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3. Ich hatt einen Kameraden

Das Talent zur Freundschaft, das nicht in alle Herzen gelegt ist, keimt freilich in der Regel nur in Gleichgesinnten auf, die in ähnlicher Lebenslage sind. Daß es aber so sein müsse, ist eine von den trüben Philistererinnerungen aus dem Niederschlag beschränkter Lebenserfahrung. Das sind Meinungen nicht von den Dingen, wie sie sind, sondern wie eine Anzahl von Menschen behauptet, daß sie sein müßten. Wer hat nicht aus der Schulzeit glückliche Erfahrungen vom Gegenteil? Auch nicht einmal bloß zwischen armen und reichen, zwischen Dorf- und Stadtkindern, sondern zwischen dummen und gescheiten, bösen und guten Kameraden entwickeln sich echte Freundschaften. Mich zog es als Knaben zu den Schulkameraden aus reichen Häusern, weil ich da in eine andre Welt hineinsah, die viel Schönes, Verlockendes zu haben schien, und es zog mich noch stärker zu denen, deren Eltern arm waren; ich gestehe, daß der feuchtwarme Geruch einer ärmlichen Stube, in der auf einem vierbeinigen Kochofen Kartoffeln sieden, während ein altes, freundliches Mütterchen auf erhöhtem Platz am kleinen Fenster näht, für mich noch viel mehr Anziehungskraft hatte als ein schöner Salon voll Spielsachen. Ich habe diesen Duft nie vergessen, der mich ebenso narkotisierte wie die Luft eines Treibhauses oder eines tropischen Urwaldes, womit sein Dunstreichtum verwandt ist. Noch viel mehr hat mich später der energische Kampf mit dem Leben begeistert, den arme Mitschüler führten, die schon mit dreizehn Jahren andern Nachhilfestunden gaben, kein Taschengeld hatten und sich ihre Bücher selbst einbanden; ich wollte mich ihnen mit Wärme anschließen, fand aber nicht immer Gegenliebe. Wie schön sind die Freundschaftsverhältnisse zwischen Bergsteigern und ihren Führern, die tief wurzeln in dem gemeinsamen Bestehn großer Gefahren, der wechselseitigen Hilfeleistung, vielleicht in der Errettung aus Todesnot. Ähnliche Freundschaften müßten zwischen Offizieren und Soldaten entstehn, müßten sogar häufig sein, wenn nicht die militärische Ordnung dazwischenstünde. Aber Lessing hat den Wachtmeister Paul Werner, der sich für seinen Major totschlagen läßt, nicht aus dem Nichts geschaffen; und daß dieser Major zu dem Wachtmeister sagt: Ich erkenne dein Herz und deine Liebe zu mir, und daß er dessen Freundschaft zuletzt neben Minnas Liebe für seinen größten Schatz erklärt, sind keine Erfindungen.

Majore wie Tellheim gibt es freilich nicht viele. Aber der lange schwere Ulan, den ich schwerverwundet von seinem Leutnant auf einem gerade dastehenden Karren aus dem Gefecht und Kugelregen an eine sichere Stelle fahren sah, sagte vielleicht eines Tages wie der rauhe Just: Machen Sie, was Sie wollen, Herr Major, ich bleibe bei Ihnen, ich muß bei Ihnen bleiben. Es gehört ungeheuer wenig von seiten eines Vorgesetzten dazu, sich in den bessern Elementen seiner Untergebnen – und das ist die Mehrzahl – anhängliche Leute zu erziehn, die ihm jeden Wunsch an den Augen absehen und für ihn durchs Feuer gehn.

Leichter bildet sich ja ein innigeres Verhältnis zwischen Kameraden, die in Reih und Glied nebeneinander marschieren; Stand, Besitz oder Bildung machen dabei keinen Unterschied, denn in diesem Augenblicke sind sie demselben Gesetz unterworfen, fesselt sie dieselbe Disziplin und leitet ihr Denken und Tun dieselbe Notwendigkeit der Ausebnung aller persönlichen Wünsche und Bestrebungen durch die Zugehörigkeit zu einer Masse von Männern gleichen Alters, gleichen Berufs und gleicher Pflichten. Ich möchte mich aber durchaus nicht darauf beschränken, zu sagen, das Leben in Reih und Glied sei der Freundschaft günstig; es handelt sich um etwas mehr. Ich habe erfahren, wie dieses Leben die ewigen Grundlagen menschlicher Gleichnatur im tiefsten Grunde männlicher Seelen aufgräbt und Quellen erschließt, die für gewöhnlich nur in engen Spalten mühsam tröpfeln oder rieseln. Not und Gefahr vereinigte entlegne Quelladern, und als starker Strom, der großer Leistung fähig ist, traten sie zutage. Was alles sich unter diesen Verhältnissen an Beziehungen von Mensch zu Mensch entwickelt, will ich gar nicht mit dem allgemeinen Namen Freundschaft decken, denn es spielt hier Achtung, Bewunderung, Nacheiferung, Schutz- und Anlehnungsbedürfnis, kurz eine Reihe von elementaren Gefühlen hinein, deren gleicher Natur sich die Menschen in andern Lagen kaum jemals so inne werden. Wann werden wir im bürgerlichen Leben uns des kaltblütigen Mutes bewußt, der ohne Wimperzucken dem Tode entgegengeht? Nun wohl, gerade auf dem Bewußtsein der Gemeinsamkeit dieser Eigenschaft habe ich die festesten Freundschaften, die zum Opfer des Besten, was jeder hatte, befähigten, entstehn sehen. Jede von ihnen hat freilich der Tod sehr früh gelöst, was man ja fast natürlich finden möchte, wenn man bedenkt, daß eben die Unkenntnis aller Todesfurcht ihr Kitt gewesen war. Was bedeutet aber die Zeit in dem Leben großer Gefühle? Eine Blume, die nur eine Stunde geblüht hat, macht mich so lange glücklich, wie ihre Erinnerung in meiner Seele nicht verwelkt, wie ihr Duft durch mein frohes Gedenken zieht.

*

Von einer Ersatzabteilung in einem fernen kleinen Städtchen einem Truppenteil vor Straßburg zugesandt, kamen wir tief in der Nacht in einem Dorfe an, das keine andern Bewohner mehr als Soldaten und fast nichts mehr von seinen Häusern als die Mauern und die Ziegeldächer hatte: ausgeleert und ausgebrannt. Die Ungastlichkeit schaute sogar in der dunkeln Oktobernacht aus den zerbrochnen Fenstern, an denen die Läden herabhingen oder mit langen Hopfenstangen von unten zugestemmt waren, und den dunkeln Toren, vor denen statt der Türen, die in Straßengefechten eingetreten oder eingeschlagen worden waren, Bretter lehnten, in deren Toreingängen zerbrochne Wagen lagen, durch deren Giebeldächer zufällige, unregelmäßige Stücke dunkelblauer Luft mit Bruchstücken von Sternbildern hereinschauten. Von Vorposten angerufen, von Patrouillen angehalten, von einem Quartierposten zum andern geschickt, fanden wir in irgendeiner entlegnen Scheune, deren Dach aus Sparren, Luft und wenig hängen gebliebnen Ziegeln bestand, die zweite Korporalschaft der zweiten Kompagnie im tiefsten nachmitternächtlichen Schlummer. Kein Laut als der regelmäßige Schritt des Quartierpostens, und dann und wann das An- und Abschwellen des Schnarchens, das der Soldat treffend Holzsägen nennt; durch den kräftigen Rippenstoß eines ungeduldigen Nachbarschläfers unterbrochen, endigt es manchmal in einer im Traum hervorgestoßnen Verwünschung, beginnt aber sehr bald wieder und steigert sich bis zu den höchsten Tönen. Mir klopft das Herz bei dem Gedanken, endlich mein Ziel erreicht zu haben: in dieser Schläfer- und Schnarcherschar lag mein Freund Reiske, dem zuliebe ich es mit viel Mühe durchgesetzt hatte, gerade in dieses Regiment und auch gerade in diese Kompagnie eingestellt zu werden. Ob er eine Ahnung hat, ob er vielleicht träumt, daß ich so nahe bin? Mein Herz klopfte aber vielleicht auch noch aus einem andern Grunde, denn mir entsank aller Mut bei dem Blick auf den Inhalt der Scheune; da lagen sie dichtgedrängt, die Musketiere, gleich neben der Tür ein Unteroffizier, der etwas Raum zwischen sich und der Mannschaft hatte; diese aber dicht beisammen, die Köpfe gegen die beiden Mauern, die Beine in der Mitte geschickt ineinander übergreifend, sodaß kein Plätzchen unbelegt blieb und besonders kein Pfad dazwischen offen war. Was war zu tun? Sich hineinwagen, um etwa ruhig bis zum Morgen auf einem Häufchen Stroh zu warten und zu schlummern, dazu schien keine Aussicht zu sein, wenn man nicht bei den ersten Schritten gleich ein paar Hände oder Füße zertreten wollte. Ich rufe aufs Geratewohl in den dunkeln Raum hinein: Ist der Musketier Reiske hier? Keine Antwort, als Stöhnen eines Leichtschläfers. Noch einmal: Musketier Reiske? Da eine Stimme: Was will da einer? eine andre Stimme: Maul halten! Die weckt wieder eine andre: Zeit zur Ablösung! Auf! O weh, schon zwei Uhr? Da ruft einer Reiske; wer ist das? Ich, der Kriegsfreiwillige Mahler. Mahler, du? tönt es von ganz hinten her, das ist Reiskes Stimme, ich halte mich nicht mehr, eile gestoßen und getreten und trotz aller Sorgfalt bei jedem Tritt an und auf Körper und Gliedmaßen stoßend und tretend durch das Gewirr von Armen und Beinen auf die Ecke der Scheune zu, woher der vertraute Laut erschollen war; doch ehe ich dahin kam, hatte ein baumlanger Mensch mich beim erhobnen Bein gepackt, sodaß ich, einbeinigen Stehens ungewohnt, auf den nächsten fiel, der mich mit hörbarem Fluch und Ruck weiter beförderte. Und so lag ich meinem Freund im Arm oder vielmehr auf dem Arm, denn dieser war schlaftrunken gerade im Begriff, sich zu strecken, als ich auf ihn halb rollte und halb flog. Flüche und Gelächter übertönten noch eine halbe Minute unsre Begrüßungsworte, ein Rascheln und Scharren durch das Zurechtrücken der gestörten Schläfer, die Stimme des Postens durch die Türöffnung: Ruhe, es ist noch nicht eins, und dann wieder die tiefe Ruhe wie vorher.

Ich flüsterte meinem Freund und nunmehrigen Kompagniekameraden noch ein paar Botschaften zu, er teilte mir kurz die wichtigsten Daten aus dem derzeitigen Bestand der Kompagnie mit, und daß wir voraussichtlich in der Frühe um sechs zur Schanzarbeit antreten würden. So, jetzt leg dich zwischen uns hin, ich werde versuchen, mich etwas tiefer in die Mauer hineinzudrücken, dein Nachbar links ist der gute Kamerad Haber, von dem du manches lernen wirst, was der Musketier heutzutage braucht.

Dieser Nachbar schien schon gerückt zu haben, ich fand noch Raum genug, indem ich mich auf die Schmalseite à la Hering legte, und muß sofort in Schlaf versunken sein, hörte auch nicht, wie um zwei Uhr der Posten abgelöst wurde; als ich aber beim Frühsonnenlicht erwachte, war der Platz meines Nachbars zur Linken leer, und er schien vor seinem Weggang sein Lagerstroh auf mich gelegt zu haben, denn ich fühlte mich in höchst wohltuender Weise zugedeckt.

Das war die erste Liebe, mein Freund Haber, die ich von dir erfahren habe. Wie oft habe ich seitdem deinen Zartsinn erprobt. Du wirktest nicht bloß, wie man guten Frauen nachrühmt, von der Seite des Leibes auf den Geist ein, indem du dich mit vielseitig geschickter Hand bald als Kleiderreiniger und Flickschneider, bald als Koch und Kellermeister, bald als Hausmeister, der für ein trocknes und warmes Lager sorgte, bald als Büchsenspanner verdient machtest, der unmögliche Rostflecken aus Gewehrläufen entfernte; du wußtest mit heiterm Sinn und mancher lieblichen Volksmelodie Mißklänge zu übertönen und betrübte Gemüter aufzurichten; und über dem allen gabst du in schwierigen Lagen Beispiele von Heldenmut. Dabei verlangtest du nichts für dich selbst. Deine Leistungen erwarteten keinen Lohn und keine Auszeichnung, deine Liebe war selbstlos ...

Doch ich eile ja weit dem Gang der Ereignisse voraus, indem ich meinen lieben Kameraden Haber wie einen längst Bekannten einführe, wo der Leser mich doch erst bis an die Schwelle meines Eintritts in die zweite Kompagnie begleitet hat. Ich will es kurz machen. Den nächsten Morgen fünf Uhr Hornsignal, das, von den zwei Hornisten durchs Dorf getragen, bald da, bald dort erklingt; ich würde mich zu jeder andern Zeit über das heitere Wandern des Signals gefreut haben, heute störte es mich in der Erwägung der neuen Lage, in der ich war. Ich war wie ein zugeflogner Vogel in dieser Kriegerschar, in der nur Reiske mich kannte, und dieser war unglücklicherweise um vier Uhr auf Posten gegangen. Vermutlich hätte er mir noch ein paar Verhaltungsmaßregeln gegeben, wenn ich nicht so tief in meinem Stroh geschlafen hätte, daß er mich vergeblich zu wecken gesucht hatte. Ich stand nun ratlos da. Instinktiv tat ich, was alle andern taten, ging zum Brunnen, wusch mich und kämmte mich, bürstete die Halme und den Staub von der Uniform und stellte mich dem Unteroffizier vor, einem kleinen, lebhaften, rundgesichtigen Mann, der mich gleich von vorn maß, dann »Kehrt« kommandierte und mich auch von hinten musterte. Ungewöhnliche Art der Vorstellung! Sie sind also der Kriegsfreiwillige, der der Kompagnie zugeteilt ist? – Jawohl. – Und wollen in meine Korporalschaft? – Jawohl. – Warum? – Weil der Einjährige Reiske darin dient. – Das ist kein Grund. – Ich war bestürzt, Freundschaft ist hier offenbar kein hinreichender Grund, es galt also rasch einen bessern zu finden. – Reiske ist mein Stiefbruder. – Sieht Ihnen aber verflucht unähnlich. – Jawohl, Stiefbruder. – Sehen Sie, daß Sie Kaffee bekommen, Brot haben Sie wohl noch keins gefaßt? – Noch nicht. – Sehen Sie, daß Ihnen einer ein Stück gibt.

Ich machte Kehrt, um mich der schwierigen Aufgabe zuzuwenden, Unbekannte, die ich vielleicht heute Nacht bei meinem Eiertanz durch die Scheune auf Hände und Füße getreten hatte, zu veranlassen, mir ein Stück Brot zu schenken. – Halt, Kriegsfreiwilliger! rief es hinter mir. Der Unteroffizier winkte mich heran, faßte meine linke Achselklappe an: Hier sitzt der Kompagnieknopf locker; ich sage Ihnen, wenn Sie den verlieren, ists gefehlt. Sofort festnähen.

Dieses Sofort schnitt mir durch Mark und Bein. Zwar würde ich im bürgerlichen Leben geglaubt haben, mit diesem nur wenig gelockerten Knopf noch einige Wochen bestehn zu können; aber hier, das mußte ich mir sagen, hat der kleine, fast halbkuglige Knopf mit der Nummer Zwei einen besondern Wert, war nicht so leicht zu ersetzen wie ein gewöhnlicher Uniform- oder nun gar ein Hosenknopf, der im Notfall sogar vom Zivil sein konnte. Bei spätern Gelegenheiten hörte ich unsern Unteroffizier folgende Betrachtung anstellen: In jedem Regiment gibt es vierzigtausend Uniformknöpfe, aber jeder Kompagnieknopf ist nur vierhundertundneunzigmal da. Also die größte Sorgfalt auf die Kompagnieknöpfe richten. Wenn ein Kamerad gefallen ist und zurückgelassen werden muß, ist unsre erste Pflicht, das Gewehr und die Munition zu retten, dann die Kompagnieknöpfe, dann erst das Faschinenmesser. Denkt euch doch eine Achselklappe mit einem gewöhnlichen Uniformknopf!

Wie wenig tief die Disziplin in mir erst Wurzeln geschlagen hatte, das wurde mir selbst einleuchtend, als ich trotz der Ermahnung des Unteroffiziers zuerst nach Brot und Kaffee ging, bei deren Zuteilung mein Stubennachbar der vergangnen Nacht, der über dem Kaffeetopf waltete, mich freundlich bedachte, sodaß mich zwar unfreundliche Blicke empfingen, aber kein zurückweisendes Wort laut wurde. Es schien die Meldung beim Unteroffizier schon eine Art von Anschluß an die Korporalschaft vorauszusetzen. Ich stürzte meine Tasse hinunter und biß kräftig von dem Brocken Kommißbrot ab, den ich aus Reiskes Vorrat erhalten hatte. Nun der Kompagnieknopf! Nadel und Faden hat ja natürlich jeder Musketier. Ich habe das ebenso natürlich nicht, bin ein ganz abnormer Mensch, fühlte in diesem Augenblick, daß ich tief unter dem letzten Soldaten stehe. Aber was tun? Ich sehe Haber und denke an Reiskes Empfehlung. Er ist selbstverständlich mit Handwerkszeug versehen, in der Scheunenecke wird der bedeutsame Knopf fester genäht. So, sagte Haber, der hält so lange wie Metz, und wenn Metz fällt, dürfen alle Knöpfe reißen, sogar Kompagnieknöpfe. Übrigens trage ich immer zwei als Reserve im Geldbeutel.

Das Gewehr und den Brotsack quer umgehängt, das Faschinenmesser umgegürtet, die Leinenhosen in den Stiefeln, die Mütze statt des Helms, so treten wir zur Schanzarbeit an und »fassen« Schaufeln, die man statt des Gewehrs auf der linken Schulter trägt. Der Unteroffizier meldet mich dem Feldwebel, dieser dem Hauptmann; zum erstenmal trifft mich der Blick der grauen kalten Augen, und weil ich immer Kleinigkeiten sehen muß, so fällt mir auf, daß der Hauptmann an seinem blonden Schnurrbart weiterkaut, der genau so kurz wie seine Rede und über der Lippe gerade abgeschnitten ist. Es ist wohltuend für den Betrachter, in einem Gesicht, das er so häufig sieht, eine solche feste Linie zu wissen, wie dieser geradlinig abgebissene untere Schnurrbartrand. Ich habe in guten und übeln Tagen meinen Hauptmann vor der Kompagnie gesehen und habe mich nicht bloß im allgemeinen gefreut, daß er immer derselbe war, sondern daß auch dieses dasselbe blieb. Im stillen dankte ich ihm, wie oft, daß er nicht wie andre einen Vollbart wachsen ließ. Auch hier ist semper idem ein guter gesunder Spruch. Übrigens gefielen mir allezeit Gesichter, denen wohlentwickelte Kinnbacken und breites Kinn einen fast quadratischen Umriß erteilen; ihre Backenknochen pflegen nicht stark entwickelt zu sein, ihre Augen stehn hübsch wagerecht, der Mund ist meist fest. Solche Gesichter haben etwas Abgeschlossenes, es ist weder ein Fragezeichen noch eine Aufforderung darin, sie sagen: Ich tue meine Sachen für mich, kümmre du dich um die deinen. In mir spricht es, während ich mich in strammer Haltung ansehen lasse: Der legt keinen großen Wert darauf, dich in der Kompagnie zu haben, auch ist er nicht eitel und verbeißt manches; aber wehe dir, wenn aus diesen Augen ein unverbissener Blitz – entschuldige das Bild – dich träfe, du wärst getroffen vom Kopf bis in die Ferse. Zunächst wurde ich nur indirekt angeredet: Unteroffizier, sorgen Sie, daß der neue Mann heute nach der Arbeit Griffe übt. – Zu Befehl, Herr Hauptmann. – Marsch!

Ich übte an diesem Abend Griffe, bis eine Blutblase platzte, die ich mir beim Schanzgraben in den Ballen der rechten Hand gearbeitet hatte; similia similibus, wie die Homöopathen sagen, meinte dazu Reiske, was die harte Schaufel verbrochen, heilt der milde Gewehrkolben. Außerdem war mir die linke Schulter vom »schmetternden« Gewehrübernehmen braun und blau geworden. Es ist ja recht löblich, daß du die Dinge ernst nimmst; du brauchst aber den Schießprügel darum nicht so furchtbar auf die Schulter zu werfen, das nützt uns nichts und schadet keinem Franzosen was. Dagegen rate ich dir, beim Präsentieren den Bauch etwas mehr einzuziehn, daß das Gewehr die Sehne eines Bogenabschnitts bildet, um dessen Peripherie der ganze Musketier sozusagen herumgeschwungen ist. – Donnerwetter, Reiske, du nimmst diese Dinge tief. Du scheinst jetzt deine akademischen Denkgewohnheiten auf die Durchleuchtung des Exerzierreglements zu verwenden.

Ja, sagte Reiske, ich habe genug darüber nachgedacht. Und wenn du es hören willst, gebe ich dir einmal im gedrungensten Stil meine philosophische Lehre von den Gewehrgriffen zum besten. Für heute sozusagen nur die Überschrift oder das Extrakt: Die Idee der Griffe ist die Aufnahme des Gewehrs in den ganzen körperlichen und geistigen Menschen des Soldaten. Diese Inkorporation einer starren Waffe aus Holz und Stahl kann aber nicht verwirklicht werden, ohne daß in Holz und Stahl die Liebe übergeht. Das Leder des Gewehrriemens nenne ich nicht besonders, weil es mit dem Wesen des Gewehrs nichts zu tun hat, totes mechanisches Anhängsel! Merkst du, wie hier die Forderung der Grifffertigkeit, die dein Unteroffizier erhebt, mit der zusammentrifft, die der Büchsenmacher stellt, daß der Soldat sein Gewehr so rein halten müsse wie seinen Körper? Mindestens so rein! Dieses ist eine Forderung der soldatischen Tugendhaftigkeit, das andre ist eine umfassendere, die sich auf den ganzen Charakter und dessen Betätigung in der soldatischen Lebenserscheinung und -führung erstreckt. Zur Erfüllung der Tugendforderung rostfleckenloser Reinheit des Gewehrlaufs kann nun jeder erzogen werden, sagen wir fast jeder, denn es gibt ja Reinlichkeitsidioten. Dagegen zum Sichemporschwingen der Gewehrgriffe aus der mechanischen Übung deiner Knochen und Muskeln gehört Talent. Du stehst vor einem Manne, der dieses Talent hat, da siehst du, während er Gewehr über! macht, überhaupt kein Gewehr, das zuckt nur so durch die Luft, und wenn es nun auch wie ein Wetterstrahl auf die Schulter saust, hast du nicht die Vorstellung, es liege nun ein Gewicht von zwölf Pfund auf der Schulter, sondern du sagst: Dieser Mann hat nur einmal seinen rechten Arm zu einer harmonischen Bewegung ausgeschwungen, und da es ihm ganz gleich ist, ob der Gewehrkolben der Erde aufruht oder in seiner linken Hand gehalten wird, so hat das Gewehr einfach mitgeschwungen. Und wenn du General wärest (was Gott verhüte!) und würdest dasselbe Talent für Gewehrgriffe vor dir präsentieren sehen, so würdest du den Eindruck haben, der Mann bietet mir aus Deferenz sein Gewehr an, aber ich sehe an der Art, wie ers hält, daß es mit ihm verwachsen ist, und daß nicht einmal ein General es ihm entwinden könnte. Dabei kommt nun eben noch der Winkel von 89 Grad in Frage ...

Lieber Freund, sagte ich, du bist ohne Zweifel auf dem besten Wege, ein zweiter Clausewitz, wenn auch erst in der Sphäre des Musketiers, zu werden, und ich bewundre deine Gewehrphilosophie aufrichtig; aber für den Augenblick lasse einmal deinen hohen Geist herabsteigen und diese blutige Schwiele in meiner Hand betrachten. Wie kann ich sie wegbringen? Ich möchte morgen arbeitsfähig sein, aber mit dieser Hand werde ich mit dem besten Willen keine Schaufel schwingen. – O, das ist nicht viel, das haben wir alle gehabt. Aus dieser Blutblase wirst du die beste Schwiele des Regiments heranpflegen, wenn du das Blut herausdrückst, dann die Stelle mit Hirschtalg dick einschmierst und die ganze Nacht über verbunden hältst. Und wenn die Schwiele fertig ist, wirst du noch ganz andre Griffe machen. Übrigens versteht sich Haber ausgezeichnet auch auf diese Dinge. – Und Haber, auch hier hilfbereit, knetet meine Hand, bis das brennende Gefühl heraus ist, salbt sie, verbindet sie, und ich kann mit Ruhe dem nächsten Tag entgegensehen. Welche Schmach, wenn ich schon am zweiten Feldzugstage von der Arbeit hätte wegbleiben müssen! Diese Nacht legte ich mich nicht als Geduldeter, sondern als Zugehöriger ins Stroh, und ich schlief mit dem Bewußtsein ein, den ersten Tag im Feld etwas geleistet zu haben. Das leise Brennen in der Hand kam mir fast wie etwas Wohltuendes, Ehrenvolles vor. Reiske hatte noch weiteres von dem Pikanten oder mindestens Eleganten eines Präsentierens mit ganz leicht auswärts geneigtem Gewehr gesprochen. Daran mag es gelegen haben, daß ich träumte, ich stünde Posten vor dem Quartier des Generals, dessen bewundernden Blick auf mein im Winkel von 89 Grad präsentiertes Gewehr ich mit der frechen Rede erwiderte: So ist das Präsentieren nach Reiske, Einjährigem der zweiten Kompagnie, wollen nicht Exzellenz das Exerzierreglement entsprechend ändern lassen? Merkwürdigerweise hatte ich aber das volle Gefühl der Verwerflichkeit dieser Rede schon in dem Augenblicke, wo ich sie aussprach, ja ich fühlte stark, wie ungehörig es überhaupt sei, bei präsentiertem Gewehr den Mund aufzutun, und als ich in diesem Augenblick erwachte, war nur noch der Schrecken und gar nichts mehr von Befriedigung über den schönen Griff in mir, und ich legte mich auf die andre Seite mit dem Vorsatz, auch im Traum nichts gegen das Reglement zu denken oder zu tun.

Unglaublich rasch lebte ich mich in meine neue Umgebung ein. Zwischen Reiske, dem alten Freund, und Haber, dem neuen Kameraden, stand ich nach außen gedeckt; in unsrer Korporalschaft war mir niemand übel gesinnt, mit einigen Kameraden knüpften sich engere Beziehungen. Der Unteroffizier sah mir scharf auf die Finger, denn er teilte, und vielleicht mit Recht, die Ansicht, die der Hauptmann als Ergebnis einer Gewehrparade kurz mach meinem Eintritt in den lapidaren Satz faßte: Die Freiwilligen sind Lottel, nur zu Patrouillen kann man sie brauchen. Aber er fand nichts Wichtiges zu tadeln; die Kompagnieknöpfe saßen fester als je, und die Griffe hatte ich sowohl von der praktischen Seite als – durch Anleitung Reiskes – in ihrem philosophischen Sinne mir zu eigen gemacht. Es dauerte auch nicht lange, bis ich in der Öffentlichkeit die Probe davon ablegte; mein Traum erfüllte sich, wenn auch eine Rangstufe tiefer, ich hatte den Posten vor dem Hause des Regimentsstabes und präsentierte das Gewehr mit allem möglichen Raffinement.

Das Wetter änderte sich, auf drückende Hitze folgten Regentage. Unsre Quartiere wandelten alle paar Tage in ein andres Dorf, die Schanzarbeit wurde ausgesetzt, der Vorpostendienst trat an seine Stelle, und diesen löste eine Detachierung in ein Gebiet ab, wo Franktireurs Transporte beunruhigten; und unter all diesem Wechsel floß unser Leben im einförmigen Gang des Dienstes fort, nur scheinbar mannigfaltig, in Wirklichkeit immer dieselbe Kraft anspannend und dieselben Fähigkeiten übend und steigernd. Ich lernte ertragen, was mich am fremdartigsten berührt hatte, nie einsam mit meinen Gedanken zu sein. Eine große Sache für Menschen, die sich Sinnen und Denken zur Lebensaufgabe gemacht haben! Der Soldat gehört auch »in finstrer Mitternacht so einsam auf der stillen Wacht« nicht ganz sich selber an. Er muß wachen und spähen, und die leeren Augenblicke füllt er mit Gedanken an den Dienst von gestern oder von morgen an, an die Vorgesetzten, die Kameraden, an den Feind, und behält oft nicht viele Minuten, an die Lieben in der Heimat zu denken. Aus sich selbst, sozusagen hinausgewiesen, schließt er sich doppelt eng an Gleichgesinnte an, und was seinem eignen Innern vielleicht entgeht, das gewinnt die Kameradschaft und im günstigsten Falle die Freundschaft.

So kam es denn auch bei uns, daß ich und meine zwei Nebenmänner ein Kleeblatt wurden, das immer fester wie aus dreifachem Anschlußbedürfnis gewachsen zusammenhielt und noch andre, die ferner blieben, gelegentlich anzog. Im Grunde bildete aber Haber den Mittelpunkt, weshalb es nun doch wohl an der Zeit sein dürfte, zu sagen, wie dieser gute Kamerad war, und wie er sich gab.

Habers »Personale« würde etwa gelautet haben: Unregelmäßiges Gesicht, etwas aufgeworfen hinausstrebende Nase, unbedeutendes Kinn, weicher, freundlicher Mund, leichtes Bärtchen auf der Oberlippe, und in diesen freundlichen, aber an sich wenig ansprechenden Zügen ein paar braune Augen, die gerade und klar in die Welt schauten, nur wie es schien, immer etwas weiter hinaus, als gerade nötig war, weshalb Leute, die Haber nicht kannten, ihn für einen unpraktischen Träumer halten mochten. Aber so gut wie dieser schlanke, schwanke Schneidergesell zuzeiten den Mut eines Ritters entwickelte, verband er träumerisches Nachdenken mit scharfer Wahrnehmung des Wirklichen.

Wie wenig kennt der unsre alemannischen Bauern, der da meint, ihr inneres Leben sei so einförmig wie ihre Tagewerke und so einfach wie ihre einsilbige Rede! Die Kunst der Beurteilung der Menschen wäre leicht, wenn sie sich auf das beschränken könnte, was einer spricht; man muß aber mindestens zu ahnen wissen, was unter seinem Schweigen liegt. Die Augen deuten es an, und die Handlungen sprechen es oft mit überraschender Deutlichkeit aus. Vieles kommt erst zum Vorschein, wenn die Wärme einer herzlichen Liebe das Mißtrauen durchschmilzt, das die Herzen einfacher Leute umschalt und preßt, sodaß sie sich kaum regen können und verlernen, in Freude oder Schmerz höher zu schlagen. So war Haber eine feine Seele, deren Magnetrichtung auf das Gute erst sein Handeln zeigte. Und als nun einer sein Freund wurde, den er für besser hielt als sich selbst, kam das Gute erst heraus, und mitten in der Wildheit des Krieges freuten sich die beiden, oben zu bleiben.

Als Soldat zeichneten ihn der Instinkt des Gehorchens und der Ordnung und ein hervorragendes Talent zum Schießen aus. Er war nicht bloß, was man so sagt, ein guter Kompagniesoldat, sondern überhaupt ein braver Kriegsmann. Ohne eigentlich Freude am Krieg zu haben, war er sehr geschickt in allem, was der Krieg vom Soldaten verlangt. In Friedenszeiten hätte er sich mit ebenso großer Geschicklichkeit in die verschiedensten Berufe hineingelebt. Nun zweifelte niemand, daß er in die nächste Lücke als Unteroffizier eintreten müsse. Ja manche meinten, er sei der geborne Unteroffizier; die kannten aber Haber nicht, der durchaus keine Lust zum Befehlen in sich fühlte und behauptete, er habe das nie gelernt, habe übrigens auch kein Talent dazu, und es werde ihm schon bei dem Gedanken unbehaglich, in einen sogenannten weitern Wirkungskreis eintreten zu sollen. Das war nicht Ziererei. Ich habe nie eine weichere, weiblichere, unterordnungs- und anschlußbedürftigere Natur in einer männlichen Heldenseele kennen gelernt, nie weniger Ehrgeiz bei einer Pflichterfüllung gefunden, die vollständig war, ohne streng zu sein. Haber ist übrigens später in meine Gefreitenstellung gerückt und tat Unteroffizierdienst, als ihn ein Granatsplitter tödlich traf.

Man spricht oft so wegwerfend von Bedientenseelen, und doch wie schön kann die Seele eines Menschen sein, der recht dienen will und kraft ihrer Anlage dienen muß! Unser Kamerad erniedrigte sich nicht, indem er uns die Uniformknöpfe annähte, so wenig wie einer von uns, wenn wir uns beim Gewehrputzen halfen einen Rostfleck im Lauf beseitigen, was nur angestrengtes Reiben mit dem wergumwundnen Ladestock bewirkt, wobei der eine das Gewehr hält und der andre reibt. Wenn jener auch das Monopol des Feueranmachens hat, scheut sich doch keiner, Kartoffeln zu schälen oder den dünstenden Reis umzurühren. Das Reinigen der Gefäße, aus denen man gegessen hat, nicht gern selbst zu besorgen, ist eine menschliche Schwäche, besonders wenn man einen ermüdenden Marsch hinter sich hat. In der Tat, das haben wir Haber sehr oft besorgen lassen, doch wenn es nötig war, taten wir es auch selbst. Haber hatte von vornherein auf solche Geschäfte eine Art Vorrecht mit der Motivierung beansprucht, daß er damit vertraut sei, und daß sie ihm leichter von der Hand gingen. In der Tat war er über die Anfangsgründe soldatischer Kochkunst hinaus, d. h. er wusch das Fleisch, ehe er es kochte, er hing nicht mehr an dem Aberglauben, daß das Salz einkoche, weshalb es beständig erneuert werden müsse, es konnte ihm auch schwerlich vorkommen, daß er ein Huhn mit seinem ganzen »natürlichen« Inhalt an den Bratspieß steckte. Beim Kaffeekochen genügte es ihm nicht, die Bohnen auf die Tischplatte auszubreiten und mit einer soliden Bierflasche zu zerquetschen. Da die kleinen zinnernen Kaffeemühlen, die zur Ausrüstung gehörten, nichts taugten, hatte er irgendwo eine echte Kaffeemühle »gefunden,« die man bisher ohne Neid und Aufsehen von einem Quartier zum andern zu schleppen gewußt hatte. Haber hatte einmal die Ansicht ausgesprochen, es schicke sich für ihn, durch Arbeit ein klein wenig von der Schuld abzutragen, die durch unsre Ausgabe für die Lebensbedürfnisse für ihn auflaufe. Als aber einmal dieser kitzlige Punkt besprochen und Geld- und Arbeitsleistungen abgewogen waren, blieb er hinfort unberührt, und jeder tat, gab und nahm, wie es die Umstände und das wachsende freundschaftliche Vertrauen brachten. Wenn Menschen bereit sind, ihr Leben füreinander zu geben, werden sie sich wohl über Pfennige einigen können!

Haber sprach wenig von seiner Vergangenheit, das war ja auch nicht Stil bei uns; nur einige Sentimentale sannen viel dem nach, was sie in der Heimat gelassen hatten. Der durchschnittliche Soldat lebt der Gegenwart, und auch für mich und Reiske war das Festhalten der Gedanken an der einfachen Aufgabe des Tages das Selbstverständliche, ihr Hinausschweifen in Vergangenheit oder Zukunft, alten Bahnen folgend, betrachteten wir als eine Abirrung, einen Rückfall in früher Gewohntes. Haber hatte das arme, einfache, aber kühl geregelte Leben eines Frühverwaisten hinter sich, Pflegeeltern und Waisenhaus, von denen er pflichtmäßig dankbar sprach, mochten ihm nicht viel Stoff zum Zurückdenken geben. Er hatte ein Jahr in einem kleinen Städtchen in der Schweiz als Schneider gearbeitet und war dann in das Regiment eingestellt worden, worin er nun am Ende des dritten Jahres diente. Beim Überfluß an Handwerkern hatte man ihn nicht in die Werkstätte gesteckt, sondern seine unzweifelhaften Anlagen zum Soldaten tüchtig ausgebildet. Er freute sich ohne Stolz, daß ihm so vieles leicht wurde, womit sich andre im Dienste plagen. Wer zum Dienen und Gehorchen erzogen worden ist, wie ich, sagte er, dem fällt das Soldatenleben nicht schwer. Ich finde es viel leichter, in der Kompagnie zu gehorchen, als in einer Werkstatt. Eigentlich habe ich in der Kompagnie eine bessere Heimat gefunden, als ich je gehabt habe, und nach dem Hauptmann wird mir kein Meister mehr gefallen.

Bei der Belagerung von Straßburg mußte das südlich davon liegende Neudorf immer mit besondrer Vorsicht behandelt werden, denn die eine Hälfte davon lag noch unter den Kanonen der Festung, in deren Schutz sich hier gern französische Patrouillen vorwagten; die andre Hälfte war von den Unsern zu verschiednen malen besetzt worden, aber nie auf die Dauer, da eben das ganze Dorf, das übrigens, halb Vorstadt, zum Teil auch städtisch gebaut war, nicht gehalten werden konnte. Zuletzt blieb in der diesseitigen Hälfte ein Unteroffiziersposten, der gelegentlich beunruhigt wurde, zu verschiednen malen bis hart an das Glacis vorging, dann aber auch wieder verdrängt wurde, wenn die Franzosen mit Übermacht aus der Festung vorbrachen. Als das wieder einmal geschehn war, wurden wir an einem schönen Augustmorgen nach Neudorf hineingeschickt, aus dessen äußersten Häusern nach unsrer Seite zu die Franzosen die Vorposten mit schlechtgezieltem Feuer belästigten. Sie durften sich hier nicht festsetzen, mußten mindestens auf die Festungsseite zurückgeworfen werden. Der Hauptmann ließ das Feuer einstellen, das sich zwischen den Franzosen drinnen und unsern Leuten außen entsponnen hatte, und das, dem Gerüchte nach, aus der nie fehlenden Büchse unsers Sergeanten Mohr einem Franzosen, der beim Kaffee an einem von uns aus zu übersehenden Tische eines bekannten Gasthauses saß, Kaffeetasse und Leben gekostet hatte. Auf die Nachricht, daß sich die Franzosen eilig zurückzögen, gingen kleine Abteilungen von unsrer Seite vor. Wir wollen ihnen zeigen, was von Neudorf uns gehört, und ihnen womöglich ein paar Leute wegschießen, damit sie nicht zu frech werden, rief der Hauptmann dem jungen Leutnant zu, der uns führte. Wir umgingen den Verhau, der quer über die Straße das Gros der Feldwache deckte, und formierten uns in Spitze, Haupttrupp und Seitendeckungen. Meldet sich jemand für die Spitze? fragte der Leutnant. Es ist ja möglich, daß sie gleich angeschossen wird. Haber und ich traten vor. Der Haupttrupp wartete, bis wir und die Seitendeckungen den Rand des Dorfes erreicht hatten; es fiel kein Schuß, er rückte nach und besetzte sofort einige Häuser zu beiden Seiten der platanenbesetzten Straße. Dasselbe taten verabredetermaßen die Seitendeckungen. So, nun erst das übrige Dorf absuchen, ob noch was drinnen steckt. Die Spitze wurde durch fünf Mann verstärkt, die sich dazu meldeten. Der Leutnant führte uns, wir verteilten uns auf beide Seiten der Straße. Gelegentlich wurde gehalten, gefragt, ein Blick in ein Haus geworfen, es schien alles sicher. Die Leute auf dieser Seite kannten uns schon, waren wir doch öfters im Dorf gewesen, wir konnten ihnen glauben, daß die Franzosen in die Festung zurückgekehrt seien. Wir waren jetzt an einer Art Dorfplatz angekommen, wo unsre breite Straße, die auf die Festung zuführte, von einer quer durchlaufenden Straße gekreuzt wurde. Hier hatte man sonst gewöhnlich Halt gemacht, aber heute war der Wunsch zu lebhaft, den Franzosen das Wiederkommen zu verleiden, ihnen womöglich einen Denkzettel zu geben. Mindestens die Querstraße mußte noch abgesucht werden. Diese Seite hier, meinte unser Führer, ist nicht verdächtig, sie führt auf eine Feldwache der Unsrigen zu, von der aus man in ihre letzten Häuser hineinsieht; die andre, die von uns wegzieht, ist bedenklicher, da sind die Franzosen früher schon gesessen. Wir suchen sie ab; Sie, wandte er sich zu Haber und mir, bleiben hier, beobachten die Straße zur Festung und sorgen, daß wir nicht von dorther überrascht oder am Ende gar abgeschnitten werden. – Zu Befehl, Herr Leutnant, keine Sorge! sagte Haber, und wir verteilten uns nach Art der Doppelposten auf beide Seiten der Straße, wo wir gedeckt bis an die Wendung sehen konnten, die die Straße vor dem Glacis macht. Die andern gingen die linke Querstraße hinauf, wo sich nichts zu regen schien, während wir die unsre scharf im Auge behielten. Längere Zeit war auch hier alles still. Da auf ein Bst! meines Kameraden sehe ich ein auffallend rasches Huschen an einem Hause hin, wie ein Schatten, und plötzliches Verschwinden im Eingang zu einem Garten. Achtung! Das war kein Bauer! rief Haber leise herüber. Ich stand schon schußfertig, um den Schatten aufs Korn zu fassen, sobald er wieder erschiene, aber Haber winkte ab. Wir beide standen unbeweglich und faßten das Haus scharf ins Auge, wo die Bewegung gewesen war. Halt da! Wieder eine Bewegung, diesesmal ein Fensterladen, der geschlossen wurde. Da ists nicht sauber, flüstert Haber mir hinter der vorgehaltnen Hand herüber. Jetzt bleibt alles ruhig; wir verwenden einige Sekunden kein Auge von dem Hause, dann ist Haber in wenig weiten Sprüngen an meiner Seite. In dem Hause sind Franzosen, das ist klar. Sieh, wie es vor den andern vorspringt und die Straße beherrscht. Ich wette, wenn wir auf der Straße vorgehn, bekommen wir Feuer dort aus dem Eckfenster des ersten Stockes, von dem aus man fast bis zur Feldwache hinunter sehen kann. Auch fängt gerade vor dem Hause eine Reihe von besonders großen Bäumen an, die den Rückzug aufs Glacis begünstigen. Die Hauptsache ist aber, den Rothosen den Rückzug abzuschneiden.

Ich schleiche mich jetzt dahin, wähle in ungefähr vierhundert Schritt einen guten Punkt. Geht ihr zurück, so ruft mich ein Pfiff, im andern Falle bleibe ich dort liegen, bis ich merke, daß ihr auf der Straße bis zu dem Hause vorgegangen seid. Sind wirklich Franzosen drin, so sorgt, daß sie nicht auf die Straße herauskommen, ich will sie in der Hintertür fassen. Du bleibst einstweilen hier, bis die andern zurück sind. – Gut, hoffentlich kriegen wir einige zum Schuß. – Haber sah sein Gewehr nach und verschwand geräuschlos in den dichten Haselbüschen des Gartenzauns. Als der Leutnant mit der Patrouille herankam, ging ich ihnen einige Schritte entgegen, meldete unsre Beobachtung und den Plan Habers, der Billigung fand. Nun scheinbar sorglos und doch vorsichtig auf der Straße vor, das bedenkliche Haus und besonders sein Eckfenster im Auge behaltend. Drei Leute blieben an der Kreuzung zurück, wir andern hielten uns bei den Straßenbäumen und den Zäunen der Vorgärten, um möglichst nahe bei Deckungen zu bleiben. Der Leutnant hatte sich von einem der Zurückgebliebnen das Gewehr geben lassen und die Hosentaschen mit Munition gefüllt. Fast lautlos war man an das gesuchte Haus herangekommen, das von mehr städtischer Bauart war als die andern; uns fiel besonders die schmale steinerne Treppe zu der engen Tür auf, die innerhalb der Mauern des Hauses lag. Horch, ein Geräusch innen, ein Augenblick Stutzen, dann lautes Kommando: Zwei Mann in die Tür! und in demselben Augenblick Schüsse aus den Fenstern oben und Schüsse aus der Tür, die eingedrückt wird; einige von uns erwiderten von den Bäumen der Straße aus die Schüsse aus den Fenstern, zwei waren den ersten beiden ins Haus gefolgt. Nun plötzlich zwei Schüsse rasch hintereinander hinter dem Hause, dann Rufe der Unsrigen. Auf Befehl: Keinen Schritt weiter! bleiben wir an den Bäumen, der Sergeant führt zwei französische Infanteristen aus dem Hause, deutet auf zwei oder drei Gefallne, die in dem dunkeln Gange liegen, und einer seiner Begleiter stößt den Laden des gefährlichen Eckfensters auf. Die Gefangnen werden zur Seite gestellt, ein dritter liegt leicht verwundet im Hause; die zwei Toten, deren einen der Sergeant beim Öffnen der Tür über den Haufen gestochen hat, bleiben liegen. Nun rasch zurück, die Gefangnen und den Leichtverwundeten voraus. An der Kreuzung ein herrlicher Anblick: Haber mit drei Gewehren in der einen, einem Rosenstrauß in der andern und zwei entwaffneten Zuaven vor sich, die uns neugierig anlächeln. Die ganze Geschichte hatte ein paar Minuten gedauert. Der Leutnant erzählte, wie er in dem Augenblick, wo er zwei Mann in den Türeingang geschickt habe, damit sie dort gedeckt stünden, den Laden des Eckfensters sich habe halb öffnen sehen und sogleich auch an Steinchen, die die Kugel aufschleuderte, den Schuß empfunden habe; seine Beinkleider waren davon an mehreren Stellen durchlöchert. Der Sergeant aber drückte in demselben Augenblicke die Tür ein, die von innen geöffnet werden wollte, schlug einen Gewehrlauf zurück, stach mit dem Bajonett den Träger nieder, worauf sich der zweite ergab, und ein dritter von der Treppe aus Pardon rief, als ihm Habers Schüsse sagten, daß die Hintertür versperrt sei. Haber hatte nicht eine halbe Minute, nachdem vorn die Schüsse gefallen waren, die Hintertür aufreißen und drei Franzosen herausstürzen sehen, deren einen sein erster Schuß niederstreckte. Dem zweiten sandte er eine Kugel nach, der dritte warf auf den Zuruf sein Gewehr weg und stellte sich selbst, worauf sich der zweite mit einem Fleischschuß in der Hand umwandte und seinem Kameraden folgte. Zur Erinnerung nahm Haber blühende Zweige von der Rosenhecke mit, in deren Schutz er seine Umgehung zum glücklichen Ende geführt hatte. Er teilte sie eben aus, während wir uns dem andern Ende des Dorfes zu bewegten. Das verdächtige Pfeifen der Geschosse, die ohne Schaden in der Luft platzten, kündete uns an, daß man in der Festung das kleine Gefecht bemerkt hatte. An der letzten Biegung der Straße, wo man das umstrittne Haus noch sehen konnte, wandte sich der Leutnant um, der, kurzsichtig, als er eine Gestalt über die Straße huschen sah, mein Gewehr nahm und abschoß; wir hörten den andern Tag, daß er ein Mädchen tödlich getroffen hatte, das nach dem Toten oder Schwerverwundeten habe sehen wollen, der in dem Hause zurückgeblieben war. Zur Feldwache zurückgekehrt, empfing uns der Hauptmann mit Blicken, in denen man etwas wie Anerkennung lesen konnte, und ließ sich vom Leutnant genauen Bericht erstatten. Die Gefangnen wurden gleich zurückgesandt »zu den andern.« In Neudorf blieb es einige Tage vollkommen ruhig, bis ein nächtlicher Ausfall die Posten des Regiments, das uns abgelöst hatte, ganz daraus verdrängte, worauf es den nächsten Morgen mit geringem Verlust auf unsrer Seite wiedergenommen wurde. Die Besatzung der Festung fing damals schon an zu erschlaffen, und bald ließ sie uns ganz unbehelligt im Besitz des Dörfchens. Habers entschiednes und wohlüberlegtes Auftreten in dieser kleinen Affäre wurde in der ganzen Kompagnie anerkannt, besonders der Leutnant hatte eine Vorliebe für ihn gewonnen. Wenn er auch noch mehrmals Gelegenheit fand, sich auszuzeichnen und wohl schwierigere Aufgaben zu lösen, so war doch einmal sein Ruf festgestellt; er gehörte von da an zu den Soldaten, auf die sich die Kompagnie in allen Fällen verlassen konnte. An seiner Bescheidenheit und seinem Gleichmut ging aber diese Erhöhung seines Ansehens ganz spurlos vorüber, höchstens daß sie ihn anspornte, noch sorgsamer auch die kleinen Pflichten des Soldaten zu üben. Sogar seinen vertrautesten Kameraden gegenüber sprach er nicht gern von dem Neudorfer Straßengefecht, lenkte sogar ab, wenn die Unterhaltung darauf kam, und wir fanden mit der Zeit heraus, daß von dem letzten unglücklichen Schuß, den der Leutnant abgefeuert hatte, für Haber ein Schatten ausging, der in seiner Erinnerung auf dem fröhlichen Kampfe lag. Das arme, unschuldige Mädchen, hörte ich ihn das einzige mal sagen, wo er noch einmal jenes Tages gedachte, fällt ohne Schuld und ohne Waffen, und wir, deren Sache es ist, zu töten und getötet zu werden, gehn unbeschädigt aus dem Kampfe hervor. Ein solcher Schuß kann die Lust am Kriege verderben.

Als ich im Februar 1871 als Rekonvaleszent leichten Garnisondienst in einer süddeutschen Stadt nahe am Rhein tat, wurde ich in eine der Lazarettbaracken gerufen, um zur nachträglichen Identifizierung eines Unteroffiziers meines Regiments beizutragen, der mit einem großen Verwundetentransport von Belfort angekommen war. Eine schwere Schädelwunde hatte ihn bewußtlos gemacht, und er war nicht wieder zum Bewußtsein gekommen, solange er im Lazarett gelegen hatte; er war langsam hinübergeschlummert und war schon begraben, als ich der Botschaft folgen konnte. Keine Papiere, sein Tornister war nicht mit eingeliefert worden; doch hatte man seine Gewehrnummer aufgezeichnet und die Blechmarke, die er um den Hals getragen hatte, aufbewahrt. Damals herrschte in diesen Lazaretten so nahe beim Kriegsschauplatz oft große Verwirrung, weniger wegen der Verwundeten aus den letzten Schlachten bei Belfort, Dijon, Le Mans und Paris, als weil die Krankenzahl im Januar in unerhörtem Maße gestiegen war; und dazu kamen nun diese neuen Transporte, die schon deshalb sehr stark waren, weil die Truppen im raschen Vorrücken möglichst viel Marschunfähige abschoben. Die Uniform zeigte mir zu meiner Überraschung, daß der Mann meiner Kompagnie angehört hatte. Haben Sie sonst gar nichts mehr von dem Toten? fragte ich den Lazarettvorstand. – Alles ist hier, sagte er mit der trocknen Geschäftsmäßigkeit solcher Leute und deutete auf ein kleines Gefach in einer Schublade; da lag ein Gewehrschraubenschlüssel, ein altes Messer mit Hornheft und ein ledernes Zugbeutelchen; diese beiden Dinge kamen mir so bekannt vor, daß ich einen Stich im Herzen fühlte. Und der Inhalt des Beutelchens? Fast nichts; ein paar Münzen und Knöpfe; hier ein Kompagnieknopf mit einem Zweier. Und dann noch dieses Herzchen aus blauem Glas ohne Wert. Daraus ist wohl nicht viel zu entnehmen. Ich mußte blaß geworden sein, mein Herz war plötzlich schwer geworden, meine Hand faßte unbewußt an den Tisch. – Sie haben diesen Mann gekannt? fragte mich der Lazarettverwalter. – Ja, allerdings. Das war der Unteroffizier Haber von der zweiten Korporalschaft der zweiten Kompagnie, einer der besten Soldaten des Regiments und für mich der beste Kamerad. Schade um diesen Mann. Kann ich den Kompagnieknopf zur Erinnerung mitnehmen? Und sagen Sie mir die Nummer seines Grabes, das verdient einen Lorbeerkranz.

Aus spätern Erkundigungen machte ich mir folgendes Bild von der schweren Verwundung meines Freundes. Als bei dem großen Artilleriekampf des 16. Januar unser Bataillon hart über der Lisaine auf einer Anhöhe als Batteriebedeckung lag, war es dem Granatfeuer ausgesetzt; die meisten Geschosse gingen in den unbesetzten Wald hinter unsrer Stellung, andre krepierten im tiefen Schnee; immerhin fielen sie an einigen Stellen so dicht, daß Schnee und Erde wie von einem Riesenpflug aufgewühlt waren. Die Truppen änderten mehrmals ihre Stellungen, wo sie gerade waren, traten sie abwechselnd lange Kreiswege im Schnee, um sich zu erwärmen, und standen dann wieder bei den Gewehren, die zusammengesetzt waren. Gegen Abend nahm die Müdigkeit überhand, und manche legten sich in den Schnee, wo sie gerade standen. Um sieben Uhr kam die Ablösung und der ersehnte Ruf: An die Gewehre! Da blieb Haber, der sonst der erste und der schnellste war, lautlos liegen. Man hob ihn auf und fand ihn im Blute liegen; ein verirrter Granatsplitter hatte ihm durch den Helm durch den Schädel über dem linken Ohr eingedrückt. Er wurde bewußtlos hinter die Front gebracht. Einige Tage darauf wurde der Kompagnie mitgeteilt, daß er mit einigen andern das Eiserne Kreuz erhalten habe, und der Hauptmann schloß daran warme Worte und Wünsche für ihn.

Ich selbst habe in dem Sommer nach dem Kriege eine Gelegenheit benutzt, die mich in die Nähe seines Heimatortes führte, diesen zu besuchen und mich nach etwaigen Verwandten von ihm zu erkundigen. Ich hörte nur von ganz entfernten, die sich nie um ihn gekümmert hätten. Dagegen sei ein Mädchen dagewesen, mit dem Haber als Waise erzogen worden sei, das habe sehr an ihm gehangen; nach der Todesnachricht habe sie ihren Dienst gekündigt und sei ohne Aufsehen weggegangen; soviel man wisse, habe sie in der Schweiz einen andern Dienst angenommen.


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