Wilhelm Heinrich Riehl
Land und Leute
Wilhelm Heinrich Riehl

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Erstes Kapitel. Das Volk in Bild und Schrift.

Durch Poesie und bildende Kunst geht seit Jahrhunderten der rastlose Drang nach Erweiterung des Kreises der darzustellenden Stoffe. Es will uns nicht mehr genügen an Einzelfiguren und Gruppen. War früher das Volk als Gesammtperson höchstens nur leicht angedeutete Staffage oder ein Schmuck des Hintergrundes, dann wird es jetzt mehr und mehr eine selbständige, ja eine Hauptfigur, die sich flott durchgearbeitet in den Vordergrund von Bildern und Dichtwerken stellt. Die Gegenwart sucht entschiedener als irgend eine frühere Zeit das Volk als Kunstobject zu fassen.

Mit dem Ausgange des Mittelalters, da die großen socialen Neugestaltungen begannen, in denen wir noch fortweben, gewinnt das Volk den Reiz eines neuen Stoffes für die Künstler und Poeten. Die weitschichtigen, gleichsam episch in's Breite gehenden Geschichtsbilder der deutschen Malerschulen aus dem 15. und 16. Jahrhundert wurden damals äußerst figurenreich. Mit einzelnen bildsäulengleichen Heiligen hatte man begonnen, war fortgeschritten zur Gruppe, dann zum Gruppengewimmel und durch dieses zum Charakterbilde der Massen. Das deutsche Volk wird nun derb leibhaftig mitten in die Scenen aus der biblischen Geschichte, aus dem Leben der Heiligen und Märtyrer gestellt. Dürer, Holbein, Kranach waren nicht bloß insofern volksthümliche Maler, als sie in ihrem Styl den deutschen Volksgeist in einer bis dahin nicht gekannten Freiheit und Naturfrische versinnbildeten; sie waren auch mit ihren unmittelbaren Vorgängern, Genossen und Nachfolgern die ersten, welche das deutsche Volk als Volk malten. Sie machten freilich trotzdem das Volk noch nicht zum Mittelpunkte ihrer historischen Bilder; sie stellten es nur in die Peripherie derselben, erläuternd, füllend, schmückend, daß es manchmal fast auftritt wie der Chor in der griechischen Tragödie. So getreu auch die Einzelfiguren und Köpfe in den Volksgruppen der altdeutschen Maler aus dem Leben gegriffen, ja oft in ihrer naturwüchsigen Gemeinheit geradezu von der Straße aufgelesen sind, so hat doch die Gesammtfigur des Volkes vorwiegend nur einen typischen Sinn. Im Einzelnen wechselt die reichste Charakteristik der Köpfe; im Ganzen sind es immer dieselben niederrheinischen, fränkischen, schwäbischen Bürger und Bauern, die auf den Bildern der niederrheinischen, fränkischen, schwäbischen Schule gegensatzlos, in stehenden, überlieferten Formen wiederkehren. Allein der Anstoß war gegeben, die Selbsterkenntniß des Volkes im Bilde geweissagt.

Aehnliches zeigt die damalige Poesie. In der Volksdichtung, die sich am Ende des Mittelalters und zur Reformationszeit ausbildet, greifen die Dichter ihre Stoffe unmittelbar aus dem Volksleben. Die niederen Stände erschauen sich im Gesammtorganismus des Volkes ebenso klar wie weiland die höheren: das ist in den Volksbüchern und den satyrischen Lehrgedichten des 15. und 16. Jahrhunderts mit wahrhaft epochemachender Neuheit, Kraft und Tiefe ausgesprochen. Hier an den Pforten der neuen Zeit ahnten die Leute mit einemmale, welch ein wunderbares Kunstobject das Volk sey. Die Reformationszeit ist auch in diesem Stücke Spiegel und Seitenbild der Gegenwart. Sebastian Brandt geißelt in seinem Narrenschiff die Schwächen und Gebrechen der ganzen bürgerlichen Gesellschaft. Er macht bereits die moralische Gesammtperson des Volkes zum Stoff seines Lehrgedichtes. Die Satyriker jener Zeit beginnen überhaupt das Volk naturgeschichtlich zu zerlegen; freilich nicht zu politischem Zweck, sondern der Moralpredigt halber; aber die Thatsache dieser Untersuchungen bleibt darum nicht minder bedeutsam. Es ist nur erst der Theologe Gailer von Kaisersberg, der sich den Text zu seinen Predigten aus Brandt's satyrischer Naturgeschichte des Volks nimmt; im 19. Jahrhundert werden die Staatsmänner ihre Texte in den naturgeschichtlichen Analysen des Volkes suchen müssen.

Sowie die sociale Romantik des Mittelalters verblaßt, wird der Gegensatz des gemeinen Mannes zum vornehmen mit einemmale lebendig in der Literatur. Volkslieder und Volksbücher verdrängen die Königslieder und Heldenbücher. Narren predigen die neue Weisheit; in dem Humor seiner Schwänke und Spottlieder erkennt das Volk als Gesammtcharakter sich selbst in seiner Eigenart und Naturkraft, und Eulenspiegel wird ein Prophet der socialen Revolution. Die »grobianische Literatur,« in welcher das geringe, das arme, gedrückte Volk als das »eigentliche« Volk gedacht ist, fordert die ausgesungene höfische und ritterliche Poesie zum Knüttelkampfe heraus und fährt siegreich mit ihrem Prügel darein. Ein Stück des Volkes wenigstens wird solchergestalt Kunstobject, ein wunderliches Stück, die göttliche Grobheit der Sprache und Sitte des gemeinen Mannes soll ihre poetische Naturkraft bekunden; bei Spott und Hohn auf den modischen Anstand und das eigensinnige Herkommen der höheren Stände fühlen sich die Volksschriftsteller kannibalisch wohl. Dieselben von der Straße aufgelesenen Gestalten mit den gemeinen Gesichtern, welche theilweise auf den Historien- und Kirchenbildern den typischen Chor des Volkes bilden, pflanzen sich in dem Vordergrund der Spott- und Lehrgedichte auf. Sie drohen hier als eine Schaar der Rache, welche den Muth und die Faust hat, das Unrecht der Zurücksetzung hinter Fürsten, Ritter und Pfaffen – nicht bloß in der Kunst, sondern auch in der Politik - wieder wett zu machen.

Wie in der Dichtkunst die Sehnsucht nach der Natur erst dann bei allen Sängern widerklingt, wenn die Menschen sich der Natur entfremdet haben, so kann auch die künstlerische Selbstschau des Volkes, der poetische Genuß an dem rohen Volksleben, erst da eintreten, wo der sociale Stand der Unschuld bereits gebrochen ist, wo die Entfremdung einer verfeinerten Welt von volksthümlicher Sitte und Art bereits sociale Nervenleiden, Blutarmuth und Muskelschwäche erzeugt hat, gegen die man in dem Schlammbad einer naturwüchsigen Rohheit und Flegelei Hülfe sucht.

Die »grobianische Literatur« vom Ausgange des Mittelalters ist in unserer Zeit in den Dorfgeschichten, mehr noch in den Mysterien des großstädtischen Proletariats wieder aufgelebt. Solche Erscheinungen, die das Volk in seiner ungebrochenen, unverhüllten Natürlichkeit als Kunstobject nehmen, sind entscheidend für den Fortschritt der Naturgeschichte des Volkes. Was der Poet ahnt und schildert, das soll der Social-Politiker durchforschen und anwenden.

Wie im einzelnen Menschen, so zeigt auch im Volke dieses ruckweise Vorschreiten der Selbsterkenntnis jedesmal einen bevorstehenden Umschlag im Organismus an. Der Bauernkrieg machte der Lust an den Dorfgeschichten des 16. Jahrhunderts ein Ende. Da waren mit einemmale die »Grobiane« aus dem literarischen Rahmen herausgetreten und hatten wirkliche Arme und Fäuste bekommen. Der Dämon, welcher im Bild, im Lied und in der Satyre längst gegeistet und in abenteuerlichen Gesichten sich vorverkündet hatte, stieg endlich auch leibhaftig an's Tageslicht.

Das 16. Jahrhundert malte nicht bloß das Volk und sang von dem Volke, es beschrieb auch dasselbe mit ganz besonderem Behagen. In »Weltbüchern« und »Kosmographien« schilderte der populäre Gelehrte das Volk nach Stand und Beruf, nach seinem Zusammenhang mit dem Lande und ergötzte die Leser mit der Kunde von allerlei wunderlichen Sitten, die er in der eigenen Heimath versteckt gefunden. Neben den Holzschnitten von Meerfräulein, Menschenfressern und fabelhaften Völkern mit Hundeköpfen sehen wir in Sebastian Münster's »Kosmographey« den Allgäuer Bauer am Spinnrocken, den Landsknecht, den Ritter, den Zigeuner, den Juden. Wie diese derben Holzschnitte ist auch das Konterfei der mittelaltrigen vier Stände fest und treuherzig in Worten gezeichnet. Wer vermag heute sociale Charaktergruppen zu malen, die sich an Dürer'scher Kraft der Umrisse mit Sebastian Frank's Prachtstücken der Schilderung messen könnten? Und an diesen Spiegelbildern ihrer selbst konnten sich die Leute des 16. Jahrhunderts nicht satt sehen. Die Selbsterkenntnis des Volkes war mit nie gekannter Macht erwacht: dieß ist eine der wichtigsten Thatsachen der Reformationszeit. Mit gutem Griff hat darum Kaulbach in seinem großen Reformationsbild zu den Humanisten, zu den Entdeckern und Naturforschern auch einen Forscher von Land und Leuten, den alten, ehrlichen Münster mit seiner langen Forschernase, in den Vordergrund gestellt.

In der Kunstthätigkeit des 17. und 18. Jahrhunderts tritt das Volk als Kunstobjekt wieder in den Hintergrund. Die Zopfzeit hatte keine sociale Politik. Wo es nur Unterthanen, keine Bürger gibt, da wird freilich das Studium des Volkes überflüssig. Während selbst der typische Chor der Volksgruppen von den Historienbildern verschwindet, sind es nur noch die republikanischen Holländer, welche Art und Sitte des gemeinen Volkes behaglich vor unsere Sinne bringen. Sie führen die erloschene grobianische Literatur der früheren Zeit mit dem Pinsel fort; Teniers, Ostade, Jan Steen boten dem verschnörkelten Wesen der vornehmen Welt Trumpf, indem sie in unvergleichlicher Naivetät Studien zur Naturgeschichte des Volkes malten.

Allein so groß auch die Rückschritte waren, die man seit dem dreißigjährigen Krieg in der Erkenntniß und Würdigung des Volkslebens machte, so ist doch die Brücke zwischen den Volksstudien des 16. Jahrhunderts und der Gegenwart niemals ganz abgebrochen gewesen. Im Simplicissimus und den Gesichten des Philander von Sittewald wird noch einmal, wenn auch mit roher Hand der Versuch gewagt, ein unverhülltes Naturbild des Volkes poetisch zu gestalten. In diese traurige Zeit, wo die Politik vorzugsweise zu scholastischen staatsrechtlichen Formen zusammenschrumpfte, wo von wirklichen Originalzöpfen die Grundsteine zu der modernen, alle Naturkräfte im Volksleben übersehenden politischen Schulmeisterei gelegt wurde, fallen trotzdem höchst wichtige Anfänge einer social-politischen Tages-Literatur. Als man auf Bildern, in Lehrgedichten, Satyren, Romanen und Weltbüchern keinen Raum mehr hatte für die Zeichnung des Volkes, warf man wenigstens noch auf fliegende Blätter Skizzen zur Naturgeschichte des Volkslebens hin. Die Gelehrten hatten sich einseitig des Staatsrechtes bemächtigt; populär aber blieben die wenn auch noch so dürftigen Fragmente zur Gesellschaftswissenschaft. In der Wissenschaft des Staates und des Rechtes ging Griechenland und Rom voran; aber die Wissenschaft vom Volke in ihrer ausgeprägtesten, naturgeschichtlich zerlegenden Form, ist ein Eigenthum der modernen und vorab der germanischen Welt. Es lag unserem Volksgeiste seit Urwalds Zeiten näher, die individuelle Sitte auszubilden als das völkerverschmelzende Recht, das Sonderleben der Gesellschaft aufrecht zu halten neben und über der ausgleichenden Gewalt des Staates. Die Deutschen sind geborene Social-Politiker und von diesem Standpunkte aus sind sie stets ein politisch wunderbar strebsames und rühriges Volk gewesen. Die Glanzperiode unserer weltbeherrschenden volksthümlichen Herrlichkeit, das Mittelalter, war die Zeit des einseitig socialen Staates. So beleuchten jene fliegenden Blätter des 16. und 17. Jahrhunderts, die Vorläufer der modernen Tagespresse, die gesellschaftlichen Zustände ihrer Zeit von allen Seiten; von den politischen im engern Sinne sprechen sie nur da, wo der religiöse Zwiespalt mittelbar auch so etwas wie politische Parteigruppen beim Volke eingeschwärzt hatte.

Es fallen ganz neue Schlaglichter auf die Geschichte unsers öffentlichen Lebens, wenn wir die Entwickelung der deutschen Journalistik rückwärts bis zu ihren Ursprüngen verfolgen, und dabei untersuchen, inwiefern dieselbe vorzugsweise die Interessen der Gesellschaft oder des Staates durchgesprochen hat. Wir kommen dann zu dem culturgeschichtlich bedeutsamen Ergebniß, daß unsere sociale und culturpolitische Journalistik reich war seit alten Tagen, unsere rein politische fast immer bettelarm. Für die Geschichte und Politik der Gewerbe, des Handels und Ackerbaues, für die Zustände der Aristokratie und des Bürgerthums, ja des Proletariats bieten jene fliegenden Blätter immer noch eine reichlich strömende Quelle; für die Kunde des staatlichen Lebens eine ganz dürftige. In einer Flugschrift des 16. Jahrhunderts, dem liber vagatorum (1510), sind die Proletariergruppen jener Zeit, bereits gezeichnet und in Reih und Glied gestellt, daß es sich schier wie ein erster kindischer Versuch zu einer Naturgeschichte der Gesellschaft ausnimmt. Man besaß damals bereits ein Lexikon der Gaunersprache, aber noch lange kein Staatslexikon. Als sittengeschichtliche Merkwürdigkeit finde ich, daß in jenem Wörterbuch kaum je Synonyma des wortkargen Kauderwelsch vorkommen. Nur bei einem Wort überrascht der Ueberfluß von vier Synonymen; es ist das Wort Bordell; man sieht, die Zeit begünstigte in allen Stücken das corporative Genossenleben, und das Laster war in selbigen Tagen noch eben so grob wie die Tugend.

In der ungeheuren Masse des Stoffes zur Gesellschaftskunde, welcher in der Literatur der beiden größten germanischen Kulturvölker, der Deutschen und Engländer aufgehäuft ist, liegen reiche nationale Schätze geborgen, welche nur der hebenden und ordnenden Hand bedürfen. Eine Geschichte dieser Vorstudien zur Gesellschaftskunde zu schreiben, wäre eine geistige That, die ganz neue Schlaglichter auf die Geschichte unserer politischen Entwicklung werfen würde. Welch reicher und stetiger Fortschritt in der eingehendsten Untersuchung des Volkes von jenem mageren liber vagatorum bis zu dem Riesenwerke »London labour and the London poor,« in dessen drittem Theil eben Henry Mayhew die nämliche Gesellschaftsgruppe der vagatores für die einzelne Stadt London systematisch und mit schwindelerregender Ausführlichkeit zu behandeln begonnen hat, und nicht minder bis zu Avé-Lallement's meisterhaftem Buche über das deutsche Gaunerwesen; von jenem Gaunerlexikon auf wenigen Duodezblättern bis zu Dr. Pott's neuesten grammatischen und lexikalischen Untersuchungen über die Gauner- und Zigeunersprachen. Wie arm ist die Literatur der Franzosen, Italiener und Spanier an solchen socialen Vorstudien gegenüber der deutschen und englischen!

In Frankreich tritt der epochemachende Meister einer Construction der Gesellschaft auf: Rousseau. Nicht die Untersuchung des Volksorganismus als einer historischen Thatsache, sondern das Phantasiebild eines »Gesellschaftsvertrags« stellt er an die Spitze seiner neuen Gesellschaftswissenschaft. Die sociale Politik wird zur socialistischen. So ist es bis auf unsere Tage in Frankreich überwiegend geblieben; die Franzosen haben bis jetzt stets nur eine verneinende, ausebnende, nicht aber eine positive, aufbauende sociale Politik gewinnen können. Montesquieu hatte das Zeug zu einem ächten Social-Politiker: gerade darum ist er dem deutschen Geiste verwandter, als irgend ein damaliger Staatsschriftsteller unter den Franzosen. Seine Landsleute haben seine Weisheit mehr bewundert als aufgenommen und weitergebildet. Gerade so erging es durch viele Jahrhunderte mit Aristoteles, neben Plato, dem großen Erzvater der socialen Politik.

Man hält nach einer landläufigen Auffassung die Deutschen für besonders idealistische Politiker, für geborene Doctrinäre vom reinsten Wasser. Allein gerade in der socialen Politik, wo sich die Franzosen fortwährend in ihrem Phantasiebau einer aus der Luft gegriffenen neuen Gesellschaft verrennen, sind sie ohne Vergleich unpraktischer und idealistischer als der Deutsche, dem es wenigstens noch möglich ist, die tatsächlichen Volkszustände zu begreifen und zu schätzen.

Als französische Sitte, französische Sprache und Kunst Deutschland beherrschte, da war es, wo der geniale Meister der politischen Schule, Montesquieu, und der Ahnherr der socialen Schulmeister, Rousseau die deutschen Anschauungen vom Volke auch in dem französisirten Deutschland in das Joch französischer Abstraktion schlugen. In der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts ist die Erkenntnis, und Erforschung des Volkslebens in Deutschland am armseligsten und verachtetsten gewesen. Es war aber auch diese Zeit politisch weit trostloser, als selbst jene des dreißigjährigen Krieges.

Voltaire sagt: »Es gibt Hunde, die man kämmt, die man liebkost; die man mit Bisquit füttert, denen man schöne Hündinnen zum Privatvergnügen hält; es gibt andere Hunde, die man aushungern läßt, die man tritt und schlägt, die zuletzt ein Anatom an den Pfoten auf den Tisch nagelt, um sie bei lebendigem Leibe langsam zu seciren. War es das Verdienst oder die Schuld dieser Hunde, daß sie glücklich oder unglücklich gewesen sind?« Solch wohlfeile Epigramme über das Naturrecht der Gesellschaft schlugen ihrer Zeit tiefer ein als die gründlichsten Untersuchungen über die Naturgeschichte derselben. Die gewaltige Frage von der natürlichen Ungleichheit der Gesellschaftsgruppen, die nicht trotz der ewigen Menschenrechte, sondern mit und in denselben besteht, läßt sich nicht mit allgemeinen moralischen Schlagsätzen abfertigen. Ja es liegt sogar ein frevelnder Leichtsinn in jenem scheinbar von der gerechtesten sittlichen Entrüstung eingegebenen Voltaire'schen Spruch! in den mit Rohheiten und Gemeinheiten gespickten Werken dagegen, in welchen die deutschen Satyriker des 15. und 16. Jahrhunderts das Naturrecht des niedergehaltenen Volkes naturgeschichtlich feststellen wollten, liegt gar oft ein tiefer sittlicher Ernst.

Die ersten deutschen Wochen- und Monatschriften im achtzehnten Jahrhundert waren den englischen nachgebildet. Ihr politischer Inhalt war verzweifelt gering, und dieses kleine Procent politischen Stoffes, welches sie brachten, ging wiederum vollständig auf in den Berichten über Land und Leute, nicht über den Staatsorganismus. Je selbständiger sich diese deutschen Zeitschriften entwickelten, desto einseitiger wandten sie sich dem reinen Literaturleben der Nation zu. Die historisch merkwürdigste deutsche Zeitschrift, die Horen, war ein Literaturblatt, aber nicht ohne mittelbare politische Tendenz. Man wollte den Staatsbürger ästhetisch wieder zum politischen Menschen erziehen und kam auf dem Umweg der Literaturgeschichte wieder zur Naturgeschichte des Volkes. In Goethe's Götz und Egmont war das Volk wieder Kunstobject geworden, durch die Begeisterung für Shakespeare ward man wider Willen zu socialen Studien geführt. Den Franzosen erschien Corneille als der Poet der Staatsmänner, den deutschen Shakespeare. Corneille hat aber, gegen Shakespeare gehalten, das Volk gar dürftig als Kunstobject ausgebeutet, und die Franzosen haben keine sociale Politik.

Der größte deutsche social-politische Journalist des 18. Jahrhunderts war Justus Möser. Es ist ganz unmöglich, sich einen französischen Justus Möser zu denken. Er steht im Gegentheil häufig den englischen Schriftstellern näher, als den schreibenden Zeitgenossen Deutschlands. Die französischen Encyklopädisten wollten nichts für wahr nehmen, als was sie mit ihren fünf Sinnen angeschaut! Möser's größte Vorzüge wurzeln gleichfalls darin, daß er stets seine fünf Sinne offen hielt: der Unterschied ist nur, daß die Encyklopädisten mit ihren fünf Sinnen das vorgefaßte naturrechtliche System in die Volkszustände hineinschauten, während Möser die naturgeschichtliche Eigenart des Volkes klar und rein herauszuschauen wußte. Darum ist er auch unser einziger politischer Zeitungsschreiber, dessen Artikel theilweise wirklich volksthümlich geworden sind, ein Eigenthum der ganzen Nation, aufgestellt nicht nur in dem literarischen Pantheon unseres klassischen Volksschriftenthums, sondern auch in dem buchhändlerischen der Groschen- und Volksbibliotheken. Möser ist der ärgste Widersacher einer abstract naturrechtlichen Politik, durchweg Historiker und Staatsmann, ein Mann, der, wie seine Tochter sagt, nichts gründlicher haßte, als die Spieler und Schreiber, obgleich er selbst nichts leidenschaftlicher that, als – spielen und schreiben. Er schrieb zu einer Zeit, wo die Politik im engern Sinne für unsere Tagespresse noch gar nicht existirte, er schrieb seine »Patriotischen Phantasien« für das Localblatt eines abgelegenen Winkels von Deutschland, und als er diese kleinen, meist an ganz beschränkt örtliche Fragen anknüpfenden Artikel zu einem Buche sammelte, befürchtete er, sie möchten dem großen deutschen Publikum wenig munden wegen des »erdigen Beigeschmacks,« den sie aus dem Stift Osnabrück mitbrächten, und ließ sich's gewiß nicht träumen, daß sie nach hundert Jahren noch in den »Groschenbibliotheken der deutschen Classiker« umgehen würden. Worin liegt nun der Zauber der Möser'schen Phantasien? Vor allen Dingen darin, daß Möser unser Volk aus dessen eigenster Natur heraus erschaut, daß er der große Ahnherr unserer social-politischen Literatur gewesen. Er hat nur Fragmente hingeworfen, aber in allen diesen Fragmenten ist der Gedanke von dem Recht der Gesellschaft neben dem Recht des Staates, von der tiefen Bedeutung der geschichtlich überlieferten Sitte neben dem allgemeinen Vernunftrecht der leitende. Als eine naturgeschichtliche Schilderung von Land und Leuten schrieb er seine »Osnabrückische Landesgeschichte« und wies dadurch der Ortesgeschichtschreibung und Topographie, die jetzt schon für die Begründung einer deutschen Social-Politik so unermeßlich wichtig geworden ist, einen neuen Weg. Die »Patriotischen Phantasien« sind die vom politischen Standpunkt genialsten naturgeschichtlichen Studien aus dem deutschen Volksleben, welche wir besitzen; sie sind die Weissagung des achtzehnten Jahrhunderts auf die sociale Wissenschaft des neunzehnten. Möser war nichts weniger denn ein Künstler, aber das Volk behandelt seine plastische Hand recht als ein Kunstobject. Der moderne, historisch forschende und aufbauende Socialpolitiker wird immer wieder auf Möser zurückgreifen müssen, wie der Aesthetiker auf Shakespeare, wie der Theolog auf die Bibel. Und es sprüht in der That ein Shakespeare'scher Geist aus der Gedankenschärfe, dem gesunden Mutterwitz dieses Mannes, aus dem wunderbaren Blick für die Beobachtung und Erfassung jeder lebendigen Thatsache, für die Enthüllung der natürlichen und freiwüchsigen Grundstoffe im Volksleben, wie aus dem vernichtenden Spott, mit welchem er die Verkehrtheiten alter und neuer Gesellschaftszustände geißelt.

Möser konnte von seiner eigenen Literatur-Epoche nur halb verstanden werden, denn sie war die Epoche der poetischen und künstlerischen Befreiungskämpfe; diesem derben, urrealistischen Niedersachsen aber fehlte der Sinn für das tiefere Erkennen des Kunstlebens. Noch ferner lag Möser der nächstfolgenden Periode, denn sie war eine wesentlich philosophische. Hätte Deutschland jemals Beruf zur naturrechtlich construirenden Politik gehabt, so müßte es in dieser Periode gewesen seyn, die einen Möser nothwendig vergessen mußte. Die geistige Grundrichtung unserer Tage ist, im Gegensatze zu jener philosophischen Epoche von Kant bis Hegel, eine historische. Für uns ist der prophetische Patriot von Osnabrück wieder von den Todten erstanden. Er steht mitten in den social-politischen Kämpfen der Gegenwart. Striche man das äußere, rein seiner Zeit angehörende Beiwerk in seinen patriotischen Phantasien weg, man könnte sie heute wieder als schlaghaft wirkende Leitartikel neuesten Datums in unsere Zeitblätter einführen.

Die Blüthezeit unserer modernen philosophischen Literatur, die Zeit von Kant bis Hegel, war, wie gesagt, im Allgemeinen keine günstige für die Pflege der Wissenschaft vom Volke. Die welterschütternden Ereignisse der Revolutionszeit und der napoleonischen lenkten den Blick vom inneren Weben der einzelnen Völker auf die große Politik Europa's. Wenn die Soldaten Politik machen, verstummt der Social-Politiker. Deutschland war damals eben erst heraus getreten aus dem gräulichen Wirrsal lebensunfähiger politischer und socialer Besonderungen, die das deutsche Reich in seiner letzten Periode zu einem so mißgestalteten Körper gemacht hatten. Der äußere Neubau der Staaten war viel wichtiger geworden, als die Vertiefung in das Kleinleben des Volksthums. Es geht durch diese Zeit ein mächtiger Zug zum Aufbau des Allgemeinen, Einheitlichen, zur ausebnenden, uniformirenden Politik, zur theoretischen Construction in der Wissenschaft. Es war weit mehr eine Zeit der Systeme, als der stofflichen Forschung. Selbst in der Kunst, namentlich der bildenden, war die Läuterung der äußeren Formen und ein verständigendes Wort der allgemeinen ästhetischen Grundsätze weit dringender geboten, als ein Hinabsteigen in die unendliche Fülle neuer Stoffe.

Aber trotzdem machen sich in dieser Zeit der Vorarbeit zum Aufbau neuer Staatskörper und neuer Staatsideale bei vielen bedeutenden Männern die Zeichen bemerklich, daß sie die Wichtigkeit einer naturgeschichtlichen Analyse des Volksthums wohl begriffen oder geahnt haben. Als einen merkwürdigen Arbeiter in dieser Richtung will ich beispielsweise nur Einen Mann hervorheben, den Philosophen Johann Jacob Wagner. Er wird uns vielfach in einem ganz anderen Lichte erscheinen, als seinen Zeitgenossen, denn wie mir dünkt, beruht das Auszeichnende dieses Mannes weniger in dem geschlossenen Bau seines Systems, als in den allseitigen Anregungen, mit welchen er die wissenschaftlichen Ziele einer Zukunft, die uns nunmehr zur Gegenwart geworden ist, vorgedeutet hat. Er ist ein Prophet unter den Philosophen seiner Zeit gewesen, wie Möser unter den Publicisten. So hat er die wissenschaftlichen Grundzüge der Nationalökonomie bereits zu einer Zeit systematisch geordnet, wo für das Stoffliche dieses Faches, wenigstens in Deutschland, noch wenig oder nichts gethan war, wo man sich namentlich den selbständigen Aufschwung der Volkswirthschaftslehre, wie sie jetzt Schule und Leben beherrscht, noch nicht entfernt träumen ließ. Er ging sogar noch weiter, als wir gegenwärtig gehen, indem er den originellen Gedanken durchfühlte, als Seitenstück zur Nationalökonomie ein System der Privatökonomie zu schreiben, in welchem die Wirthschaft der Familie in ähnlicher Weise auf ihre allgemeinen wissenschaftlichen Grundsätze zurückgeführt ist, wie in der Nationalökonomie die Wirthschaft des Volkes. Der Versuch mag auf den ersten Anblick seltsam erscheinen, allein für die Lehre von der bürgerlichen Gesellschaft hätte namentlich eine historisch begründete Kenntniß der Privatwirthschaft unserer einzelnen Volksstämme einen unberechenbaren Werth. Hunderte der praktischen Versuche, die jetzt zur Lösung der socialen Wirren gemacht werden, schlagen in das Gebiet der Privatökonomie ein, ohne daß wir uns immer wissenschaftlich dessen bewußt sind. Es wird diese Disciplin nicht allezeit so brach liegen bleiben, wie gegenwärtig; sie hat ihre Zukunft, und wäre es auch nur, weil sie sich ergänzend in die allgemeine Sittenkunde einreihen muß.

Noch überraschender tritt uns der prophetische Standpunkt J. J. Wagners entgegen, wenn wir sein Buch vom Staate zur Hand nehmen. Hier sind namentlich über den materiellen Inhalt des Staatslebens, über die Unterscheidung der Familie, der Gesellschaft und des Staates, über die Gruppen und Glieder des Volkes, über das Verhältniß der Volkswirthschaft zur Staatsverwaltung und vieles Aehnliche so neue Gedanken gegeben, daß wir oft keineswegs glauben, das Buch eines Philosophen vor uns zu haben, dessen Blüthezeit bereits um mehr als ein Menschenalter hinter uns liegt, sondern die Untersuchung eines Praktikers aus der Gegenwart, dessen Geist von den modernen Thatsachen der socialen Politik erfüllt ist.

In den Urstaaten des Orients fiel die Staatswissenschaft mit aller übrigen Weisheit zusammen in der Theologie. »Theologie war die Eine Wissenschaft, Cultus die Eine Kunst.« Hiervon befreiten sich die Griechen, indem sie die politische Philosophie schufen. Aehnlich erscheint in der auf das Mittelalter unmittelbar folgenden Periode die Staatswissenschaft als aufgegangen in der Rechtswissenschaft. Sie aus dieser verwandten Disciplin selbständig herauszuarbeiten, ist die noch keineswegs vollendete That der neuesten Zeit. In einzelnen Zweigen wird freilich die Staatswissenschaft immer mit der Jurisprudenz verwachsen bleiben, wie nicht minder mit der Theologie und Philosophie. Es kommt nur darauf an, denjenigen Theil, der ihr ächtestes Eigenthum ist, auch für sich festzuhalten und durchzubilden, und dieser ist, im Gegensatze zu dem formellen Theile, dem Staatsrecht, der materielle, die Wissenschaft vom Volke. Die Erkenntniß dieser Thatsache blickt aus allen Ausführungen des Wagner'schen Buches vom Staat hervor.

Gegenüber jener Periode der wissenschaftlichen Systeme, der staatsrechtlichen Constructionen, der ästhetischen Theorien, der theologischen Streitfragen, ist nachgerade ein ungeheurer Realismus in unser literarisches Schaffen eingezogen, ein Vorherrschen der Beobachtung des thatsächlichen Lebens, daß man uns zu Kant's und Fichte's Zeit darob Barbaren gescholten haben würde. Der philosophischen Epoche ist eine wesentlich historische gefolgt. Die unerhörten Triumphe, welche die Naturkunde auf dem Wege der Analyse gewann, haben alle anderen Wissenschaften auf denselben Weg fortgerissen. Da mußte die Zeit auch wieder günstig werden für die naturgeschichtliche Untersuchung des Volkes. Ein unübersehbarer Stoff ist in dieser Richtung seit Jahrzehnten von tausend Händen mit wahrem Ameisenfleiße aufgehäuft worden. Leichtfertige Touristen und ernste Forscher wetteiferten, des deutschen Volkes Art bis ins Kleinste zu erkunden und zu schildern. Es erstand eine Wissenschaft der deutschen Sage, der deutschen Sitte, eine neue Wissenschaft der Statistik. Was dem modernen Geschichtschreiber die unmittelbare Quellenforschung, nicht in Büchern, sondern in Archiven, das ist dem Manne der Volkskunde das Anschauen des Volkes, wie es lebt und webt, mit eigenen Augen.

Aber die unendlichen Massen des rohen Stoffes liegen großentheils noch formlos und ungeordnet durcheinander. Es gilt die gesammelten Einzelkenntnisse aus der Naturgeschichte des Volkes nutzbar zu machen in der Lehre für die Idee des Staates, nutzbar in der Praxis für die Weiterbildung unseres Verfassungs- und Verwaltungswesens, für den Wiederaufbau der zerrütteten bürgerlichen Gesellschaft: es gilt diese naturgeschichtlichen Thatsachen zu benutzen als Schild und Schwert wider einseitig politische Parteilehren, die unser politisches Leben nach einmal vorgezeichneter Schablone zurechtschneiden wollen. Dieß nenne ich sociale Politik. Es gilt, auf den Grund dieser naturgeschichtlichen Thatsachen, die Staatswissenschaft zu erweitern und einen selbständigen Theil derselben als Gesellschaftswissenschaft neben das Staatsrecht und die Verwaltungskunde zu stellen. Denn es ist staatsrechtlich ganz gleichgültig und theilweise auch gleichgültig für die Verwaltungslehre, ob der Bauer einen Kittel trägt oder einen städtischen Rock, ob er seine Volksmundart spricht, oder nicht, ob er in seinem Familienleben die alten Sitten bewahrt, oder mit neuen vertauscht hat, ob der Verkehr eines Landes sich auf Eisenbahnen bewegt oder auf Kunststraßen oder auf Knüppeldämmen und Feldwegen, ob die Stammes- und Charakterzüge des Volkes sich nach großen Massen sondern, oder nach kleinen Gruppen, ob das Land, in dessen Gränzen die Staatseinrichtungen zur Geltung gebracht werden sollen, Bergland oder Flachland, Feldland oder Waldland, Küsten- oder Binnenland ist. Das öffentliche Recht sucht die allgemeinen Grundsätze auf, welche über diesen natürlichen Besonderungen von Land und Leuten stehen. Es wird aber doch eine todte, unpraktische Abstraction bleiben, wenn es nicht zugleich auf das berechtigte Wesen dieser Besonderungen selbst gegründet ist.

Die sociale Politik, indem sie von dem gesammten Culturbild einer Volkspersönlichkeit ausgeht, ruht darum auch auf weit breiterer Basis, als die bloße Volkswirthschafts-Politik. Die Nationalökonomie ist nur ein Hülfsfach zur Wissenschaft der Gesellschaft, denn sie untersucht wohl die Arbeit des Volkes, allein das ideale Moment der volksthümlichen Sitte, welches in und mit der Arbeit erwächst, liegt außerhalb des Kreises ihrer Studien. Die unwägbare, unmeßbare, trotzdem aber doch als eine gewaltige politische Macht vorhandene Sitte des Volkes bildet den eigensten Stoff der Untersuchung für die Naturgeschichte des Volkes als Grundlage einer socialen Politik. Im Gegensatz zu einer früheren Zeit, welche die feste Basis des Zählens, Messens und Wägens im Staatshaushalt über Gebühr vernachlässigte, scheint aber der an sich so löbliche Eifer, mit welchem man jetzt diese Dinge betreibt, bald wieder ins Extrem überschlagen zu wollen, indem die ganze Kunst der Staatsverwaltung in die einseitige Function einer kaufmännischen Buchführung verkehrt zu werden droht. Und vor den ungeheuren Zahlenreihen, welche gegenwärtig unsere Zeitungen wie unsere publicistischen Schriften erfüllen, darf man wohl zu Zeiten erschrecken: denn hinter ihnen lauert oft der trügerische Gedanke, daß mit diesen Ziffern zugleich die Kenntniß der öffentlichen Zustände gegeben sey: hinter ihnen verbirgt sich bereits nicht selten die politische und sittliche Ketzerei, welche die Mehrung des materiellen Nationalwohlstandes als einziges Ziel des Volks- und Staatslebens setzt. Man verwechselt eben hier die Wirthschaftspolitik mit der socialen. Dem entspricht auch die einseitige Richtung, welche die Statistik genommen hat. Denn der große und ruhmwürdige Eifer, mit welchem in den letzten Jahren diese Wissenschaft in Deutschland selbständiger herausgearbeitet worden ist, hat zumeist entweder der Ergründung der Staatshaushalte, oder der Kunde vom Handels- und Gewerbewesen, der Volkswirthschaft im allgemeinen Sinne gegolten. Dagegen ist für die in beglaubigten Zahlen und zeitgeschichtlichen Schilderungen festgestellte Kunde des Volkslebens nach seinen örtlichen Gruppen, des Gemeindewesens, der Gestaltungen der Stände und Berufe im Kleinen und Einzelnen noch weit weniger geschehen. Das heißt: wir besitzen wohl gute Anfänge zur Statistik des Staates, aber noch keineswegs zur Statistik der bürgerlichen Gesellschaft, zur Statistik der Volkswirthschaft, aber nicht der Naturgeschichte des Volkes. Denn die Wirthschafts- und Finanzstatistik ist für die Wissenschaft vom Volke zwar eine unentbehrliche, aber keineswegs die einzige Quelle. Soll diese erst in ihrer Frühblüthe entwickelte Wissenschaft einen urkundlich beglaubigten Boden der Thatsachen erhalten, dann muß sich zu der wirtschaftlichen Zahlenstatistik eine geistige Statistik der Sitten gesellen.

Wie die Landesgeschichte in der Ortsgeschichte gründet und sich ergänzt, so muß auch die sociale Statistik bis zum Dorf und Gehöfte sich verzweigen. Wir verlangen von ihr beispielsweise: Tabellen über Ab- und Zunahme der Bevölkerung der einzelnen Völker, Gauen und Gemeinden, nicht bloß aus der Gegenwart, sondern wo möglich auch aus der alten Zeit! Aufzeichnung über Stand, Beruf, Charakter, Sitten und Gebräuche der Bewohner der Gemeinden oder Gemeindegruppen; das Wesentliche vom Gemeindevermögen, Güterreichthum und Güterreintheilung, Nutzungen, Gerechtsamen und Lasten; eine Skizze der Flurmarkungen, Proben merkwürdiger Flurnamen; Angaben über die kirchlichen Zustände etc. Unsere geschichtlichen Topographien gehen selten bis auf die neueste Zeit, geben meist nur die politische, nicht die Culturgeschichte der einzelnen Städte und Dörfer, und wenn sie auch alles dieß vereinigten, so ist doch bis jetzt in den meisten deutschen Ländern die Statistik des Besitzstandes der einzelnen Gemeinden und seiner Formen, der Gerechtsame, Lasten u. dgl. nur in den Akten, nicht in Büchern zu finden gewesen. Und endlich von einem bis auf einzelne Gemeinden heruntergehenden gesellschaftlichen Charakterbild ist überall noch kaum eine Spur vorhanden. Auf solcher Ortsstatistik aber beruht hauptsächlich die »Landeskunde« in der vollwichtigsten Bedeutung des Wortes und eine solche urkundliche und ins Einzelste gehende Landeskunde ist wiederum die reichste und reinste Quelle für die Wissenschaft der Gesellschaft.

Trotz aller Lücken sind in den letzten Jahrzehnten die Vorarbeiten zur Naturgeschichte des Volkes und zur Gesellschaftskunde wie ein mächtiger Strom über uns hereingebrochen. Fast jeder Literaturzweig hat in allerlei Form sein Theil dazu gespendet. Als die belletristische Presse des jungen Deutschlands die ästhetischen Schulfragen sattsam durchgearbeitet hatte, stahl sich mit der socialen Frage die Politik in die Schöngeisterei hinein. Als die junghegel'schen Philosophen mit ihren religiös-philosophischen Folgerungen zum äußersten Rande gekommen waren, wandten sie sich zu den socialen und culturpolitischen. Die Armuth und das Elend des Volkes hat die Männer der Kirche zu reichen naturgeschichtlichen Studien des Volkslebens geführt, und die »innere Mission« ist nicht bloß eine Mission der Kirche, sondern auch der aufbauenden Socialpolitik. Deutschland war der theoretischen Constructionen müde: da fing man an, sich wieder für die großen materiellen Interessen zu begeistern, für Zoll- und Handelsfragen, Industrie, Volkswirthschaft, Regelung der Auswanderung, Abhülfe der Armennoth. Aber überall lauerte die sociale Frage im Hintergrunde; man förderte die naturgeschichtliche Analyse des Volksthumes oft ohne daß man es merkte. Die sociale Frage war das eigentliche Salz auf diesem trockenen Brode der materiellen Interessen. Darin bekundete sich recht der mächtige Zug der Zeit, daß selbst ganz fernstehendes wissenschaftliches und literarisches Wirken doch wieder zuletzt der Gesellschaftskunde dienstbar werden mußte. Mit dem Studium der deutschen Grammatik brach für die Erforschung unserer Sitten, Sagen und Rechtsalterthümer ein neuer Morgen an. Die Finanzwissenschaft führte zur Nationalökonomie, die Nationalökonomie zur Wissenschaft vom Volke. Die Socialisten wollten die historische Gesellschaft theoretisch vernichten und bewirkten dadurch, daß die Untersuchung dieser selben historischen Gesellschaft erst recht im Geiste der empirischen Analyse aufgenommen wurde.

Der moderne Roman mußte sich mehr und mehr zur Charakterzeichnung und den Geschicken des Volkes und der Volksgruppen wenden, wo früher nur von den einzelnen Helden die Rede war. Das Volk spielt wieder eine entschieden größere Rolle als Kunstobject denn je zuvor. Kaulbach malt Völkergeschichte, wie man vordem einzelne historische Personen und Gruppen gemalt hat. So verstand auch Rottmann, der größte Landschaftsmaler unserer Zeit, den Charakter eines ganzen Landstrichs auf seinen großartigen Landschaftsfresken darzustellen, wo man sich vordem mit einem kleinen Bruchstück aus einer solchen Charakteristik begnügt haben würde. In der Oper ist der Chor, das Volk, musikalisch gleichberechtigt worden mit dem einzelnen Helden, und die Ensemblenummern wetteifern in ebenbürtiger Dramatik mit dem Sologesang. Das Volk in seinen Gruppen und Gliedern wird zum ästhetisch bedeutsamsten Helden in der ganzen modernen Kunst.

Die gefeiertsten Männer der Wissenschaft haben es nicht verschmäht, in der Journalistik unserer Tage die großen socialen Culturfragen fleißig zu erörtern. Die sociale Politik beginnt allmählig der ganzen deutschen Zeitungspresse einen eigenthümlichen Charakter zu geben. Bis etwa gegen das Jahr 1844 handelte man hier die Vorstudien zur Gesellschaftskunde noch ziemlich kühl und sparsam ab; die literarischen und religiösen Zeitfragen standen obenan; aber mit jenem Zeitpunkt bricht das bestimmte social-politische Interesse entschieden durch, bis es im Jahr 1848 plötzlich wieder wie weggefegt erscheint. Es war aber auch nur ein Schein, denn gleichviel welche Partei in jenen Revolutionstagen gesiegt haben würde, wir wären doch durch den innern Lebenstrieb unsers Nationalcharakters zuletzt wieder auf dem Weg angekommen, wo wir durch die Reform der Gesellschaft den Staat zu reformiren und neuzubauen gesucht hätten; aber nie und nimmer umgekehrt nach französischer Art die Gesellschaft durch den Staat.

In den Jahren 1848 und 49, wo das Staatsrecht von allen Dächern gepredigt wurde, war die deutsche Journalistik verhältnißmäßig minder einflußreich als vorher, obgleich sie zum Erschrecken in die Länge und Breite gewachsen war. Die Macht der Presse war an die Parlamente und Volksversammlungen übergegangen. In England oder Frankreich würde ohne Zweifel das Umgekehrte eingetreten, die Macht der Presse würde gewachsen seyn mit der Macht der Parlamente. Die »Deutsche Zeitung« von Gervinus ging zu Grunde, weil sie sich drei Jahre lang ausschließlich mit der reinen Politik beschäftigen wollte. Nicht das angewandte Staatsrecht, sondern die angewandte Sittengeschichte gibt der deutschen Journalistik ihren eigenthümlichen Reiz, ihren wahrhaft nationalen Farbenton. In den wildbewegten Tagen einer gewaltigen großherzigen Aufwallung des ganzen deutschen Volkes konnte der »Rheinische Merkur« als rein politisches Organ eine nationale Macht seyn. Hätte man ihm aber Lebensfrist für ruhigere Zeiten gegönnt, er wäre gewiß an demselben organischen Herzfehler gestorben wie später die »Deutsche Zeitung« – er wäre langweilig geworden. In Frankreich wird man es nicht begreifen können, warum ein politisches Blatt zu Grunde gehen müsse, lediglich weil es ein rein politisches Blatt sey. Aber in dem centralisirten Frankreich ist der Staat der hundertarmige Riese, die Gesellschaft der Zwerg; in Deutschland ist es umgekehrt.

Die Deutschen sind kein unpolitisches Volk; sie sind ein entschieden social-politisches. Der alten Schule, die bloß von Verfassungsfragen einerseits, andererseits vom dunkeln Räthselspiel der hohen Politik zehrt, will das freilich nicht in den Kopf. Die alte Schule erkennt nur eine Politik des Rechtes oder der Diplomatie (wie man in den kleinen Staaten noch häufig glaubt, nur ein Jurist oder Diplomat könne Minister werden), keine Politik der Sitte. Belauschet aber das deutsche Volk bis zum bildungslosesten gemeinen Mann abwärts, und ihr werdet finden, daß Kleinbürger, Bauern und Tagelöhner in den Fragen der Wirthschaftsinteressen, des Gewerbelebens, der Gesellschaftsgliederung durchschnittlich ein gesundes Urtheil, ja sogar einen vorweg festgeprägten Parteistandpunkt haben. Die Naturgeschichte des Volkes fassen sie mit ahnendem Verständnis trefflich auf. Social-politische Parteien gibt es im deutschen Volke sehr entschiedene nach rechts und links, nicht künstlich eingeimpfte, sondern naturwüchsige. Das rein politische Parteiwesen ist dagegen noch niemals bei unserm gemeinen Mann angeschlagen, und wer sich nicht durch die deutlichen Winke in der neuesten Entwicklung unserer gesammten Wissenschaft, Kunst und Literatur von der Wahrheit des Satzes überzeugen lassen mag, daß der Deutsche ein geborener Social-Politiker sey, der kann sich in jeder Stadtschenke und Dorfkneipe darüber belehren lassen. Dort kannegießern die Leute bloß, sofern es sich um eine Frage des Staatsrechtes oder der äußern Staatsmacht handelt, dagegen über die socialen Gebrechen, Bedürfnisse und Forderungen ihres Standes und Gewerbes, über die großen Tagesfragen der Arbeit, der Genossenschaften und Vereine, der Gemeindeverfassung, der Familienzucht, der Sitte im öffentlichen Leben, über die naturgeschichtliche Eigenart der sie umgebenden Volksgruppen sprechen solche deutsche Naturalisten der Social-Politik nicht selten wie ein Buch und oft auch gescheidter wie ein Buch.

Man wähne nicht, es mangle unserm Volke am Sinn für die großen Probleme des Staats- und Völkerrechtes, weil es zur Zeit noch viel tieferes Verständnis für Arbeit und Sitte als für Rechtszustände zeigt, und es sey wohl gar dieser Mangel ein künstliches Produkt unserer inneren Unfreiheit und äußeren Ohnmacht! Der Weg zum Recht führt durch die Sitte, der Weg zur Freiheit durch die Selbsterkenntnis, der Weg zur Macht durch das liebevolle Umfassen unserer nationalen Eigenart. Solch ein Weg ist langsam, aber sicher, und eine gute Krümm' »führt nit üm.«

Die Erfassung des Volkes als Kunstobject soll in dieser gegenwärtigen Zeit nicht bloß dem Schriftsteller, Lehrer und Künstler gewonnen seyn, sondern in noch weit reicherem Maße dem Staatsmann. Hat sich der Politiker in des Volkes Wesen nicht eingelebt, wie der Künstler in seinen Stoff, weiß er sich die Charaktere des Volksthumes nicht als ächte Kunstobjekte plastisch abzurunden, dann wird er in aller seiner Staatsweisheit doch immer nur mit der Stange im Nebel herumschlagen. Die naturgeschichtliche Analyse des Volkslebens aber führt dazu, daß uns das Volk zuletzt in seiner plastischen Persönlichkeit recht wie ein harmonisches Kunstwerk erscheinen muß. Wie aller naturwissenschaftlichen Untersuchungen höchste Aufgabe dahin geht, das Weltall als einen in sich vollendeten harmonischen Gesammtbau zu erkennen, als einen Kosmos, so müßte es auch zuletzt mit allen naturgeschichtlichen Untersuchungen des Volkes geschehen. Es ist eines der stolzesten Ziele der Gegenwart, die Welt als ein in sich selbst befriedigtes, freies, harmonisches Kunstwerk zu begreifen; so wird es auch eines der stolzesten Ziele der Gegenwart werden, denselben gewaltigen Gedanken in unserm engeren Kreise zu wiederholen und auch das Volk allmählig naturgeschichtlich zu begreifen und darzustellen als ein geschlossenes Kunstwerk, als den Kosmos der Politik.


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