Wilhelm Heinrich Riehl
Land und Leute
Wilhelm Heinrich Riehl

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Viertes Kapitel. Die staatlichen Uebergangsgebilde und die politische Moral.

(Geschrieben im Jahre 1850)

Höchst lehrreiche Züge zur Zeichnung des Verhältnisses zwischen unserm Volksleben und unsern Staatenbildungen bietet Kurhessen mit seinen neueren Krisen und Zuständen. Hessen hat von Haus aus das Zeug zu etwas mehr als einem Kleinstaat, es gibt einen Stamm, ein Volk der Hessen, es gibt eine wirkliche hessische Geschichte. Das Land ist aber durch die Ungunst seiner geschichtlichen Schicksale auf der Uebergangsstufe von einem Kleinstaat zum größern Staate stehen geblieben. Seit Jahrhunderten bereits hat das Hessenland der ältern Linie den Kelch des gemeinsamen deutschen Jammers immer auch noch einmal in besonderer Füllung zu trinken gehabt. Zur Zeit des schmalkaldischen Bundes war Hessen auf den Gipfel seiner politischen Bedeutsamkeit gestiegen, ein genialer Fürst saß auf dem Thron und die Landgrafschaft spielte eine Rolle in den deutschen und europäischen Händeln, welche wir mit modernem Ausdruck als die eines deutschen Großstaates bezeichnen würden. Aber mit dem Tage vor Ingolstadt, wo die Entscheidung über des deutschen Reiches Zukunft in Hessens Händen lag, erschien auch jenes dämonische Schicksal, welches fortan nicht mehr von Althessen gewichen, und jenem Moment des entscheidenden deutschen Einflusses folgte die Gefangennehmung des Landgrafen Philipp und die Vernichtung seiner politischen Macht auf dem Fuße. Das Märtyrthum, welches Philipp in fünf Jahre langer Haft auf sich genommen, ist von da an gleichsam auf das ganze alte Hessenland übergegangen. Mit des Landgrafen Tode kam die hessische Brudertheilung, in ihr ward die natürliche Geltung Hessens als des politischen Schwerpunktes im westlichen Mitteldeutschland für Jahrhunderte vernichtet. Darmstadt, das neue Hessenland, welches der Volkswitz der Althessen in Armstadt umtaufte, blühte auf und wurde reich, indeß Althessen zurückging. Politischer Hader und Religionskämpfe entzweiten die beiden, ob auch religionsverwandten, Bruderländer, und Hessen schmeckte so den dreißigjährigen Krieg vor, noch ehe derselbe für ganz Deutschland hereingebrochen war. Ein Landgraf, der zugleich König in Schweden, ließ Kurhessen schon vor langer Zeit das Elend jener zwieschlächtigen Stellung durchkosten, an welchem jetzt eine der edelsten deutschen Volksgruppen, die schleswig-holsteinische, zu verbluten droht. Dann kam das Regiment der persönlichen Laune und der geheimen Einflüsse; von dem 18. Jahrhundert wurde es dem 19. vererbt. Das tolle Fastnachtstück des »Königreichs Westphalen,« als Jerome in Kassel Komödie spielen ließ und Maskenbälle hielt und beiläufig auch regierte, fiel als lustige Episode zwischen so manche tragische Situation; es stellte wenigstens eine neue und originelle Schattirung des Regiments der persönlichen Laune dar. Die kurhessischen Zustände wurden sprüchwörtlich. Die Stürme des Jahres 1830 zertrümmerten die alte ständische Verfassung; die neue Constitutionsurkunde nahm sich auf dem Papier vortrefflich aus, und galt bald doch nur für ein Stück Papier.

In Kurhessen und Hessendarmstadt hatte sich allmählig ein förmlicher hessischer Dualismus herausgebildet, der auch noch heute für das ganze politische Leben beider Länder maßgebend wird. Darmstadt ist nicht nur ein neues Land seiner Gebietszusammensetzung nach, es ist auch seit Menschenaltern im Sinne eines modernen Staates verwaltet worden. Bei Kurhessen dagegen versuchte man's immer wieder mit dem patriarchalischen Regiment; über den Erfolg hat uns noch die jüngste Vergangenheit zur Genüge belehrt. Hessenkassel sah sich, als ihm Marburg wieder zugefallen war, im Besitze von fast der ganzen althessischen Ländermasse; fast alle die Orte, an welche sich die großen Erinnerungen der hessischen Geschichte knüpfen – Kassel, Marburg, Frankenberg, Fritzlar u. s. w. zusammt den Stammsitzen der einst so mächtigen niederhessischen Ritterschaft – lagen in seinen Grenzen, und jener ächte althessische Volksschlag, der sich in den Bauern im Schwalmgrunde, an der oberen Lahn und anderwärts so merkwürdig rein erhalten hat, bildete den Kern einer ganz originellen Bauernschaft. Wie das Land im Laufe der Zeiten geschwankt hat zwischen dem Beruf zu einem kleinen oder zu einem größern Staate, so steht dieses zähe, trotzige Volk der Althessen, der blinden Hessen, auf der Verbindungsbrücke zwischen norddeutschem centralisirtem und mitteldeutschem individualisirtem Volksthum. Da sind noch die störrigen Bauern, die von Haus aus gar nicht recht nach Mitteldeutschland passen wollen, die aber durch politische Einflüsse immer tiefer in mitteldeutsches Wesen hineingetrieben worden sind. Eine Sage von einem hessischen Dorfe im Ohmgrund, welches katholisch blieb, obgleich es ganz nahe bei dem streng protestantischen Marburg liegt, zeichnet dieses trutzige Wesen. Die dortigen Bauern waren nämlich, so lautet dieser historische Mythus, kurz nach der Reformationszeit wirklich zur neuen Kirche übergetreten. Als sie nun zum erstenmale das Abendmahl unter beiden Gestalten erhalten sollten, trug sich's zu, daß man aus Versehen den Inhalt eines Essigkruges statt Weines in den Kelch geschüttet hatte. Da erklärten die Bauern, lieber, als daß sie solchen Wein tränken, wollten sie gar keinen trinken, kehrten zur alten Kirche zurück, und mitten unter protestantischen Nachbarn blieben sie ihr treu bis auf diesen Tag. Diese wunderbare Kreuzung des äußersten Eigensinnes mit dem äußersten Leichtsinne bekundet uns, daß wir an den Grenzmarken des starren niederdeutschen und des beweglichen mitteldeutschen Wesens stehen.

In den schweren Krisen, welche Kurhessen in der jüngsten Vergangenheit durchgemacht hat, zeigt es sich, daß das Staatsregiment mächtiger war, als in den Kleinstaaten, aber minder mächtig als in den deutschen Großstaaten, und gerad hierdurch war das Land in weit höherem Grade ein Gegenstand des Kampfes für die sich befehdenden Mächte der deutschen Sonderpolitik, als es irgend ein vollendeter Kleinstaat gewesen ist. Es entspricht dieser Stellung das passive, aber keineswegs theilnahmlose Verharren des kurhessischen Volkes, welches weder mit jener besonnenen Energie, wie sie die Schleswig-Holsteiner entwickelten, noch mit dem ebenso rasch auflodernden als wieder zusammensinkenden Studentenenthusiasmus der südwestdeutschen liberalen Volksmassen zu vergleichen ist.

Nicht bloß die Substanz der kurhessischen Händel war dem Volke sehr einleuchtend, sondern auch die Form, in welcher dieselben sich entwickelten. Sie ist im politischen Leben für uns zwar neu, im bürgerlichen aber trivial: die Form einer Proceßverhandlung. Die beiden Hauptmächte des Staatslebens, die gesetzgebende und vollziehende Gewalt, führten in Kurhessen einen großen Proceß mit einander: jeder Theil versicherte, sich auf sein gutes Recht berufen zu können, die Advokaten stritten herüber und hinüber, aber freilich sprach jeder Theil zu einem andern Richter. Und wunderlich genug ist der ganze Gang dieses großen Processes wiederum aus einer Mosaik von lauter kleinen Processen zusammengesetzt gewesen, ein endloser Knäuel von Specialprocessen umschlang alle Vorkämpfer der processirenden zwei Parteien, und seltsamer Weise war es endlich ein Proceß, mit welchem man den ersten Stein auf den kurhessischen Minister schleuderte. Was ein Proceß ist, das weiß der gemeine Mann in Deutschland leider nur allzugut, er kennt die processualischen Formen ganz anders als die diplomatischen. Circulardepeschen und Instructionen und Noten sind ihm fremd, aber was Decrete, was Insinuationen, was Erkenntnisse und Instanzen sind, das hat er gründlich los, sein eigener Geldbeutel hat ihm zum öftern Ausweis darüber gegeben.

Die Analogie des Protestes geht aber noch weiter. Dem gemeinen Mann in Deutschland ist der Proceß freilich ein Rechtsstreit, aber der Ausgang ist ihm nach uralter Tradition nicht sowohl der Wahrspruch des allgemeinen Rechtsbewußtseyns als eine Lotterie des Rechtes. Der Civilproceß ist dem Bauern ein Hazardspiel. Mit ganz ähnlichen Geheimmitteln des ererbten Aberglaubens, mit welchen andere Völker zum Glücksspiele sich rüsten, betritt der deutsche Bauer heute noch am entscheidenden Tage die Gerichtsstube.

Die Leidenschaft der Deutschen des Tacitus für das Spiel lebt weit mehr noch in den Gerichtsstuben fort als an den grünen Tischen. Der Proceß ist dem gemeinen Manne ein »Rechtsspiel.« Als ein »Rechtsspiel« sieht die große Masse des Volkes ihre Privatprocesse an, als ein Rechtsspiel ist auch der Bevölkerung des Landes der politische Proceß in Kurhessen erschienen, und darin lag die auflösende und zersetzende Kraft der kurhessischen Händel.

Es waren die zwei höchsten Autoritäten der Gesetzesgewalt, welche im Processe mit einander lagen, im »Rechtsspiele,« wie es das Volk auffaßt. Mag in solchen Fällen gewinnen, wer will, die volle, ganze Autorität des Gesetzes im Volksbewußtseyn wird jedenfalls verlieren. Das Volk urtheilt nicht so fein, daß es die abstracte Würde des Gesetzes unterschiede von den persönlichen Vertretern derselben. Auch beim Civilprocesse glaubt der Bauer, der von seinem guten Rechte vollständig überzeugt war, darum doch nicht, daß der Entscheid etwas anderes gewesen sey, als der letzte Würfelfall im Rechtsspiel. Die schwächste Seite in dem Volkscharakter der mitteldeutschen Kleinstaaten liegt nun gerade darin, daß der Glaube an die Autorität des Gesetzes hier am meisten unterwühlt und gebrochen, daß der Geist der conservativen Sitte vielfach erloschen, daß die naive Loyalität verschwunden ist. Darum sollte man hier gerade alles vermeiden, was einen Proceß der Autoritäten, was ein politisches Rechtsspiel herbeiführen kann.

Dadurch erhielt Preußen ein so gewaltiges moralisches Uebergewicht in den mitteldeutschen Ländern, daß es in den entscheidenden Augenblicken der Jahre 1848 und 1849 bewies, wie tief der instinktive Respekt vor der Wucht des Gesetzes noch in dem Bewußtseyn seiner Bevölkerung gewurzelt sey. Dies war just jenes eigenthümliche Wesen, welches den Demokraten als »specifisches Preußenthum« so erstaunlich lästig vorkam. Das Bedürfniß, unter der Zucht einer strengen Gesetzesautorität zu stehen, ist einer der ersten Vorzüge, welche der ernstere, abgeschlossenere, an größere politische Maße gewöhnte norddeutsche Volkscharakter vor dem zerfahrenen mitteldeutschen voraus hat. Vor wenigen Menschenaltern war auch in den mitteldeutschen Kleinstaaten der Sinn für die Autorität des Gesetzes noch weit stärker vorhanden. Aber die moderne Kleinwirthschaft, welche, wo es die Executive galt, das Gesetz nicht als die Basis des Vollzugs, sondern als die Satire auf den Vollzug erscheinen ließ, zerstörte furchtbar rasch diesen guten Geist. Nicht als ob wir Mitteldeutsche allesammt Anarchisten und gesetzlose Menschen wären, aber jener gleichsam angeborene Instinkt der Gesetzmäßigkeit ist den Massen der Bevölkerung verloren gegangen. Er kann nur wiedergewonnen werden durch die andauernde Herrschaft einer strengen und gerechten Autorität des Gesetzes, einer Autorität, die nicht mit sich selber in Fehde liegt, die nicht im Rechtsspiel um ihre eigene Macht processiren muß, einer Autorität, die zugleich zwischen den Zufälligkeiten unseres politischen Staatensystems und den natürlichen Besonderungen des Volksthumes zu vermitteln weiß.

Die kurhessischen Händel, insofern sie eben in der Gestalt eines Kampfes um die Macht des Gesetzes auftraten, der andererseits doch wieder nur ein persönlicher Kampf war, in der Gestalt eines Processes, eines Rechtsspieles, sind nach beiden Seiten ein furchtbarer Stoß für die Autorität des Gesetzes im deutschen Volksbewußtseyn gewesen, und zwar nicht bloß, weil sie als ein so populärer, dankbarer Stoff in so populärer Form erschienen, sondern auch, weil sie gerade in dem Theile Deutschlands spielten, wo es am meisten noth thut, daß das Ansehen der gesetzlichen Gewalt auch als mit den Trägern derselben untrennbar verbunden wieder Boden gewinne.

In Staaten mit anderen Volkszuständen, in Staaten von größerer materieller Macht, hätte die Regierung hoffen können, einen solchen Proceß wirklich zu gewinnen, in Kurhessen dagegen hätten es beide Theile aus Gründen der socialen Politik, um der Autorität des Gesetzes im Volksbewußtseyn, um der Schwachen willen (und die Schwachen bilden die Masse) nicht zum Proceß, nicht zum Rechtsspiel kommen lassen dürfen. Nicht die streitenden Parteien gewinnen bekanntlich in der Regel bei den Processen, sondern die Advokaten, und da die Advokaten im Lande nicht fertig zu werden schienen, so standen die auswärtigen Advokaten alsbald viele tausend Mann hoch vor der Thüre des armen Hessenlandes. Der Staat ist heutzutage der mächtigste, in welchem die Autorität des Gesetzes am tiefsten und naivsten im Volksbewußtseyn wurzelt und – die Autorität der Sitte. Denn was der Instinkt der Gesetzlichkeit im politischen Leben ist, das ist der Instinkt der Sitte im socialen. Wenn ja eine Nothwendigkeit vorhanden ist, daß die deutschen Kleinstaaten von den großen verschlungen werden, dann ist sie es zumeist darum, weil in jenen mit dem zerfahrenen Staatsregiment auch die Autorität des Gesetzes und der Sitte am ärgsten zerfahren ist.

Hessenland hat ein historisches Recht auf der Karte von Deutschland, es hat im deutschen Westen denselben natürlichen Beruf der Vermittelung norddeutschen und mitteldeutschen Wesens, wie Sachsen im Osten. Dabei müßten aber freilich die Grenzen Hessens wie Sachsens anders gesteckt seyn wie gegenwärtig. Die Zerstückelung und theilweise Zertrümmerung Hessens und Sachsens ist im Hinblick auf die gesammte staatliche Volksgliederung Deutschlands nicht tief genug zu beklagen.

Wenn man durch einen großen Theil Kurhessens geht, dann sieht der Wanderer häufiger als anderwärts die Trümmer früheren Wohlstandes, stolze alte Kirchen in kleinen heruntergekommenen Dörfern: stattliche Brunnen, mit hübscher Steinmetzarbeit geziert, die auf einen früheren Ueberschuß des Gemeindevermögens hindeuten, der sich jetzt allem Anschein nach in einen Ueberschuß an Gemeindeschulden verwandelt hat; Ringmauern, wo man jetzt den Ort passender mit einer Gartenhecke einfrieden würde. Und dennoch wohnt in diesen Dörfern mehrentheils noch der alte hessische Bauer, heruntergekommen, oft aus eigenem Trieb verbittert, öfter verhetzt, häufig vom Branntwein entnervt, und doch im großen Ganzen zumeist sich selber treu. Und wie ist die einst so stolze, reiche und mächtige hessische Ritterschaft zusammengeschmolzen! Aber auch jene Denksteine fürstlicher Macht, mit denen des Landes Hauptstadt so überreich geschmückt ist, beginnen zu verwittern, ob sie auch meist kaum ein Jahrhundert erst gedauert haben. Und zwischen ihnen ragt bedeutungsvoll jene seltsame moderne Ruine, die »Kattenburg« hervor, ein kolossaler Steinhaufen, der den Unterbau zu einem an Pracht und Festigkeit alles überstrahlenden Fürstenschlosse bilden sollte; aber der erschütternde Schritt der modernen Zeitgeschichte ließ das stolze Werk nicht über das Erdgeschoß aufsteigen, und die Grundgewölbe beginnen zu bersten, noch ehe die Last schützend auf ihnen ruht, denen sie wiederum eine Stütze seyn sollten: grüne Reiser sprossen zwischen den Steinen auf, ob es gleich kaum ein paar Jahrzehnte her ist, daß man sie wie für eine Ewigkeit fest zusammengefügt, und die Knaben spielen in den labyrinthischen Gängen der im Entstehen gebrochenen Burg.

Das sind einige Züge zu der Geschichte vom Widerstreit der deutschen Volksgruppen und der deutschen Staatengebilde.


 << zurück weiter >>