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Auf der Schauseite norddeutscher Bauernhäuser steht der Spruch zu lesen:
»Wat frag' ick na de Lü! –
Gott helpet mi!«
Dieser auserlesen schöne Sinnspruch spiegelt das stolze Selbstbewußtseyn des norddeutschen Volkes. Im individualisirten Mitteldeutschland, dessen Dome und Burgen, dessen in modernem Glanze gebauten Stadtdörfer die niedrigen, namenlosen norddeutschen Bauernhäuser so hoch überragen, fällt doch schon längst keinem Bauern mehr so ein stolzer Kraftspruch ein, daß er ihn heute noch über seine Hausthüre schriebe. Das norddeutsche Volk ist stolz auf seine Eigenart, es »fühlt sich« in derselben: das süddeutsche nicht minder, wenn es gleich sein fröhliches Heimathbewußtseyn nicht in so ausschließender, vordringender Art auszusprechen pflegt, wie das norddeutsche. Das mitteldeutsche Volk dagegen hat seinen Stolz verloren, es schämt sich vielfach der eigenen Sitten und schwört dieselben ab.
Seit dem allmähligen Verfall des alten deutschen Reiches hat sich diese natürliche Dreitheilung Deutschlands, die im Boden und Volksstamm wie im daraus erwachsenen socialen Lehen ihre Grundlagen hat, immer deutlicher herausgebildet. Die Politische Trias kommt hinzu, diese Gruppen noch schärfer zu umreißen. Der alten Zeit war der Gesammtbegriff eines »Norddeutschland,« wie wir ihn fassen, fremd, am allerwenigsten war er in's Volksbewußtseyn übergegangen. Letzteres geschieht jetzt mehr und mehr, fast jeder Tag bringt uns Belege dafür. In der Natur des Landes war diese Dreitheilung von Anbeginn vorgezeichnet, allein eine politische Möglichkeit ist sie erst geworden durch den Verfall des deutschen Reichs und das Emporwachsen Oesterreichs und Preußens zu selbständigen Großmächten. Als Denkmal von dem Verfall des deutschen Reiches ist Mitteldeutschland stehen geblieben mit seinem sich selbst zersetzenden, in's Kleinste getriebenen Sonderleben, mit seiner Politischen Zerrissenheit, mit seinem übercultivirten Volk, mit seiner Auflösung der natürlichen Gesellschaftsgruppen, aber auch mit seiner rastlosen Einzelbetriebsamkeit, mit seinen tausend Ruinen alter Pracht und alter Macht. Es zeigt uns was ganz Deutschland geworden wäre, wenn nicht im Süden und Norden eine großartige politische und sociale Einung Raum gewonnen hätte.
Das Glück und das Genie, mit welchem preußische Fürsten in den letzten Jahrhunderten die Auflösung des deutschen Reiches für ihre Hausmacht ausnützten, gewann ihnen nicht bloß diesen neuen norddeutschen Großstaat Preußen. Trotz der geographisch heute noch so ungünstigen Abgrenzung des preußischen Landes wuchs dazu auch ein preußischer Gemeingeist im Volke groß. Man spricht sogar von einem preußischen »Nationalstolz,« obgleich es eigentlich gar keine preußische »Nation,« sondern nur ein preußisches Volk gibt. Wohl aber gibt es einen deutschen Nationalgeist des Norddeutschen, der sich politisch vertreten weiß in Preußen, und mit dem fabelhaften Aufblühen des neuen Großstaates Preußen wuchs auch schrittweise dieser norddeutsche Nationalstolz wieder auf. Der bindende Kitt, welcher für das norddeutsche Volk des Mittelalters die Hansa gewesen, ist für das moderne Norddeutschland Preußen. Die preußische Rheinprovinz, die ihrem größten Theile nach geographisch, ethnographisch und social zu Mitteldeutschland gehört, wird durch das Massengewicht der preußischen Hauptlande schrittweise für Norddeutschland erobert. Trotz des Widerstrebens im Volke ist hier binnen wenigen Jahrzehnten ein ungeheurer Umschwung in den Sitten und im politischen Geiste angebahnt worden, ja selbst der Dialekt der Gebildeten verberlinert merklich. Geht es so fort, dann wird binnen hundert Jahren die Rheinprovinz einen wesentlich neuen, einen überwiegend preußisch norddeutschen Charakter haben. Andererseits dringt aber auch in dem südlichsten Winkel des deutschen Westens, in Baden und Württemberg, das mitteldeutsche Wesen immer entschiedener vor, das alte Schwaben, vor Zeiten das Kernland des deutschen Südens, ist nicht bloß politisch, sondern auch social in Stücke gegangen. Es fehlt bei jenen beiden Staaten der Rückhalt einer großen von Natur gefesteten Volksgruppe, wie sie für Preußen in der Mark, in Pommern u. s. w., für Bayern in Altbayern und bayerisch Schwaben, für Österreich in dem weitgedehnten Gebiet seiner Hochgebirgsländer gegeben ist. Und gleichwie sich die hannoverische, mecklenburgische, oldenburgische Bevölkerung in der neueren Zeit enger als je zuvor mit dem preußischen Volke verbunden weiß, so ist es auch trotz noch nicht verjährten politischen Grolles mit den Bayern und Oesterreichern geschehen. Beklagt man auch in Bayern die Zugänge der österreichischen Staatslenker, so vergißt doch das Volk seine Verwandtschaft mit dem deutschen Oesterreich in Stamm und Sitte nicht. Politisch waren beide Völker häufig Gegner, social fühlten sie sich immer als Vettern, und wenn der Gegensatz zu nord- und mitteldeutscher Art daneben stand, sogar als leibliche Brüder. Dem individualisirten, confessionell gemischten württembergischen und badischen Volke dagegen erscheinen die mitteldeutschen Nachbarn im Allgemeinen weit verwandter als das große Centralland des deutschen Südens, Oesterreich.
Die drei Gruppen also haben ihre Vermittelungen und Uebergänge: nicht ausschließende, sondern nur entschieden vorwiegende Eigenthümlichkeiten bestimmen ihren socialen Charakter. Aber dem Wesen nach besteht dennoch die dreifache Gliederung. Man kann jetzt nur erst ihre ungefähren Grenzen ziehen, allein diese Scheidelinien werden immer bestimmter werden, je thatkräftiger das sociale Leben überhaupt sich weiter entwickelt. Und dazu sind wir auf dem geradesten Wege.
Gegenwärtig sucht namentlich Mitteldeutschland noch sich selber. Es wird sich aber finden. Je tiefer der Gedanke einer socialen Politik in das Volksbewußtseyn dringt, je klarer die Thatsache wird, daß ein nach kleinen Häuflein abgesondertes Volk in ganz anderer Art sich hervorbildet, als ein nach großen Massen gegliedertes, um so deutlicher weiden die Grenzen dieses gesuchten Mitteldeutschlands an's Licht treten. Wenn das zähe Festhalten an überlieferten Sitten und das bewegliche Wechseln derselben, das Vorwiegen des großen Grundbesitzes oder der Kleingüterei, die Scheidung von Stadt und Land oder die Verwischung dieses Gegensatzes, das Vorhandenseyn oder die Abwesenheit einer social eigengearteten grundbesitzenden Aristokratie, die Bewahrung oder die Ausebnung der uralten natürlichen Ständeunterschiede, der Gegensatz eines vielfältig noch neu zu bauenden und eines bereits ausgebauten Landes, – wenn diese und hundert ähnliche Gegensätze Land und Leute in socialem Betracht sondern können, dann besteht auch jenes gesuchte Mitteldeutschland.
Die Geographen sind bekanntlich uneinig über die Grenzlinie zwischen Nord- und Süddeutschland. Der Stein des Anstoßes ist eben Mitteldeutschland; sie wissen nicht, ob sie es zum Norden oder zum Süden rechnen sollen. Das Volk aber ist hierüber gleichfalls noch uneinig und unklar. Denn Mitteldeutschland ist der Uebergangspunkt, wo die bestimmten leicht greifbaren Gegensätze des deutschen Wesens zusammenstoßen, sich kreuzen, verwischen und aufheben. Es läßt sich leichter bestimmen nach dem was es nicht ist, als nach dem was es ist. Es ist in dieser Beziehung vergleichbar dem »vierten Stande« in der bürgerlichen Gesellschaft, der tatsächlich vorhanden, aber noch nicht abgeschlossen ist, dessen flüssiges Wesen die scharfe Grenze des Begriffes flieht, der im Einzelnen nur die Elemente der modernen Stände in sich enthält, als Ganzes aber doch neu und eigenartig erscheint.
Weil in Mitteldeutschland die widersprechendsten Charakterzüge des deutschen Volkslebens zusammengedrängt und unter einander gemengt sind, so liegt die Versuchung nahe, diese bunte Encyklopädie unserer Gesellschaft für die bürgerliche Gesellschaft von ganz Deutschland zu nehmen. In diesem einseitigen Verfahren sind sehr viele ehrlich liberale Politiker befangen. Dasselbe gewinnt um so mehr den Schein für sich, als in der Thal eine große und reiche Periode unseres nationalen Lebens noch nicht weit hinter uns liegt, in welcher unsere ganze literarische Bildung wesentlich von denselben Elementen durchdrungen und getragen war, welche auch das mitteldeutsche Volksleben tragen und durchdringen. Der Humanismus, der die religiösen Gegensätze verwischt oder übersieht, die Standesunterschiede ausgeglichen denkt und sich um die gewaltigen Trümmer der alten rohen, naturwüchsigen Volksgebilde nicht kümmert, fand sein leibhaftes Leben in den Gesellschaftszuständen der mitteldeutschen Kleinstaaten. Es ist darum auch mehr als eine abgedroschene Phrase, wenn man seiner Zeit das »im Herzen« Mitteldeutschlands gelegene Weimar das »deutsche Athen« und Leipzig klein Paris genannt hat. Unsere klassische Literaturepoche gehört vorwiegend Mitteldeutschland an. Wien zählte kaum; Berlin war beim Beginn des Jahrhunderts noch eine Art literarischer Vorstadt von Weimar, Jena, Leipzig, Göttingen und all den andern kleinen Centralpunkten mitteldeutschen Geisteslebens. Selbst in den geistlichen Staaten und den »finsteren Pfaffenstädten« am Rhein und Main herrschte damals ein Geist der Aufklärung und des Weltbürgerthums, von dem man in den uralt freien Marschen unsers Nordens und in mancher weiland republikanischen Hansestadt wenig oder nichts wußte, und welcher der weitaus größten Ländermasse des centralisirten deutschen Südens bis auf diese Stunde fremd geblieben ist. Darum vergaß man aber auch bei der Schätzung der geistigen und gesellschaftlichen Nationalzustände diese Barbaren am Meere und im Hochgebirg. Trotz seiner politischen Ohnmacht war Mitteldeutschland durch einen großen Theil des achtzehnten Jahrhunderts tonangebend für das lediglich mit literarischem und künstlerischem Maße messende Urtheil über unser gesammtes Culturleben. Die brennende Streitfrage unserer Zeit, ob die deutsche Gesellschaft bereits ein gleichheitlicher Molluskenbrei oder noch immer ein gegliederter Körper sey, diese Streitfrage mit all ihren Konsequenzen ist ein Kampf des deutschen Nordens und Südens zur Freimachung von der socialen Oberherrschaft Mitteldeutschlands. Vom Norden und Süden, wo noch die großen Wälder, Sümpfe und Berge sind, kam die deutsche Reaction. Ist nicht in Norddeutschland dermalen das Hauptquartier der Junker und Aristokraten, der Männer der Stände und Körperschaften, der Frommen und Strenggläubigen, der protestantischen Missionleute, der Treubündler, der Männer des christlichen Staates? Sitzen nicht im Süden die Ultramontanen, die mönchischen Maler, die Schutzzöllner, die Zunftleute, die schwarzgelben Monarchisten? In Norddeutschland ist heute noch ein Streit auch der politischen Parteien vorhanden, der sich um große Fragen dreht. In Mitteldeutschland hat man die großen Fragen schon längst mit den kleinen und kleinsten vertauscht. Das Alles wäre nicht so gekommen, wenn die »barbarischen« Hinterländer des deutschen Nordens und Südens nicht gleichsam neu wieder entdeckt worden wären auf der socialen Karte von Deutschland. Wäre die neueste Reaction aus Süden und Norden bloß eine Reaction der Regierungen, der Parteien, oder gar, wie man es gerne darstellt, eine Gruppe von Schulpolitikern gewesen, sie würde ohnmächtig geblieben seyn. Sie war aber zugleich eine Reaction aus dem Volke, eine gesellschaftliche Reaction, und soweit sie das letztere ist, hat sie nichts Verlebtes wieder aufgefrischt, sondern sie sucht Lebendes, aber Vergessenes und Zurückgeschobenes wieder zu seinem Rechte zu bringen Und bekundet hiemit auch das Wesen eines wirklichen Fortschrittes.
Im Norden wie im Süden Deutschlands hat übrigens die sociale Centralisirung keineswegs die berechtigten örtlichen Besonderheiten vernichtet. Einigung und Uniformität ist Zweierlei.
Schon die Musterkarte der Volksdialekte, die an den Meeresküsten nicht minder bunt ist als in den Alpen oder den Mittelgebirgen, verkündet, daß unser Volksthum noch nirgend uniform geworden. Allein die niederdeutschen und oberdeutschen Mundarten haben noch eine Einheit, die mitteldeutschen kaum mehr. Schon in dem oberflächlichen Gesammtnamen des »Plattdeutschen,« so reich sich auch dasselbe im Einzelnen wieder abstuft, ist der Gedanke eines herrschenden Grunddialekts für ganz Niederdeutschland ausgesprochen. Für die obersächsischen, thüringischen, fränkischen, pfälzischen Mundarten Mitteldeutschlands ist eine solche Gesammtbezeichnung gar nicht denkbar, denn sie sind längst zu Mischdialetten des verschiedensten Ursprunges geworden. Gs ist mir begegnet, daß man mich um der rheinfränkischen Farbe meines Dialektes willen in Norddeutschland für einen Oesterreicher hielt, im Süden dagegen für einen ausgemachten Norddeutschen. Dergleichen kann eben nur einem Mitteldeutschen begegnen. Die schwäbischen, bayerischen und österreichischen Mundarten, nicht minder das Plattdeutsche, sind für den Poeten noch äußerst bildsam und haben sogar in unserer modernen Literatur sich wieder deutsche Geltung verschafft. Dies ist bei keiner einzigen mitteldeutschen Mundart der Fall gewesen. Ja es hat sich sogar durch die moderne künstlerische Nachahmung und Erweiterung des süddeutschen Volksliedes, durch die schwäbischen Dorfgeschichten und österreichischen Volkspossen eine allgemeine, gleichsam schriftmäßige Form des Schwäbischen, Bayerischen und Oesterreichischen festgestellt, die keiner der hundertfältigen Abstufungen der Dialekte, wie sie in jenen Ländern wirklich gesprochen werden, vollständig entspricht, sondern die höhere Dialekteinheit all dieser örtlichen Schattirungen geradezu literarisch repräsentirt. Hebel, Auerbach, Kobell, Gotthelf, Raymund, Klaus Groth haben nicht blos für ihre Stammlandschaft, sondern für ganz Deutschland gedichtet.
Es ist ein wunderbares Ding um diese tiefe, oft den Leuten selber unbewußte Einheit in der bunten Vielgestalt des norddeutschen und süddeutschen Volkslebens. Der Bewohner der Hochalpenthäler lernt oft seine nächsten Nachbarn, die vielleicht nur zwei, drei Stunden Wegs von ihm entfernt sitzen, niemals kennen, weil sie in einem andern Thalgefälle wohnen. Er weiß von ihnen nur vom Hörensagen: sein eigenes enges Thal ist und bleibt seine ganze Welt. Dennoch würden sich diese Nachbarn, die sich nie gesehen, sofort als Brüder und nächste Landsleute erkennen und begrüßen, wenn sie ja einmal zusammenkämen. In einer ihm selbst unbewußten Einheit, nicht der einzelnen Sitten, wohl aber der Gesammtgesittung, ist dieses Naturvolk verbunden. In dieser äußerlichen Vereinsamung bei innerem Zusammengehören trifft das Volk zahlreicher abgeschlossener Marschen und abgelegener Inseln der deutschen Nordküsten mit den Alpenbewohnern zusammen. So sind z.B. die Marschbewohner des Stade'schen Altlandes ein kleines Volk für sich. Ihre Häuser kehren eine andere Front der Straße zu, als die aller übrigen Bauern der Elb- und Wesermarschen. Die Altländer unterscheiden sich auf's Schärfste in Sitte und Art von ihren unmittelbaren Nachbarn, den Kehdingern, die den Bewohnern des Landes Hadeln verwandt sind und doch auch von diesen wieder für den feineren Kenner in hundert Stücken verschieden. Von der Giebelfirst des Altländer Hauses schaut das uralte Schwanenzeichen herab, welches sich auch in Flandern findet, während in den angrenzenden elbaufwärts gelegenen Haidestrichen das alte Wahrzeichen des Sachsenstammes, die beiden Pferdeköpfe, an der Giebelspitze prangt. Allein auch in diesen Pferdeköpfen selbst sind wiederum feinere Unterschiede des Volksthumes angedeutet. Denn bei Lüneburg, Uelzen etc. sind die beiden Köpfe nach außen gekehrt, während sie bei Bremen, Nienburg und stromaufwärts bis in Westphalen nach Innen schauen. Im Altland waren die Rechtsgewohnheiten noch bis in die neueste Zeit altgermanischen Gepräges. Es gab Grafen, Hauptleute, Vögte, Schöffen, Findungsmänner, es gab ein Gräfding, ein Botding, Jartentage u.s.w. Aehnliches finden wir bei vielen andern dieser kleinen abgeschlossenen Küstenbezirke, die trotz ihres eigensinnigen Sonderlebens dennoch in der Gesammtgesittung einiger zusammenstehen, als die zerrissenen Ländchen des zumeist in voller Auflösung der alten Sitte begriffenen Mitteldeutschlands.
In dem von der Natur wie von der Politik so viel vernachlässigten Pommern machen sich die verschiedenen Städtchen in Volkssprüchen und Spitznamen über ihre Armuth gegenseitig lustig. Wenn sich vordem Boote aus Wollin, Cammin ober Gollnow auf der Oder begegneten, so eröffneten sie ein kleines Gefecht mit Wasserspritzen gegen einander und die Wolliner wurden dabei als »Stintköppe« begrüßt, die Camminer als »Plunderköppe,« die Gollnower als »Pomuffelsköppe,« aber »Plump aus Pommerland« hält darum doch fester zusammen, als die mitteldeutschen Leute, die großentheils gar nicht den Humor mehr haben, sich gegenseitig zu bespotten. Den Kreisen Büzow und Rummelsburg sagt man in Pommern nach, sie hätten gemeinsam nur eine Lerche, die des Morgens in Bütow, des Nachmittags in Rummelsburg sänge. »In Pencum hängt de Hunger up'm Tuhn (auf dem Zaun).« »In Greifswald weht der Wind so kalt.« »Masso – was so – is so – und blüwt so.« »In Nörenberg haben die Krebse die Mauer abgefressen.« »Jakobshagen, Schaokopshagen.« »In Ball wohnen die Schelme all.» »Wer sinen Buckel will behullen heel, de heed sich vor Laobs und Strameehl; wer sinen Buckel will hewwen vull, de goh noah Regenwull.« Wer diese Auswahl von Spottsprüchen, mit denen sich die kleinen pommer'schen Städte gegenseitig beehren, noch erweitern will, der findet in der trefflichen Schrift von Th. Schmidt in Stettin über »die pommer'schen Chausseen« weiteres Material dazu. Ein Volk, welches sich solchergestalt noch über sich selber lustig machen kann, muß noch ein kräftiges Volk seyn, und so lange sich kleinstädtisches Sonderthum wesentlich in Versen Luft macht, hat es mit demselben auch keine Noth.
Der Bewohner einer Marsch heirathet so selten in eine andere, als der Bewohner eines Hochalpen-Flußgebietes in das andere. In den abgelegensten Thalwinkeln des bayerisch-tyrolischen Hochgebirgs gibt es noch einzelne Bauernhöfe, die nachweislich schon seit drei Jahrhunderten ununterbrochen im Besitze derselben Familie sind. Die Abschließung von der Welt hat vielleicht der sehr armen Bauernfamilie solchergestalt zwei der wichtigsten sozialen Attribute des alten grundbesitzenden Adels geschaffen: den Stammbaum und das geschlossene Familiengut. Das Leben in der gleichen wilden Natur und der Kampf mit derselben einigt die vereinsamten Siedler in den Bergen, und so steht der Vorarlberger dem fernab wohnenden Steyermärker weit näher, als der Pfälzer dem schwäbischen Nachbar, oder der Rheinfranke dem Thüringer.
Ein merkwürdiges Exempel der von einer höheren Einheit zusammengehaltenen Besonderung des norddeutschen Volksthumes im Gegensatze zu einheitlos zersplitterten mitteldeutschen Gauen bildet die Insel Rügen. Betrachtet man die Silhouette der Insel auf der Landkarte, dieses spinnenartig ausgespreizte Gebilde von Vorgebirgen, Halbinseln und Landzungen, deren Kern selber wieder von Binnenseen durchlöchert, dann sollte man glauben, hier könne nur ein zerrissen gesondertes Volksthum seinen Sitz haben. Wirklich tritt auch die entschiedene Anlage dazu überall hervor. Und doch ist der Volkscharakter dieser Insulaner zugleich wieder in den Hauptzügen auf's straffste zusammengehalten und in sich abgeschlossen. Diese doppelseitige Natur macht das Eiland zu einem Volks-Beobachtungspunkte, der wohl ohne Gleichen in Deutschland ist. Wie es besonders bevorzugte meteorologische Stationen gibt, so auch ethnologische Hauptstationen, auf denen sich je ein steter Beobachter der Entwickelungen im Volksleben festsetzen müßte. Dann könnten aus dem Austausch einer ganzen Kette von Beobachtungen unsere Staatsmänner erst ungefähr merken, wie sich, in den unteren Regionen Wind und Wetter macht. Obgleich nun mein Wissen von dieser Insel blos flüchtig erwandert, nicht gründlich erlebt ist, so möge doch der Leser um des lockenden Stoffes willen nachsehen, daß ich ein kleines Charakterbild zu Gunsten meiner Sätze zu zeichnen versuche.
Die Bewohner Rügens sind geographisch so streng gegliedert, daß sie in der gemeinen Redeweise ihre Insel gar nicht einmal als ein einheitliches Ganze gelten lassen. Von den Halbinseln Wittow, Jasmund, Mönchgut, Zudar spricht man hier, als ob das lauter selbständige Länder seyen. »Rügen« gilt nur für einen kleinen Theil, und wollte man den Namen für die ganze Insel gebrauchen, so würde der gemeine Mann aus dieser geographischen Abstraction so wenig klug werden, wie andere Leute aus der Abstraction eines Gesammtdeutschlands.
Der Verkehr zwischen den einzelnen Halbinseln ist erstaunlich gering, und auf den beiden verbindenden großen Isthmen, der »Schabe« und der »smalen Haide,« hört fast alle Cultur auf. Man kann hier den ganzen Tag auf sogenannten Straßen bis über die Knöchel im Dünensand und Geröll waten, ohne einer sterblichen Seele zu begegnen. Wie in den Hochalpen ein Felsrücken, ein Gletscher zwei nachbarliche Thäler gleich als zwei ferne Welten von einander abscheidet, so halten hier die Landengen das Volksleben auseinander. Jede Halbinsel hat ihren besonderen Localton der Mundart, Mönchgut namentlich seine ganz originelle Sprache. Hier herrscht auch eine besondere Volkstracht, während sich sonst überall an der Ostsee bei dem außerdem so zäh beharrenden Volke nur kümmerliche Reste der alten Trachten erhalten haben. Die Leute in diesen Landen haben wenig Sinn für künstlerische Formen und Farben, Frisia non cantat, sagt man auch auf der andern Seite der schleswig-dänischen Landzunge. Charakteristisch für den farb- und klanglosen Norden ist bei der Fischertracht auf Mönchgut, daß das Auszeichnende beim Kleide der Männer nur im Schnitt, nicht in der Farbe liegt, die als ein wahres sans-couleur, als ein abscheuliches Gemisch von Schmutzbraun und Theerbraun sich darstellt. Nur die Frauen tragen noch derbe reine Farben an Rock und Mieder. Die Mönchguter haben anderes Herkommen als die Leute von Jasmund, von Wittow. Man spricht auf Mönchgut noch von dem Bußplatz der gefallenen Mädchen, von dem Schemel der Wittwen in den Kirchen. Davon weiß man auf anderen Theilen der Insel nichts mehr. So herrscht hier überall das eigensinnigste Sonderthum, aber das Volksleben fällt darum doch nicht auseinander, wie im Binnenland. Das würde nur dann möglich gewesen seyn, wenn dieses so abenteuerlich gegliederte Land nicht eine Insel wäre, und zwar eine Insel im Meer.
Was dieser bunte unruhige Wechsel von Berg und Thal, Feld und Wald, Haideland, Dünenland, Sumpfland, Felsland, in der Natur der Eingebornen zersplittern mochte, das hielt das ringsum fluthende Meer wieder mit starkem Arm zusammen. Das Meer ist die oberste social erhaltende Macht für Rügen. Im Großen wiederholt sich die gleiche Erscheinung bei den britischen Inseln. Das Meer hält Norddeutschland zusammen, wie die Hochgebirge den deutschen Süden. Auf dem festen Boden sind die Interessen der Küstenbewohner mannichfach gestuft und gekreuzt, auf der See sind sie gleichartig. Die See erzeugt hier jene Einseitigkeit, die eine wesentliche Vorbedingung alles Genies ist, beim Einzelnen wie bei einer Volkspersönlichkeit.
Man sieht das an dem kleinen Bilde Rügens gar deutlich.
Der Ausfall des Häringsfanges ist eine »brennende Frage« für die ganze Insel. Kommen im Frühjahr die Häringe in zahllosen Schwärmen angeschwommen, dann sind die Leute auf Rügen für's ganze Jahr lustig, wie die Weinbauern nach einem guten Herbst. Beide beten um volle Fässer, und das volle Häringsfaß läßt sich eben so wenig mit Sicherheit prophezeien, wie das volle Weinfaß. Die Rügen'sche Chronologie zählt nach guten Häringsjahrgängen, wie die Rheingau'sche nach guten Weinjahrgängen. Aber die Olympiaden der guten Häringsjahre sind glücklicherweise nicht so lang wie die Olympiaden der guten Weinjahre. Selbst der Bauer auf Rügen, der keinen Fischfang treibt, ist wenigstens stolz darauf, eine Tonne »selbst eingemachter« Häringe, die er »grün« aufgekauft, im Hause zu haben, und setzt sie dem Fremden mit den nämlichen selbstgefälligen Randglossen vor, wie der Weinbauer seinen Haustrunk als eigenes Wachsthum.
Die ganze Art der Bildung, der Stoff des Wissens ist bei diesen Küstenbewohnern bedingt durch das Meer. Ein Rügen'scher Bauer weiß sich in der Regel auf einer Landkarte ganz gut zu finden. Am Meere fehlt auch dem gemeinen Mann selten einige Anschauung von den gewöhnlichsten geographischen Hülfsmitteln. Ueberdies braucht der Rügener nur auf den Rugard, das Pehrd oder die Höhenpunkte der Granitz zu steigen, so hat er seine Insel gleich als Landkarte im Original vor sich liegen. Zieht dagegen bei abgelegenen süddeutschen Bauern der Wanderer eine Karte aus der Tasche, so kann er noch in den Verdacht kommen, ein Hexenmeister zu seyn, oder ein Beamter, der die Grund- und Hypothekenbücher nachzusehen komme. Von der Bedeutung einer Karte als Reisehülfsmittel haben diese Leute noch keinen Begriff. Die Rügener erschrecken auch nicht, wenn man ein Fernrohr an's Auge setzt, denn sie halten das Ding nicht, wie so oft unsere binnenländischen Bauernjungen, für eine Schießwaffe. Daraus aber zu schließen, daß dieses Inselvolk gebildeter sey, als das binnenländische, wäre sehr verkehrt. Es besitzt nur eine Bildung anderer Art.
Dem Küstenbewohner wird Mutterwitz und Wissen gleichsam vom Meere an den Strand geworfen; das Meer macht ihn zum Genie der Volkspersönlichkeit, aber nur – weil es ihn zur Einseitigkeit zwingt. Die Thierfabel der Rügener spielt unter den Wasserthieren wie die Thierfabel der Binnenlandsbewohner unter den Thieren des Waldes. Die Flunder z. B., ein kleiner plattgedrückter, possierlicher Fisch mit zur Seite gezogenem aufgeworfenen Maul, ist den Rügener Fischern der hohle Renommist in der Fischgesellschaft. Als die Flunder den ersten Häring sah, zog sie ein schiefes Maul und sagte hochmüthig-spöttisch: »Ist der Häring auch ein Fisch?« Da blieb ihr zum Wahrzeichen ihres Hochmuths für alle Zeiten das Maul schief stehen. Vielleicht schreibt einmal ein Volkspoet an der Ostsee einen Reineke Fuchs, der in der Meerestiefe seine Ränke und Schliche entfaltet, und Kaulbach zeichnet die Charakterbilder der menschlich-närrischen Fische dazu.
Selbst die Poesie des volksthümlichen Sagenschatzes hat hier ihre lautersten Heiligthümer in die Tiefe des Meeres versenkt. Der Nibelungenhort dieser Ostsee-Insulaner ist Vineta, die versunkene Stadt an der Küste von Usedom, das Traumbild unter den goldglitzernden Wasserwogen. Wisby auf Gothland, die märchenhafte Trümmerstadt, das skandinavische Pompeji, ist gleichsam ein über den Wellen stehengebliebenes Vineta. Auf Arcona, der am weitesten in die offene See vorgeschobenen Rügen'schen Inselspitze, stand der Tempel Swantowits, des großen Slavengottes. Der Punkt, wo das Meer, das »alte, ewige, heilige Meer,« ringsum brandet, wo die schmale Spitze Landes dem, der lange sinnend über die Fluth hinausschaut, unter den Füßen schwindet, daß er mitten in den Wogen zu stehen vermeint – dieser Punkt und kein anderer mußte das Mekka der Insel seyn. Mir ist die tief-poetische Erzählung des Evangeliums, wie Christus auf dem Meere wandelt, nie großartiger und so ganz in ihrer anschaulichen und plastischen Fülle erschienen, als hier auf der Tempelstätte des Swantowit. Wäre ich Pastor auf Rügen, ich würde dem Inselvolk fleißig über diesen Text predigen. Saxo Grammaticus beschreibt den vierköpfigen Götzen Swantowit. Die Gesichtszüge waren ernst und tiefsinnig, der Bart herabhängend, die Haare nach Art der Wenden gescheitelt. Das gestrählt herabhängende Haar zeichnet heute noch die Fischer auf Rügen aus. Statt die Haare aus der Stirn zu streichen, lassen sie dieselben niederfallen, wie man wohl bei Meergöttern die Blätter des Schilfkranzes über die Stirne niederhängend malt. Die Sitte ist wiederum, wie fast alles auf der Insel, vom Meere dictirt; Wasser und Wind sind die einzigen Haarkräusler dieser Leute.
Der ganze Entwicklungsproceß von Rügen ruht gleichsam auf einem fortwährend ausgebeuteten Strandrecht. Nicht bloß »Bildung« wirft den Küstenbewohnern die See aus, nicht bloß Muscheln und verwesenden Seetang, den die Bauern zu wirthschaftlichen Zwecken heimfahren, nicht bloß Quallen und vornehme Badegäste: auch die Granitblöcke, mit denen die Kirchen gefundamentet, die Landstraßen unterbaut sind, wurden in einem großen. Weltschiffbruch auf dieses Land geschleudert. Die räthselhaften erratischen Blöcke aus den skandinavischen Gebirgen liegen auf Rügen noch in ungezählter Menge, obgleich doch schon Jahrhunderte an diesem gefundenen Capital gezehrt haben. Sie sind vielfach so groß, daß man sie mit Pulver sprengen muß, um die Bruchstücke zur weiteren Benützung fortzuschaffen. Höchst charakteristisch nehmen sich diese Granitsteine um den Untermauern und Sockeln der zahlreichen gothischen Kirchen der Ostseeländer aus. In buntem Farbengemisch, grün, grau, roth durcheinander, sind die verschiedenartigen formlosen Steintrümmer zu einem cyklopischen Bau zusammengesetzt, wie sie gerade eine Sündfluth von den Wracks der verschiedensten Urgebirgsfelsen abgerissen hat. In scharfem Gegensatz erhebt sich dann darüber der Oberbau aus gleichgeformten, gleichfarbigen Backsteinen. – So sind auch auf Rügen die mannichfaltigsten Steinbrocken, wie man sie nur aus Dutzenden von Steinbrüchen zusammentragen könnte, zu buntscheckigen trockenen Gartenmauern aufgeschichtet, während überhängende Dornbüsche diese Granitmusterkarte malerisch bekrönen. Man muß eine von den pommerischen, aus Granit gebauten Landstraßen, die gleich den norwegischen fast wie aus Eisen gegossen sind, einmal auf einem Tagemarsch unter den Füßen gehabt haben, um in dem brennenden Schmerz der Sohlen, für welche die granitene Solidität des Guten zu viel ist, eindringlich belehrt zu werden, welch königliches Geschenk das Meer dem steinlosen Flachland mit diesen gestrandeten Steinblöcken gemacht hat. So muß das Strandrecht den Ostseevölkern wohl als das erste Naturrecht erschienen seyn, und es ist kein Wunder, daß sie sich angesichts ihrer Kirchen, ihrer Straßen, ihrer Gartenmauern, so schwer von seiner Unmenschlichkeit überzeugen konnten.
Häufig wird der Wanderer in den abgelegenen Dörfern und Gehöften Rügens mit der Frage empfangen. – Wie sieht es in der Welt aus? Die Frage ist sehr ernstlich gemeint. Ein alter Häringsfischer auf Mönchgut, dem abgeschlossensten Winkel der ganzen Insel, der dieselbe Frage im Herbste 1851 an mich richtete, hatte natürlich von dem damaligen politischen »Aussehen der Welt« nicht die dunkelste Ahnung; nur eines interessirte ihn: ob die Franzosen wieder losgeschlagen hätten, oder ob es bald geschehen werde? Sein ganzes Wissen von der europäischen Politik beschränkte sich auf den einzigen Gedanken, daß, zeitungsmäßig gesprochen, Frankreich der europäische Revolutionsherd sey. Die »Revue des deux Mondes« hatte zur selben Zeit diese Auffassung als ein künstliches Werk der europäischen Reaction bezeichnet. Aber sie ist in Deutschland eine tief im Volk gewurzelte, ein wirklicher Volksglaube, oder nach Umständen ein Volksaberglauben. Dieser Häringsfischer an den entlegensten Nordostmarken unseres Vaterlandes, der von der ganzen außerrügen'schen Welt nichts weiß, der von dem Lande Frankreich gewiß höchst abenteuerliche Begriffe hat, ist von der europäischen Reaction in Petersburg, Wien und Berlin vermuthlich nicht bearbeitet worden, und doch wurzelt jener Gedanke als ein Glaubenssatz in seinem Kopfe. Und der gemeine Mann in ganz Deutschland schwört auf denselben Glauben. Solch ein allgemeiner Volksglaube steht aber nie ganz in der Luft.
Demselben Mann erzählte ich von Süddeutschland – es war ihm ein weit fremderes Land als das revolutionäre Frankreich seiner Phantasie. Ich schilderte ihm die Hochgebirge, die Gletscher und den ewigen Schnee – und nahm dabei wohl wahr, daß er mich im Stillen für einen Aufschneider hielt. Ich sprach ihm von den reißenden Gießbächen, im Gegensatz zu den zahmen, schleichenden Sumpfgräben der Insel und des Küstenlandes, von den verheerenden Wassergüssen, die wir dort bei dem kleinsten Bache zu gewärtigen hätten, während die Leute hier, umringt von der unermeßlichen Fluth des Meeres, sicher vor dem Wasser wohnten, von Hagelschlag und Gewittern, die im Binnenland so furchtbaren Schaden anrichteten, während es hier eine wahre Rarität ist, wenn es einmal donnert, und fügte hinzu, wie bei den vorsorglichen Schwaben schier auf jedem Gartenhäuschen ein Blitzableiter stecke, da doch an diesen flachen Meeresküsten die höchsten Thürme, Fabrikschornsteine und Paläste meist schutzlos und ungefährdet zum Himmel ragten. Dem zweifelnden Alten gegenüber mochten sich diese meine höchst einfachen Schilderungen fast wie die Reiseberichte des Shakespeare'schen Othello ausnehmen:
»Wo's von gewalt'gen Höhlen, todten Wüsten,
Von Brüchen, Felsen, himmelhohen Bergen
Zu reden im Verlauf der Dinge galt,
Von Kannibalen, die einander fressen,
Antropophagen, Leuten, deren Kopf
Hervorwächst unterm Arm« –
Aber der Eindruck bei dem Alten schlug völlig um, als ich ihm die bäuerlichen Verhältnisse im Innern Deutschlands darstellte. Ich erzählte ihm von der unbegrenzten Theilbarkeit der Güter, die dort alljährlich Tausende von kerngesunden, arbeitsfähigen Bettlern in's Land setze, während man auf Rügen nur Krüppel und Lahme betteln sehe. Ich machte ihm anschaulich, wie dort die Morgenzahl der einzelnen Bauerngüter in gleichem Maße abnehme, in welcher die Zahl dieser kleinen im Elende freien Gutsbesitzer wachse. Ich führte ihm als Exempel die mir genauer bekannte Lage von sechs zu einer gemeinsamen Herrschaft gehörigen Dörfern im Hohenzollern'schen an. Dort hatten vor 40 Jahren noch 77 Hofbauern gesessen, deren Güter je über hundert Morgen umfaßten, während jetzt in allen sechs Ortschaften kein einziger Bauer mehr hundert Morgen besitzt. Das erklärt sich leicht, denn jetzt müssen sich 5000 Menschen in denselben Güterbering theilen, worein sich damals nur 3000 getheilt hatten. Vor vierzig Jahren gab es in diesen 6 Dörfern 360 Pferde, jetzt gibt es noch 60, früher waren dort 830 Zugochsen vorhanden – jetzt besitzen die dortigen Bauern gar keine mehr und pflügen mit den Kühen. Wollte man vordem in Mitteldeutschland einem recht armseligen Bauern einen Schimpfnamen anheften, so nannte man ihn einen »Kuhbauern,« d. h. einen Bauern, der so heruntergekommen ist, daß er mit den Milchkühen pflügt und diese im Zug abmelkt. Bald wird dieser Schimpfname ein prahlerischer Ehrentitel geworden seyn, denn schon beginnt man da und dort auf den winzig zusammengeschrumpften Bauerngütern die ganze Ernte mit Menschenhänden nach Hause zu schaffen, und wer es noch mit einer Kuh kann, der gilt so viel als weiland ein zweispänniger Pferdebauer. Ich bat den Häringsfischer, nun einen Vergleich mit seiner heimathlichen Insel zu ziehen, wo der Ueberschuß der jungen Mannschaft, statt das väterliche Gut zu zerfetzen, hinaus auf's Meer, geht und – oft genug auf englischen Schiffen unter der Firma eines »dänischen« Matrosen - den Engländern Respect vor der Seetüchtigkeit des Volkes an der Ostsee beibringt, mit seiner Insel, wo die bäuerliche Abgeschlossenheit so schroff ist, daß die Mönchgüter nicht einmal von einem andern Theil Rügens sich eine Frau holen und so »auswärtige« Familien in ihren väterlichen Gutsbesitz hineinziehen mögen. Als der Alte das gehört, da begann er meinen vorhergegangenen Schilderungen einer großartigen Berg- und Flußnatur, für die ihm seine Hügel und Bäche keinen Maßstab abgegeben, Glauben beizumessen, und meinte: so etwas Schlimmes müsse freilich bei unserm Lande dahinter stecken; gleich als Ware der Gedanke des Dichters in ihm aufgestiegen, daß es auch Länder gebe, die zu schön sind, als daß dort die Menschen glücklich seyn könnten!
Der unvertilgbare Heimathstolz des Nord- und Süddeutschen hängt sich bei dem naiven Mann aus dem Volke jetzt vielleicht an allerlei wunderliche Kleinigkeiten. Er hat aber seine tiefe historische Wurzel. Süddeutschland hatte seit uralten Tagen bis gegen die neue Zeit den stählenden Kampf mit Hunnen, Magyaren und Türken zu bestehen, Norddeutschland mit den Normannen und den slavischen und skandinavischen Grenznachbarn. Süddeutschland drang colonisirend in den Donauländern vor, und es ist seine Ehre, wenn man in Ungern heute noch jeden Deutschen einen Schwaben heißt; Norddeutschland colonisirte die Ostseeländer. Mitteldeutschland hat nichts colonisirt, es ist ihm vielmehr ein Theil seiner besten Gaue bald vorübergehend, bald für die Dauer von den Franzosen abgenommen worden. Das Ausland unterscheidet darum vorwiegend auch nur Nord- und Süddeutschland. Die Mitteldeutschen blieben seit Jahrhunderten in ihrem engsten politischen Kleinleben sitzen, entwickelten sich freilich im geistigen Leben zu Zeiten desto reicher und freier, lebten sich aber auch rascher aus. Nur Norddeutschland und Süddeutschland hat in neuerer Zeit an der europäischen Politik theilgenommen, und gerade um die Kraft unserer beiden mächtigsten Ländermassen zu brechen, war es, daß Napoleon I. einen politisch von beiden losgelösten mitteldeutschen Staatskörper nach eigener Phantasie schaffen wollte.
Es ist ein historischer Zug bei den kleinen Bauern Mitteldeutschlands, daß sie sich, namentlich in Gegenden, wo früher der schwerste feudale Druck auf ihnen gelastet, dem städtischen Fremden gegenüber fast immer für geplagter und gedrückter ausgeben, als sie wirklich sind, während umgekehrt die Bauern in den uralt freien Gegenden des Nordens, oder aus den Hochgebirgen des Südens, wo die Wildniß den Mann frei macht, gern mit ihrem Wohlstand und Behagen oder mit der Pracht und Herrlichkeit ihres Landes prahlen. Der reiche Bauer aus den Marschen kommt freilich in verdächtig abgeschabten Manchesterhosen nach Hamburg, er läßt es aber mit um so größerem Stolze merken, wie viele schwere Thaler in den Taschen dieser Hosen zusammenklingen, und der arme Senner und Alpenhirte, dem Ihr alle Vorzüge Mitteldeutschlands preist, glaubt Euch doch zuletzt mit der einzigen Bemerkung aus dem Felde zu schlagen, daß es dort ja nicht einmal Gemsen gebe. In Norddeutschland gibt es noch einen einflußreichen grundbesitzenden Adel, es gibt daneben auch noch ein »Junkerthum.« In Mitteldeutschland gibt es kein eigentliches Junkerthum mehr, weil der Adel größtenteils zerfahren ist gleich dem übrigen Volke. Dafür herrscht aber der Jude (derselbe kleine Jude, den der Adel zur Zeit seines entschiedensten Abfalles von sich selbst in's Land rief und hegte) in den mitteldeutschen Dörfern, und der Bauer hat bereits zahllose Züge von der Art dieses kleinen hausirenden Juden in seine eigene hinübergenommen.
So besitzt auch der geringe Jude auf dem Lande meist eine wahre Kunst, sich angesichts der Gojim recht elend und armselig zu geberden: er trägt absichtlich einen verschabten Rock, und wenn ihn kein Mensch arm nennt, dann nennt er sich selber so, während andererseits die vornehmen städtischen Juden ihren Reichthum in der Regel um so besser zur Schau zu tragen wissen. Bei den kleinen Bauern wie bei den kleinen Juden spukt nämlich das dunkle Erinnerungsbild mittelalterlicher Zustände, denen gemäß ein Mächtigerer sie gebrandschatzt und geplündert haben würde, wofern ihr wahrer Besitz ruchbar geworden wäre.
Die Erkenntnis des Unterschiedes unserer großen social centralisirten Ländermassen und der individualisirten mitteldeutschen Gaue ist für die Lehre von der bürgerlichen Gesellschaft von größter Tragkraft. Was hier bei den Skizzen des Verhältnisses von Land und Leuten in seine geographische Besonderungen zerlegt erscheint, das soll in einen Grundriß der bürgerlichen Gesellschaft von Deutschland wieder zu seiner principiellen Einheit zusammengefaßt weiden. Es gilt dann aus den hier geschilderten örtlichen Gliederungen und Bruchstücken des Volkslebens in Deutschland die idealen Gruppen des deutschen Bürgers, des deutschen Bauern ec in ihrer Allgemeinheit abzuziehen. Diese allgemeinen Züge der deutschen Gesellschaftsgruppen werden aber so selten richtig erfaßt, weil man die örtlichen Besonderungen und Zufälligkeiten vorher nicht bestimmt genug als solche erkannt hat, und darum sie selber wieder je nach persönlicher Neigung oder politischer Parteilaune für das Ganze nimmt. Ich wurde dessen recht deutlich inne. als ich die vielfältigen Urtheile, welche mein Buch über »die bürgerliche Gesellschaft« veranlaßte, im Geiste zusammenstellte. Was man vom nord- oder süddeutschen Localstandpunkte als allgemein treffend und wahr in den Schilderungen erkannte, glaubte man häufig in der Anschauung der Mitteldeutschen für einseitig und irrig erklären zu müssen und umgekehrt. Gerade durch diese sich kreuzenden Urtheile aber kam ich zu der beruhigenden Ueberzeugung, daß ich im Allgemeinen beiläufig das Richtige getroffen haben müsse. Ich sah aber auch ein, wie nothwendig es sey, sich über das örtliche Sonderleben und sein Verhältniß zu dem daraus geschöpften Gesammtbild der bürgerlichen Gesellschaft klar zu werden, und so entstanden diese Untersuchungen über Land und Leute als die nothwendigen Prolegomena zu dem Buche von der bürgerlichen Gesellschaft.
Bei den centralisirten Volksmassen des deutschen Nordens und Südens, denen vorwiegend die Gegenwart und die nächste Zukunft gehört, brechen auch alle sociale Bewegungen um so thatkräftiger und einseitiger hervor. Man muß sich aber dadurch ebensowenig verführen lassen, diese kräftigen Einseitigkeiten dem Ganzen unterzuschieben, als man dies früher bei der bunten encyklopädischen Mannichfaltigkeit, den Mitteltönen und Uebergängen, bei der Auflösung und Vertuschung der schroffen Gegensätze deutscher Art und Sitte im mitteldeutschen Volksthum hätte thun dürfen.
In den folgenden drei Abschnitten suchte ich nun die Aufgabe durchzuführen, zuerst ein recht in's Einzelne ausgemaltes Bild des Volkslebens eines ächt mitteldeutschen Gaues aufzurollen, dann demselben ein stark abstechendes Gegenstück aus einer centralisirten süddeutschen Landschaft zur Seite zu stellen, und dabei möglichst fleißig die Parallele mit dem centralisirten Land im Norden zu ziehen. Zum dritten aber gebe ich die Skizze einer Gruppe von Gegenden, bei welchen der Kampf des norddeutschen Küstenbewohners und des süddeutschen Hochgebirgsvolkes mit dem unwirthlichen Boden, mit der Wildniß und den feindseligen Elementargewalten in die friedlich anmuthigen Gebirge Mitteldeutschlands hineingeschoben erscheint und im Verein mit dem eigenthümlichen Culturzustande dieser Gaue die merkwürdigsten Uebergangsgebilde des Volkslebens erzeugt hat.