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Zu den beliebten Gesprächsgegenständen einer anglokeltischen Gesellschaft gehören die Kirche und ihr Geistlicher. Natürlich nur, wenn die Gesellschaft aus Leuten besteht, die, wie die bezeichnende Rede lautet, »sich selbst achten,« d. h. sich in Obacht nehmen, daß sie nichts sagen, was andre für unzulässig erachten. Solche Gespräche sind, wie ich merke, in Deutschland stark außer Übung gekommen; in meiner Jugendzeit waren sie in manchen Kreisen noch beliebt. Aber da hatten sie doch oft eine Neigung, sich zu vertiefen. Denn da es in deutschen Gesellschaften immer Leute gibt, die sich so wenig achten, daß sie offen und ehrlich heraussagen, was sie denken, so kam man auf Glauben und Unglauben, Himmel und Hölle, Feuerbach und Strauß zu reden, und es wurden innige aus der Tiefe des Herzens geschöpfte Bekenntnisse des Glaubens von schneidenden Zweifeln durchbohrt, dabei aber wohl auch manche Schärfe des Zweifels stumpf befunden. In Amerika fand ich es ganz anders. Da griffen die Kirchen und die Sekten tief in das Leben der ganzen Gesellschaft ein, und so wie es zu oberst methodistische Universitäten und presbyterianische Legislaturen gab, unterhielt man sich weiter unten auf baptistischen Tanzkränzchen oder hochkirchlichen Picknicks. Trotz der ungeheuern Hohlheit und Langweile solcher Veranstaltungen in den Händen halbgebildeter Eiferer waren Missionsstunden die beliebtesten Versammlungsorte der Jugend beiderlei Geschlechts. Die Frage wurde ohne Furcht vor Lächerlichkeit erörtert, ob der Beitritt zu Turn- und Gesangvereinen mit der Zugehörigkeit zu einer bestimmten »Denomination« vereinbar sei. Sogar Sekten, die kein einziges Dogma irgendeiner christlichen Kirche bekannten, wie die Unitarier, dieser radikalste Schoß des Kalvinismus, umspannten und durchdrangen in dieser Weise das Leben ihrer Mitglieder, und gerade diese Sekte, die bei geringer Zahl ihrer Anhänger, worunter aber Geister und Charaktere ersten Ranges waren, in den entscheidungsreichen fünfziger und sechziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts einen gewaltigen Einfluß auf das öffentliche Leben in Neuengland und dadurch in ganz Nordamerika übte, gibt ein interessantes Beispiel von dem rückwirkenden Vorteil dieser straffen Zusammenfassung auch auf das irdische Wohl der Menschen, die von keinem andern Bande so fest umfaßt waren als von dem religiösen. Was Wunder also, daß die kirchlichen Fragen fast das ganze Feld okkupierten, das die geschäftlichen und die politischen Interessen frei ließen. Es sprach sich das auch in einer für Europäer überraschenden Pflege und Verbreitung der religiösen Zeitschriften- und Traktatliteratur aus. Aber gerade in dieser kamen die engen, konventionellen Auffassungen einer sehr äußerlichen Kirchlichkeit oft so naiv zum Ausdruck, daß wir Neuhinzugekommnen nicht genug staunen konnten, wie die intelligenten, fortgeschritten Amerikaner solche Plattheit und Läppischkeit mit der ernstesten Miene aufnahmen und diskutierten.
Hier war uns ein Gegengewicht gegeben, das manche Überlegenheit der anglo-amerikanischen Gesellschaft aufzuwiegen schien. Ich bin immer der Meinung gewesen, daß die Blüte der freien Gemeinden verschiedner Art, aus denen dann auch die ethischen Gesellschaften hervorgegangen sind, gerade unter den Deutschen, und besonders auch unter deutschen Juden, der Überzeugung vieler Eingewanderter entsprang, daß sie damit einen geistigen Vorsprung vor den Angloamerikanern gewönnen, von denen sie sich politisch, wirtschaftlich und meist auch gesellschaftlich weit übertroffen fühlten. Sie haben sich darin getäuscht; sie vergaßen, daß man nicht mit einem Bekenntnis, sei es des Glaubens oder des Unglaubens, siegt, sondern nur mit dem Geist, dem Mut, der Tatkraft, der Überzeugungstreue, womit es vertreten wird. Die deutsche Einwandrung aber, an sich arm an Intelligenzen, sah fast keine von den geistigen Kräften, die sie mitbrachte, bereit, sich an die Spitze der freien Gemeinden zu stellen. Verhieß doch die Politik, zunächst gleichbedeutend mit Tagesschriftstellerei, ganz andre Preise. Und welche Wandlung haben die Menschheitsapostel durchgemacht, die in den freien Gemeinden das Wort führten! Ich denke an einen der meistgenannten, den Böhmen Naprstek, einst der stürmische Aufklärer und Humanitätsapostel von Milwaukee, der als fanatischer Tscheche endigte; seinen Landsleuten hat er ein in manchen Beziehungen wertvolles ethnographisches Museum in Prag hinterlassen. In Newyork wohnte ich einmal einem Konventikel bei, wo ein Bäckermeister, früher Jude, vielleicht auch später wieder Jude, ein Schmähgedicht auf Deutschland im Stil von Atta Troll, geist- und geschmacklos über die Maßen, vortrug, das eine kleine Anzahl der Anwesenden veranlaßt, sich demonstrativ zu entfernen, während die andern dem Pfuscher ihren Beifall zujubelten. Überhaupt, wie leuchtet in diesen Kreisen der Stern Heines, heller sicherlich, als er jemals in Deutschland geleuchtet hat. Die Agitation für die Aufstellung seines in Düsseldorf abgelehnten Denkmals in Newyork, die vor ein paar Jahren die deutsch-amerikanischen Kreise bewegte, war nur der Ausfluß eines weit zurückreichenden Heinekultus der dortigen Halbbildung und der oberflächlichern Elemente des deutsch-amerikanischen Judentums. In San Francisco stand die deutsche freie Gemeinde einst höher, aber ihr Führer schlug sich nur kümmerlich durch. Kurz, wenn man diese Bewegung verglich mit der nahverwandten der Unitarier, fiel der Vergleich ganz ausgesprochen zugunsten der Amerikaner aus.
Andre Sekten und Kirchen haben ähnliche Erfahrungen gemacht. Sogar die Lutheraner, die so viele kräftige Stützen und in den schon seit den dreißiger Jahren eingewanderten Altlutheranern einen alten, überzeugungstreuen Kern hatten, haben sich veruneinigt, gespalten, wiedervereinigt, ohne in all diesen Wandlungen die Kraft zu gewinnen, die so manche kleine, schwach fundierte Glaubensgemeinschaft der Amerikaner hat. Ich möchte nicht ohne weiteres daraus folgern, wie man so oft drüben zu tun pflegt, daß der Deutsche ursprünglich weniger religiös angelegt sei als der Anglokelte. Es kommt zunächst nur die Kirchlichkeit in Frage. Und darin sind uns die Anglokelten überlegen, wie sie in allem den Vorsprung haben, was Unterordnung unter anerkannte Führer, seien es nun Personen oder Gesellschaften, und daraus folgende Ein- und Zusammengliederung und Zusammenhalt der Einzelnen fordert. In keiner Gesellschaft versteht stillschweigend einer den andern so genau wie hier, und in keiner folgen die Massen so gehorsam Befehlen der Sitte, die nie ausgesprochen zu werden brauchen. Darin liegt ja auf allen Gebieten die große und gefährliche Kraft des Anglokeltentums, daß alle Bewegungen die Tendenz haben, ganz allgemein zu werden, das ganze Volk mitzureißen. Nicht die Tiefe und die Verschiedenartigkeit, sondern die Allgemeinheit des religiösen Zuges imponiert dem fremden Beobachter. Besser noch als die Organisation der politischen Parteien und die sichere Schichtung der Gesellschaft gelingt ihnen der Zusammenhalt der kirchlichen Gemeinschaft. Die Deutschen treibt gerade in diesen nicht bloß der teutonische Individualismus, auf den sie sich gern berufen, sondern, daß wir es offen bekennen, viel mehr der kleinliche Neid und der unverständige Eigensinn auseinander. Außerdem sind die Bildungsgänge und -ansprüche gerade in den deutschen Kreisen verschiedner und werden stärker betont als in anglokeltischen. Der zum Steineklopfen reduzierte Deutsche, und wie viele ereilte dieses Geschick in den kritischen Jahren transatlantischer Eingewöhnung, der in der Heimat das Gymnasium durchlaufen hat, sieht stolz auf den reichgewordnen Kaufmann hinab, der nur die Volksschule absolviert hat. Unzweifelhaft hat aber der Anglokelte auch eine religiöse Anlage von besondrer Kraft und Lust der Äußerung und des Schaffens. Die deutsche Religiosität vertieft sich, hat einen Zug zum Innerlichen, die anglokeltische wirkt, organisiert, macht Proselyten. Die Missionstätigkeit irischer und später angelsächsischer Mönche in ganz Mittel-, Nord- und Westeuropa gehört ebenso der Weltgeschichte an, wie die Missionstätigkeit der Engländer und der Amerikaner des achtzehnten und des neunzehnten Jahrhunderts an Erfolgen in der Kultur, in der Wirtschaft und in der Politik die Missionen der Deutschen und der Skandinavier weit übertrifft und überhaupt nur von der der römischen Kirche und der Orthodoxen bedroht werden dürfte, die beide noch fester organisiert sind und noch planmäßiger vorgehn. Hier kommt eben die auf so vielen Punkten entscheidende Gabe des Anglokelten zur Geltung, dem Gedanken sofort die Tat folgen zu lassen. Der andre grübelt, dieser handelt. Der Amerikaner hat diese Gabe in verstärktem Maße, sie ist bei ihm bis zur Torheit ausgebildet, mit der er für Schlagworte, Halbwahrheiten, Unwahrheiten, Unwahrscheinlichkeiten ins Zeug geht.
Ich will aber damit nicht den Anglokelten die religiöse Innerlichkeit absprechen, was im Hinblick auf die alte und die neue Geschichte ihrer Kirchen und Sekten ja ganz unmöglich ist. Darin liegen ja überhaupt die Erfolge dieser großen Rasse, daß ihre innern Kräfte mit seltnen Gaben der Wirkung nach außen verbunden sind. Und ebensowenig will ich die große Verflachung beschönigen, die in so vielen deutschen Kreisen an die Stelle der alten, stillen Frömmigkeit getreten ist. Die Deutschen machen keine Ausnahme bei der allgemeinen Zersetzung, der das religiöse Leben in allen Kulturvölkern verfallen ist. Echtes Christentum, das eine Gemeinschaft von Menschen jedes Standes, Berufs und Alters mit gleicher Kraft umfaßt, gibt es nicht mehr auf den Höhen dieser Völker. Die liegen trocken, bis zum Wüstenhaften. Um solches Christentum zu finden, muß man in Amerika in ein kleines Walddorf von Maine oder Vermont oder noch besser in eine arme Negergemeinde des Südens gehn, die vom Geistlichen bis zum Ärmsten – arm sind sie aber alle – von Bildung unberührt, aber aufrichtig und bis zum Aberglauben gläubig ist. Es ist ein Zustand wie in einem Lande, aus dem sich das befruchtende Wasser zurückzieht; indem der Wasserspiegel sinkt, vertrocknen die Quellen von oben her, und endlich ist nur noch das Grundwasser in den tiefsten Schichten übrig. Alles übrige dürr und wüst. In Deutschland waren bekanntlich die Höhen schon lange trocken gelegt, als bei andern Völkern wenigstens noch künstliche Leitungen dort Feuchtigkeit hinführten. Es gab eine Zeit, wo in großen deutsch-amerikanischen Gemeinden nur in zwei extremen Lagern das alte zweifelsfreie Christentum bestand: bei den Römisch-Katholischen auf der einen, bei den Altlutheranern auf der andern Seite, dazwischen eine breite Zone der Lauheit, wo heftige Angriffe auf Andersdenkende die religiöse Überzeugung dokumentieren mußten. Wenn einmal die Geschichte der deutschen Gemeinden von Cincinnati, Milwaukee, Chicago, St. Louis in den vierziger und den fünfziger Jahren gründlich, aber auch unbeschönigt geschrieben sein wird, wird der konfessionelle Hader in seinen kleinlichsten und giftigsten Formen so manche Seite füllen, wo man Größeres und Schöneres suchen dürfte.
Seitdem ist freilich auch bei den Amerikanern das religiöse Bewußtsein ungemein gesunken, im Verhältnis noch mehr als bei uns. Die Aufklärung hat später begonnen, dafür aber auch alle Dämme überstiegen. Bezeichnenderweise haben nun darunter nicht die großen alten Religionsgesellschaften so sehr gelitten wie die kleinern und jüngern. Diese Erzeugnisse eines verspäteten Aufschwungs, fast möchte man sagen einer Aufwallung des religiösen Empfindens, verloren an Anziehungskraft in einer Zeit, wo alles Äußerliche an Wert stieg, alles Innerliche im Werte sank. Der reichen, alten, aristokratischen Hochkirche haben sich seitdem manche zugewandt, deren Vorfahren für den Methodismus, den Baptismus mit Gut und Leben eingetreten waren. Die Zensusveröffentlichungen von 1900 werden uns im kirchlichen Leben der Union sicherlich ein unverhältnismäßiges Wachstum des Katholizismus und der Hochkirche zeigen, das darf aber nicht über den Rückgang in der Tiefe und Echtheit des religiösen Sinnes täuschen, den natürlich keine Statistik belegt. Die großen Kathedralen dieser einflußreichsten Kirchen werden darum nicht stärker besucht als früher die kleinen Bethäuser. Die starke Abwendung von den radikalen Sekten, die im letzten halben Menschenalter eingetreten ist, bedeutet ebensowenig eine Stärkung des positiven Christentums. Es mag paradox klingen, aber sie ist ein Symptom derselben Art für die Amerikaner, wie die zunehmende Entkirchlichung für die Deutschen. Dort ein äußerlicher Anschluß, hier eine ebenso äußerliche Abwendung. Die echte Religiosität ist in beiden Fällen die Verlierende. Wenn die Symptome bei Amerikanern und Deutschen so verschieden auftreten, muß man auch in dieser Sache an die grundverschiedne Stellung der Frau denken, die dort mit anerkannter Überlegenheit die ganze Familie da festhält, wo sie das Heil sieht, hier den Mann gewähren läßt und ihm, wenn auch unter Seufzern und Vorwürfen, nachfolgt.
Noch etwas andres darf ebensowenig vergessen werden: die äußern Anziehungsmittel des Kirchenbesuchs in Amerika. Der Komfort auf die Einrichtung der Kirchen übertragen, die Kirchenmusik, die Tausende von Deutschen, hier bedeutende Sänger und dort armselige Musikanten, ernährt, und nicht zuletzt die Prediger, die große Redner sind, überragen alles zusammengenommen die Attraktionen jeder Hofkirche des protestantischen Deutschlands. Nur die Architekturen deutscher Kirchen sind im allgemeinen nicht bloß ehrwürdiger, sondern auch würdiger. Aber die in Amerika zahl- und einflußreichen Vertreter der Lehre von der Schönheit als Lebensnotwendigkeit, deren Schlagworte Ruskin zwar nicht erfunden, doch geprägt hat – Artistic Ordering of Life ist seit einigen Jahren ein beliebtes Thema der Zeitungen und Debattierklubs, in Sinn und Absicht: ästhetische Lebensführung –, werden auch noch das Unwahrscheinliche verwirklichen, daß eine Gesellschaft im entschiednen religiösen Niedergang Prachtgebäude für einen Kultus errichtet, dem eine rasch wachsende Mehrheit zweifelnd oder gleichgiltig gegenübersteht. Einstweilen gehört es noch zu den auffallendsten Merkmalen des Katholizismus in Amerika, daß er imposante Gotteshäuser hinstellt, neben denen alle andern kirchlichen Gebäude verschwinden. Für die amerikanische Auffassung spricht sich darin eine Macht aus, von der sie sich willig imponieren läßt. Wenn man die großen Klostergebäude und die mächtigen, wenn auch nicht oft schönen Kathedralen des spanischen Amerikas hinzurechnet, muß man allerdings zugeben, daß die bedeutendsten Werke religiöser Architektur in der Neuen Welt von Montreal bis Buenos Aires überhaupt der Katholizismus geschaffen hat, trotzdem daß die Entdeckung Amerikas mit der Reformation zusammenfiel. Das ist aber nur ein äußeres Zeugnis dafür, daß der Katholizismus überhaupt die älteste geschichtliche Macht besonders im Westen der Vereinigten Staaten ist. Mit wie andern Gefühlen trat der junge deutsche Kaplan der vierziger Jahre in Wisconsin oder Minnesota seiner jungen Gemeinde gegenüber, da er wußte, daß zweihundert Jahre früher die Jesuiten auf diesem Boden missioniert und gelitten hatten. Da versteht man erst die Macht eines Mannes wie des Erzbischofs Henni, einer geistig und an tiefer Wirkung alle überragenden Figur in der Geschichte jenes etwa seit 1830 kolonisierten Nordwestens, den man heute den »alten Nordwesten« nennt.
Die protestantischen Kirchen Deutschlands haben vor denen Amerikas das Alter, die Ausbreitung, die Anlehnung an den Staat, die bureaukratische Organisation und nicht zuletzt die theologischen Fakultäten der Universitäten für sich. Es sind zum Teil nur äußere Vorzüge, aber ihr Gewicht ist alles in allem doch sehr groß. Freilich groß für die äußere Stellung und für die Aufrechterhaltung alles dessen, was Einrichtung ist, nicht groß für das innere Leben. Dieses scheint mir, wider alles Erwarten, nicht kräftiger zu sein als in den kleinen, jungen Kirchen Amerikas. Der Kirchenbesuch, bei weitem nie so stark in Deutschland wie in England oder Amerika, wo sehr viele Familien gewohnheitsmäßig zweimal des Sonntags zur Kirche gehn, hat in ganz auffallendem Maße abgenommen. Sehr beliebte Prediger füllen noch die Kirchen, die jedoch im Durchschnitt von gähnender Leere und an Zahl und Größe weit hinter dem Wachstum der Bevölkerung zurückgeblieben sind. Man nannte mir die große Zahl gebildeter Männer unter den Kirchenbesuchern als einen Lichtpunkt in dem Dunkel dieser Teilnahmlosigkeit. Aber bei näherm Zusehen habe ich davon nicht viel bemerken können. Es ist wahr, das weibliche Element überwiegt nicht so sehr in den Kirchen wie in Frankreich, aber die Zahl der deutschen Männer gebildeten Standes, die die Kirche nicht ganz selten und nicht aus äußern Gründen besuchen, wie Offiziere, Beamte, Gutsbesitzer, Leiter großer Arbeitermassen und dergleichen, die gelegentlich einmal ein gutes Beispiel geben müssen, ist noch geringer, als die Klagen der kirchlichen Presse mich hatten erwarten lassen. Ich rede hier von der protestantischen Seite, die ich kenne. Auf der katholischen ist der Zusammenhang der untern Klassen mit ihrer Kirche offenbar noch nicht so weit gelockert, und die obern umschließen zwar auch dort viele sogenannte Auchkatholiken, aber seit dem Kulturkampf soll auch in diesen die Teilnahme an allen kirchlichen Angelegenheiten wieder gewachsen sein.
Ungemein oft hat mich seit meiner Rückkehr nach Europa die Frage beschäftigt, wie gerade in den Schichten, die stolz auf ihre Bildung sind und das Wort Halbbildung mit der äußersten Verachtung aussprechen, ein so großer Mangel an wahrer geschichtlicher Bildung möglich sein kann, wie ihn die weitverbreitete Ablehnung aller kirchlichen Gesinnung voraussetzt. Ist das nicht eigentlich das stärkste Zeichen von halber und seichter Bildung, wenn ich hochmütig die Form ablehne, in die sich der Gottesglaube einer hinter mir liegenden Zeit ergossen hat, so wie man auf beliebige andre »überwundne Standpunkte« überlegen hinabschaut? Ich wohne und kleide mich anders als vergangne Geschlechter, aber ich kann doch nicht etwa ebenso leicht ihren Glauben ablegen. Es geht nicht ohne Schädigung meiner selbst und derer, die um mich sind, daß ich aus den hohen Hallen der kirchlichen Gemeinschaft, an denen viele Geschlechter mit dem Besten ihrer Kraft gebaut haben, in eine Bretterhütte meines eignen armen Plauens und Wirkens übersiedle. Es gibt Dinge, die man nicht allein tun kann. Alle sind einverstanden, daß sie nicht, jeder für sich, Staaten bilden können; aber an der Zerbröcklung der alten Kirche nach einzelnem Gutdünken zu arbeiten, halten sie nicht für Raub. Die Kurzsichtigen! Als ob irgend etwas auf der Welt imstande wäre, das Gefühl zu ersetzen, das in der Kirche inmitten der von denselben Gedanken und Empfindungen getragnen Masse der Andächtigen uns beseelt und erhebt.
Mir scheint es natürlich, bis zur letzten Möglichkeit in dieser Gemeinschaft zu verharren, mit deren Bestand ja sogar das ganz Äußerliche des erhabnen Kirchenbaus zusammenhängt, wo sich nun seit Jahrhunderten die Gemeinde versammelt. Die Zweifel des Einzelnen an Einzelheiten kommen dabei nicht in Betracht, sie können den Gottesglauben und die Grundgedanken des Christentums nicht erschüttern. Es sind ja auch nicht die Zweifel, die die Abwendung von der Kirche hervorgebracht haben, sondern das Gegenteil, die Denkträgheit. Die allgemeine Abneigung unsrer Zeit gegen religiöse Vertiefung ist der Grund, warum sich gerade die Masse der sogenannten Gebildeten lautlos zurückzieht. Sie wollen beileibe kein Aufsehen erregen, wollen äußerlich »mittun,« Taufen und Trauungen wollen sie sogar mit kirchlichem Pomp begehn, und selten hat einer den Mut, die letzte Konsequenz zu ziehn und das kirchliche Begräbnis abzulehnen. Welche Heuchelei, welche Feigheit und welche Oberflächlichkeit! Und das gerade auch in den Kreisen, von denen die Nation geistige Impulse und Aufklärung erwartet.
Man kann nicht sagen, daß die deutschen Geistlichen in ihren Predigten die Fragen des öffentlichen Wohls unberührt lassen, wie in der Zeit der Reaktion. In den fünfziger Jahren wurde dieser Vorwurf vielen nicht mit Unrecht gemacht; heute kann man von der Kanzel freie und einschneidende Meinungsäußerungen hören. Schade, daß sie nicht selten den Eindruck bestellter Arbeit machen, wie bei der straffen Organisation aller deutschen Kirchen natürlich ist, und noch mehr schade, daß sie so oft die kleinliche konfessionelle Gehässigkeit offenbaren, die von der Kirche um so ferner gehalten werden sollte, je breiter sie sich in der deutschen Tagespresse macht. Der allgemeine Rückgang des religiösen Lebens gibt einen sehr dunkeln Hintergrund ab für den Hader der Konfessionen, den man glücklicherweise in dieser Art nur in Deutschland findet. Man kann sich der Vermutung nicht verschließen, daß sich viele Blätter dieses traurigen Stoffs nur bemächtigen, um damit dem echt deutschen Geschmack breiter Lesermassen an kleinlichen Zänkereien entgegenzukommen. Das gehört zu den unerwartetsten Erfahrungen, daß ich in großen deutschen Zeitungen dieselbe Freude an dieser häßlichen Zänkerei wiederfand, die ich in Missouri und in Wisconsin als den Ausfluß der mangelhaften Bildung untergeordneter Pfennigschriftsteller mit Verachtung angesehen hatte, und deren Hohlheit dort sogar die einfachen Hinterwaldsleute bald einsahen. Leider ist es nur eine von den vielen betrübenden Erfahrungen, die jeder machen muß, der die deutsche Presse von heute mit der vor einem Menschenalter vergleicht. Als damals Mark Twain seine Satire auf die schwerfälligen deutschen Zeitungen losließ, konnten wir überlegen darüber lächeln, denn wir wußten, daß sie tausendmal gründlicher, ehrlicher und anständiger als die amerikanischen waren. Es hat sich sehr zum Schlimmen verändert. Doch darüber ein andermal.