteldeutschlands verkörpert in den Baudenkmalen. Denn die Baukunst des Mittelalters war wie keine andere an den Zusammenhang von Land und Leuten gebunden.
Die älteste deutsch-romanische Architektur der karolingischen Zeit hat ihre Werke am Rheine gegründet. Dann aber verdeutscht sich der Basilikenbau des romanischen Styles immer mehr, je entschiedener die Architektur zur Zeit der sächsischen Kaiser nach Sachsen und Thüringen hinüberdringt. Die kunstgeschichtlich wichtigsten Denkmale reihen sich hier genau an die Mittelgebirgszone: der Harz und der Thüringerwald bilden auch in der Geschichte der Architektur die Brücke zum Norden für das am Rheine erweckte Kunstleben. Dann fluthet zur Zeit der fränkischen Heinriche und der Hohenstaufen der Strom der künstlerischen Entwickelung wieder zurück zum Südwesten, um auch die Binnengaue am Obermain, in Hessen, in Schwaben befruchtend zu erfüllen. Die höchste Blüthe des romanischen Styles und die keusche Frühblüthe der Gothik gehört nicht mehr bloß dem Rheinthal an, sondern dem ganzen weiten Rheinstromgebiet sammt den in's Mittelgebirge verflochtenen Wassernetzen der Donau, Weser- und Elbe – dem ganzen mittelgebirgigen Deutschland, aber die eigentliche Basis bleibt doch auch hier immer noch die Rheinlinie. Mit dem Schlusse des dreizehnten Jahrhunderts hat das Mittelgebirgsland seine volle Individualisirung erreicht, seine Culturmacht nach allen Seiten entfaltet und fortgepflanzt. Darum beginnen jetzt die zwei andern großen Gruppen deutscher Landes- und Volksart in den Vordergrund zu treten.
Schon lange hatte sich im Stillen die kriegerische, gesammelte, unabhängige Macht der östlichen Markgrafen gefestet. Die Kreuzzüge machen das südöstliche Donau- und Alpenland zur großen Bühne des Zwischenhandels im orientalisch-nordischen Weltverkehr. Mit Rudolph von Habsburg hört Mitteldeutschland auf, die Basis der kaiserlichen Hausmacht zu bilden und das Ostreich im hochgebirgigen Süden tritt in diese Rolle ein. Böhmen greift mitentscheidend herüber in die deutschen Geschicke. In der norddeutschen Tiefebene wird die Hansa zu einer neuen Großmacht des deutschen Handels, der deutschen Kriegs- und Seetüchtigkeit und des Städtebürgerthums. Die Hansa und die großen landesherrlichen Städte des Nordens concentriren das Land. Der zersplitternde innere Zwist der Geschlechter und Zünfte, dann der Städte und Fürsten berührt das mittelgebirgige Südwestdeutschland am tiefsten, den hochgebirgigen Süden und die nordische Tiefebene dagegen nur wenig. Im Nord- und Südosten dringt jetzt deutsches Volk, niederreißend und erbauend zugleich, in die Slavenländer; im Südwesten dagegen verhält sich alsbald das deutsche Volksthum nur noch vertheidigend und abwehrend gegen das centralisirte Frankreich, um zuletzt die wichtigsten Grenzstriche demselben preiszugeben.
Auch hier versinnbildet uns die Entwickelung der Architektur den Umschwung in der politischen und Culturmacht. Im vierzehnten Jahrhundert erst erhält das Ostseeland seine eigensten Baudenkmale in den strengen, schlichten, oft massenhaft gewaltigen und kühnen Kirchen- und Schlösserbauten dieses weiten Striches, die unter sich ebenso nahe verwandt sind als grundverschieden von der mitteldeutschen Gothik.
So war Mitteldeutschland am frühesten mächtig, am frühesten durchgearbeitet und gegliedert, aber auch am frühesten zerstückt und als selbständige Macht aufgelöst.
In tausend Einzelzügen aus der Geschichte der alten Zeit bis herab zu unsern Tagen ließe sich dieß noch weiter ausführen.
Der Erfolg liegt jetzt vor Aller Augen. Im nördlichen Tiefland und in der süddeutschen Hochgebirgs- und Hochflächenzone haben die großen und mittleren Staaten Deutschlands die Pfeiler ihrer Macht gefunden. Die städtischen Mittelpunkte des Großhandels, der Kunst und Wissenschaft, der modernen landesherrlichen Macht und theilweise auch der Industrie, sind immer umfangreicher und bedeutsamer im centralisirten Süden und Norden erwachsen, während uns in Mitteldeutschland weit mehr die Vielgestaltigkeit, Geschmeidigkeit und Zerfahrenheit als die Machtfülle des deutschen Culturlebens entgegentritt.
So charakterisirt es gegenwärtig schon den deutschen Norden und Süden, daß er im Eisenbahnnetz die größten und wichtigsten Linien des Weltverkehrs besitzt, während das mittelgebirgige Land ein weit reicher gekreuztes Eisenbahnsystem des Ortsverkehrs aufzeigt, die meisten Linien und die größten Strecken der Schienenwege auf kleinem Raum.
Wie man unbedingte und bedingte Oedungen unterscheidet, Landstrecken, die überhaupt nichts Nutzbares erzeugen können, und Striche, die einstweilen noch wenig oder nichts erzeugen, so gibt es auch Gegenden, die für immer nur eine ganz magere Bevölkerung besitzen werden und solche, die aus historischen Gründen einstweilen noch dünn bevölkert sind.
Unbedingt volksleere Gegenden fallen bei uns mit den unbedingten Oedungen zusammen: sie gehören dem Hochgebirg, den culturunfähigen Geröll- und Sandwüsten des Südens und Nordens an. Im mittelgebirgigen Deutschland finden wir auf den wasserarmen Flächen der Jurakalkgebirge, aus den Haiden des westlichen Basaltgebirgsgürtels u. s. w. Landstriche, die zur Zeit nur eine dünne Volksmasse ernähren, früher dagegen theilweise schon weit dichter bevölkert waren und überhaupt zu einer dichteren Bevölkerung durchaus nicht schlechtweg ungeeignet sind, Mitteldeutschland ist überall fähig einer dichten und dichtesten Bevölkerung, Nord- und Süddeutschland nicht überall.
Mitteldeutschland besitzt aber auch jetzt schon im Großen und Ganzen weitaus die dichteste relative Bevölkerung. Abgesehen von den überall am stärksten bevölkerten Gebieten der großen Städte, zeigen die an der Schwelle des Mittelgebirges gelegenen Industriebezirke bei Düsseldorf, dann einige mittelrheinische und obersächsische Striche (namentlich Rheinhessen und der Kreis von Zwickau) die stärkste Bevölkerung. Hier wohnen zwischen 9-10,000 Menschen auf der Geviertmeile. Das Königreich Sachsen hat überhaupt die Durchschnittszahl von mehr als 7000 Bewohnern auf die Quadratmeile. In Hessen, der Rheinpfalz, Rheinpreußen, Baden, Württemberg und den thüringischen Landen geht diese mittlere Zahl durchaus über 5000. In Böhmen und Oesterreichisch-Schlesien sinkt sie schon auf 5000 herab, in Altbayern auf 2000-2500, in Salzburg, Tirol und Kärnthen auf 1100-1700; desgleichen in Oldenburg, Hannover, Mecklenburg und den nördlichen und östlichen preußischen Regierungsbezirken auf 1800-2800. So erhalten die Hauptstaaten der norddeutschen Tiefebene und der südlichen Hochgebirgszone, Preußen, Oesterreich und Bayern, obgleich sie theilweise bedeutend in reich bevölkertes Mittelgebirgsland hinübergreifen, doch nur eine Durchschnittsziffer von 3-4000 Köpfen auf die Geviertmeile, während diese Zahl bei den mitteldeutschen Staaten 5000 übersteigt. In der niedrigsten Ziffer trifft hier wieder der äußerste Norden mit dem äußersten Süden zusammen, indem in einigen westpreußischen und pommer'schen Bezirken, wie in einigen Gegenden Tirols nur 800-1000 Menschen auf der Quadratmeile wohnen.
Dagegen ist Niederdeutschland wie das hochgebirgige Oberdeutschland gegenwärtig durch einen viel stärkeren Volkszuwachs ausgezeichnet vor der Mittelgebirgszone. Ja es erfolgt durch die massenhafte Auswanderung sogar eine Abnahme der Volkszahl in einigen mitteldeutschen Gegenden. Im Norden hat das Auswanderungsfieber nur in Holstein und Mecklenburg festen Fuß gefaßt: im ersteren Lande wohl überwiegend aus äußeren, politischen Gründen; in Mecklenburg dagegen aus socialen. Denn kein anderes Land der Tiefebene erinnert durch seine sociale Verwirrung so bedenklich an mitteldeutsche Zustände, wie Mecklenburg.
Bemerkenswerth dürfte dem Social-Politiker wohl auch erscheinen, daß im mittelgebirgigen Deutschland die meisten Juden wohnen (trotz der sehr kleinen Judenschaft der sächsischen Länder); das geringste Procent der Gesammtbevölkerung bilden dagegen die Juden in Nord- und Süddeutschland, trotzdem, daß hier wiederum Posen und die Provinz Preußen mit ihrer sehr starken Judenschaft ausgleichend in die Wagschale fallen. Die äußersten Punkte sind auch hier durch das nordische Küstenland, das südliche Hochgebirg und das rheinische Mitteldeutschand bezeichnet. In Steyermark nämlich und in Oesterreich ob der Ens gibt es gar keine Juden, in Tirol kommt auf nahezu 3600 Einwohner nur ein Jude, im Regierungsbezirk Stralsund einer auf 1180. Dagegen bilden die Juden in Hessen ein Vierundvierzigstel der Volkszahl, im mittleren Westdeutschland überhaupt ein Sechsundvierzigstel, im Südwesten ein Siebenundsiebzigstel. Wo die Juden massenhaft sitzen, da sitzt fast allemal das Gesammtvolk staatlich und wirthschaftlich zersplittert. Das Kleinkapital des kleinen Schacherjuden läuft viel lustiger um im buntscheckigen Mittelland bei den Städtebauern und Dorfbürgern, als im Hochgebirg und der Ebene beim ächten Bauersmann.
Diese Thesen von der Landes- und Volksdreiheit Deutschlands lassen sich noch bedeutend vermehren. Ich begnüge mich hier nur mit den einfachsten Grundzügen. Die folgenden Abschnitte bringen in einer freieren und mehr künstlerischen Form weitere Studien, namentlich in Betreff jenes dreifachen Gegensatzes, der sich durch die innere Welt des socialen und religiösen Volkslebens zieht, wie in der äußeren Staatenbildung.
Nur gegen zwei Mißverständnisse möchte ich mich hier noch von vornherein verwahren. Erstlich nehme ich den Ausdruck »Mitteldeutschland« stets als gleichbedeutend mit dem »mittelgebirgigen« Lande, wie es sich in dem oben beschriebenen Dreieck von Schlesien und Sachsen hinüberzieht bis an den Niederrhein und in die westliche Schweiz, so daß Thüringen und Obersachsen nicht sowohl als Centrum, denn als Spitze und Uebergangsgebiet dieser Gruppe erscheint. Zweitens finde ich die »Zerrissenheit« dieses Mittellandes nicht bloß darin, daß einzelne Striche wirklich in socialer Auflösung und politischer Zerstückelung sich verfangen haben, sondern daß auch die besten Elemente ächten deutschen Volksthums hier vielfach noch inselartig eingesprengt liegen zwischen Gegenden, die nur noch ein zersetztes verwitterndes Volksleben zeigen. Der Mangel an innerer Einheit, die Individualisirung im Guten und Schlimmen spricht sich also für Mitteldeutschland auch darin aus, daß auf kleinen Strecken (z. B. im Altenburgischen) noch ein festgeschlossenes, alterthümliches Bauernthum in der Nachbarschaft von modernisirten Bauern sitzt, daß in einzelnen Strichen, ja in vereinzelten Dörfern, noch strenger Kirchenglaube herrscht neben kirchlicher Gleichgiltigkeit. Ich verstehe unter Individualismus eben nicht eine besonders neumodische Sitte und Art, sondern jene bunte Musterkarte des Volkslebens auf engem Raum, in welcher - grundverschieden vom Norden und Süden – überall Neues und Altes, Fremdes und Eigenes, Gutes und Schlimmes sich kreuzt und entgegensteht. Darum findet man allerdings norddeutsche und süddeutsche Elemente ganz bestimmt, ja hier und da in örtliche Selbständigkeit abgeschlossen, auch im mittleren Lande; aber für das Ganze maßgebend bleibt dann um so mehr die Auflösung, Vielfarbigkeit und innere Zersplitterung dieser Gruppe, die freilich nicht klar wird, wenn man den Blick lediglich auf einzelne kleine Landstriche heftet, sondern wenn man die ganze Gruppe vergleicht mit den für den Social-Politiker in's Massenhafte geeinigten Ländern der norddeutschen Tiefebene und der südlichen Hochgebirgszone.