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6. Bildung

Wo sich das Dach auf den Boden senkte, war der Winkel durch eine Bretterwand abgeteilt, und ein Fenster war eingesetzt, das nach Süden ging. Man hatte besonders wertvolle Droguen in dem schrägen Dachkämmerchen aufbewahren wollen, doch bedurfte man seiner in dem mehr als geräumigen alten Hause nicht. Niedere grüne Kasten, mit verschnörkelten Aufschriften, noch von trocknen Arzneikräutern duftend, waren Tisch und Stuhl, wo ich saß und las und träumte. Eine schöne, helle Einsamkeit, befreiend durch den Blick über Dächer und Baumkronen. Noch heute behaupte ich, daß die Sonne hier mit einem besondern Glanz und einer eignen Freundlichkeit schien, und ihre Wärme hatte etwas Anbrütendes. So, wie sie über den heißen Ziegeln zitterte, lag sie wogend in dem Winkel. Ziegel und Schindeln bildeten eigentlich keine Schranke zwischen der Luft draußen und der drinnen, hinderten nicht, daß man sich dem Himmel näher fühlte. Mit sich und einem Buche hier allein zu sein, das uns weit von der Gegenwart und vielleicht sogar von der Erde wegführt, war eins von den Gefühlen, die das ganze Innere durchdringen, die von dem Augenblick an, daß wir in ihren Bannkreis treten, einen andern Menschen aus uns machen.

Der Trieb zum Nestmachen, zum Schaffen einer engen, abgeschlossenen Welt in irgendeinem Winkel, wo wir allein mit uns und mit ein paar Kubikmetern Luft sind, muß einer der ältesten der Menschheit sein, und ich ahnte immer, daß er Ehrfurcht verdiene. Er stammt noch von jenseits der Höhlenmenschen her, die ihre Riesenbrocken von Mammutfleisch oder ihre Wildpferdkeulen in die hintersten, dunkelsten Spalten und Klüfte schleppten. In dem absoluten Dunkel der hintersten Höhlenkammer mochten vielgeplagte Diluvialmenschen einmal Feinde, wilde Tiere und andre Gefahren vergessen, die sie von allen Seiten in die schwere Schule nahmen, aus der der Mensch einer höhern Kulturstufe hervorgehn sollte, der den Speer- und Pfeilspitzen Kanten und Schneiden anschliff und die Ösen der Äxte bohren lernte. Vieles spricht dafür, daß die größte Erfindung der Menschheit, das Feuermachen, zuerst in einer solchen Höhlenspalte aufleuchtete. Man könnte den Gedanken fortspinnen und käme zuletzt in der grünen Einsamkeit der Waldwanderungen an, der Helmholtz die Kraft nachrühmt, große wissenschaftliche Entdeckungen zu zeugen. Auch die Knospe hüllt sich in dunkle Blätter, und in lichtloser Tiefe beginnt das Keimen im Samenkorn; die Einkehr eines werdenden Menschen in sich selbst will dem, was er in sich wachsen fühlt, Wärme und Nahrung geben.

Die Lesestunden waren Wonnestunden, je einsamer desto schöner; auf das Buch kam es weniger an. Hinreißend wie Robinson, Lederstrumpf oder Sigismund Rüstig waren nicht viele; aber das machte ja gar nichts, denn ein großer Teil des Lesens war Sinnen und Träumen. Und etwas Neues mußte doch in dem langweiligsten Buch stehn. Mindestens macht man die Bekanntschaft des Autors, und nach dem Satze: Wessen Buch du liesest, dessen Geist kommt über dich, mußte immer irgend etwas dabei herauskommen. Ich erinnere mich denn auch, daß ich auf dem Höhepunkt der Lesewut nie geneigt gewesen wäre, ein Buch langweilig zu finden, und ich focht heiße Kämpfe für die ödesten Schmöker aus, in die ich alles mögliche hineinlas. Wenn ich in dem Winkelkämmerchen unter den Ziegeln saß, oder gar im Grünen mich einsam an eine alte Eiche lagerte, die einen lebhaften Verkehr von Käfern und Schmetterlingen hatte, da konnte das Buch so vollkommen unlesbar sein, wie ein Band von Sturms Insekten Deutschlands, der nur trockne Artbeschreibungen enthielt: das Gedruckte wirkte wie ein Zauber; ich stellte mir die Käfer vor, die da sorgsam beschrieben waren, und verfolgte dabei stundenlang das Krabbeln und Arbeiten der großen schwarzen Böcke, die in dem Eichenmulm wühlten. Wenn von Menschen die Rede war, ging es mir nicht viel anders. Ich betrachtete ihre Worte und ihr Tun neugierig, wie das Krabbeln und Summen der Käfer, überschlug aber regelmäßig die Dialoge und die Geschicke der Liebenden, da meine kurze Freundschaft mit Luise mich genugsam belehrt hatte, daß man das Schönste und Feinste in dem Verhältnis zweier Menschen, die einander gern haben, nicht aufs Papier bannen kann. In allen andern Beziehungen stand ich aber unter dem magischen Banne des Gedruckten und war machtlos gegen das erdrückende Herandrängen des schwarzen Buchstabenheeres, das meinen Geist umzingelte. Das damals schon übliche »Er lügt wie gedruckt« blieb mir völlig unverständlich. Nun meine ich einzusehen, daß auch etwas Stolz bei dieser Unterwerfung war, denn mein Alter war gerade das, wo man den höchsten Beweis von geistiger Reife gegeben zu haben glaubt, wenn man meint zu verstehn, was jeder andre gedacht hat. Und doch haperte es mit dem Verstehn oft genug. Wie lange schlug ich mich mit dem Gedanken herum, der mir aus irgendeiner Literaturgeschichte angeflogen war, daß jedes Volk von Rechts wegen sein Nationalepos haben müsse, und es schmerzte mich, zugeben zu müssen, daß weder die Messiade noch Vossens »Luise« das für die heutigen Deutschen sein konnte. Ihn anzuzweifeln kam mir nicht in den Sinn. Mein Wissen reichte nicht hin, die Gegengründe mit Sicherheit heraufzuzitieren. Und so ging es in vielen andern Dingen. Ich hätte soviel darum gegeben, mein eignes Urteil in ästhetischen Dingen zu haben, aber es ließ sich nicht erzwingen; ich hörte, wie andre urteilten, und wenn ich zu widersprechen wagte, merkte ich wohl, daß ich mich an Kleinigkeiten hängte oder, halb unbewußt, fremde Urteile wiederholte. Schwer ist es, zu reifen!

Auch die Ansichten, die ich in den Büchern und Zeitungen fand, waren mir Tatsachen, die ich mit derselben Sicherheit ergreifen und in mich hinein verpflanzen zu können glaubte, wie die Beschreibung eines Landes oder eines geschichtlichen Ereignisses. Wenn ich aber nach einiger Zeit auf die entgegengesetzte Ansicht stieß und doch nicht unterscheiden konnte, welches die rechte sei, fand ich doch bald den geringern geistigen Nahrungswert der Ansichten und Meinungen heraus. Indem ich an ein physikalisches Axiom dachte, nannte ich die Tatsachen Körper, die undurchdringlich sind, die Ansichten aber Schatten, die der Wirklichkeit entbehren.

Zu dieser Zeit waren noch viel mehr alte Bücher am Leben als heute, und das gab auch sogar kleinen Büchereien, wie man sie gelegentlich besonders in den Häusern der Pfarrer und der Ärzte fand, einen Reichtum oder vielmehr eine Mannigfaltigkeit, die eine moderne Büchersammlung nicht hat. Schon äußerlich zeichneten sich die alten Bände mit ihren braunen bunt oder mit Gold bedruckten Lederrücken und ihrem roten oder Marmorschnitt vor den Erzeugnissen der zur Stümperei herabgesunknen Buchbinderei des mittlern neunzehnten Jahrhunderts aus. Die Menschen, die Chronegks Kodrus oder Wielands Agathon lasen, haben jedenfalls, im Verhältnis zu ihren Mitteln, mehr Bücher gekauft als ihre Nachkommen, und sie hatten Freude an ihren Büchern. Manche davon sahen doch wie Schmucksachen aus. Was für Prachtausgaben hat es von Haller, Ewald von Kleist, besonders aber von Klopstock und Wieland gegeben! Sogar die Nachdrucker statteten ihre Bücher manchmal pompös aus. Man las weniger, aber man stand auf einem vertrautern Fuß mit diesem wenigen, man kehrte öfter dazu zurück, Bücher wurden Freunde, Lebensgefährten. Nun entdeckte ein Jüngling aus der dritten Generation diese alten Bücher, die vielleicht in einem ganz vergessenen Winkel standen, und für ihn wurden sie eine neue Welt, in die er sich mit dem Stolz des Entdeckers hineinlebte. Wer hätte nicht die Erfahrung gemacht, daß er sich im Beginn seiner Bildung, bei noch unreifem und schwankendem Urteil, in den klassischen Werken verirrt, von dem schön ausgelegten Hauptweg abkommt und in nebensächliche Anpflanzungen hineingerät? Es folgt Enttäuschung und Abstumpfung, man verschmäht nun überhaupt die klassischen Wege zu gehn und kehrt vielleicht nie mehr zu dem zurück, was man einmal aufgegeben hat. So hatte ich in der Messiade eine Erhabenheit gefunden, die mir zwar allzu wortreich und mühsam, verglichen mit der Bibel, zu sein schien, aber ich hielt mich neugierig an die Art, wie Klopstock das Größte seinen Lesern poetisch vorstellbar zu machen strebte; eigentlich langweilig muteten sie mich aber nicht an, ich habe sie durchgelesen, und einzelne Stücke nicht bloß einmal. Und ebenso die Oden. Das, was mir damals das unbestimmte Gefühl eines Mangels, ein stumpfes, dumpfes Gefühl gab, habe ich später erst verstehn lernen, nämlich den Mangel des Frischen, Unmittelbaren. Ich kam der Wahrheit erst näher, als ich ahnte, daß gerade das, was den frischen Quell im Gras oder die hohe Blume im Wald freudenreich und schön macht, in Klopstocks Versen nicht sei. Und ebenso nicht in Hallers Versen. Schöne Gedanken, große Gefühle, aber alles gemacht, ersonnen, für gebildete Leser in einer feierlichen, künstlichen Sprache mit viel Absicht gesagt. Also das Gegenteil von Natur. Daher auch die Empfindung, man müsse solche Dinge nachahmen können. Die Einzigkeit und die Unnachahmlichkeit des aus Gottes Hand hervorgegangnen Kristalls oder der einfachsten Blüte war nicht in diesen Dichtungen, denen man im besten Fall den Lobspruch »Schön gesagt« spenden konnte.

Ich habe in diesen jungen lernfrohen Jahren besonders Goethe, aber mit ihm der ganzen ästhetischen Überkultur gesunder und freier gegenüber gestanden als später, wo ich mich in die ästhetischen Fäden verwickelt hatte, die das Leben der gebildetsten Kreise, vorab in einer Kunststadt, vollständig einspinnen. So wie ich bei »Kunstkennern« die Erfahrung gemacht habe, daß das naive Empfinden des Kunstwerks für sie von dem Augenblick an aufhört, wo sie sich mit der Frage beschäftigen, wie es »gemacht« ist, so fällt auch auf das poetische Empfinden die Rücksicht auf die Technik als ein wahrer Meltau. Ich war dem Leben noch zu nahe, als daß ich die Probleme des Herzens nur so als Objekte des Kunsthandwerks hätte auffassen können. Wie konnte Werther einen Eindruck auf mich machen, da ich auf demselben Punkt gestanden hatte wie er? Ich hatte das Unmännliche in meiner eignen Stimmung mit Beschämung empfunden, da vermochte Goethes schöne Sprache das Entnervende in Werthers Gefühlsschwelgerei mir nicht zu verdecken. Ich las mit überzeugtem Beifall in Vilmars Literaturgeschichte das Wort von dem Gift in herrlichem Kristall, das Goethes Dichtung uns darbiete. Es tat mir damals gerade das wohl, daß nicht die Großen mit ihrer ganzen Wucht auf einmal an meinem Gesichtskreis aufstiegen. Leichtere Wölkchen, die auch dann keine Welt verfinsterten, wenn sie tränenreich aufzogen, wie Höltys Gedichte, schwebten voran. Ein junges Menschenkind, das ganz Leben und Natur ist, kann, ohne in unzeitige Schwelgerei zu verfallen, nur eine schwache Dosis Poesie vertragen. Das Hineinpumpen fremder Poesie durch wütiges Lesen von Gedichten und Romanen in diesem Alter kommt mir jetzt so recht als eine strafbare Bildungspantscherei vor. Die elementare Poesie, die in uns Kindern still pflanzengleich herangewachsen war, wurde durch dieses Begießen mit ungesund antreibenden Stoffen in falsche Richtungen gelenkt, wenn nicht ausgetrieben: an die Stelle von Blühendem Gedrucktes, Papier für Blumenblätter.

Es ist mir erst später klar geworden, daß es gerade die Weite des Wortes Bildung ist, was so faszinierend auf alle wirkt, die nach Bildung streben. Ich bewegte mich in einem Kreise, wo es nicht für selbstverständlich galt, daß alle, die darin verkehrten, gebildet waren. »Ist er gebildet?« konnte man oftmals fragen hören, und manchmal lautete die Antwort: »Ja, er ist sehr belesen.« Die Bildung wurde hauptsächlich darin gesucht, daß man gewisse Schriften gelesen hatte, ich konnte mich aber des Verdachtes nicht erwehren, daß dabei weniger an die Bewältigung des Inhalts als an die Zeit gedacht wurde, die dazu nötig war. Wer diese Zeit aufwenden konnte, bewies damit, daß er bis zu einem gewissen Grade Herr seiner Zeit war, und wer sie aufwenden wollte, erkannte damit eine Art von Verpflichtung gegen die Gesellschaft an.

Was war es nun, dessen Kenntnis man von diesen Gebildeten verlangte? Schillers Gedichte, Hebels alemannische Gedichte und Rheinländischer Hausfreund, Nadlers Fröhlich Pfalz, Gott erhalts!, Blüten und Perlen oder sonst eine Anthologie waren Bücher, in denen die meisten gelesen hatten. Auch fand man auf vielen Bücherbrettern Schlossers Weltgeschichte und Cannabichs Geographie. Einzelne Bändchen der Groschenbibliothek waren noch in manchen Winkeln vorhanden. Man lernte da Pseudoklassiker wie Krug von Nidda, aber auch echte Dichter wie Hölty, Bürger, Claudius kennen, von deren Gedichten mehr geläufig waren als heute. Dagegen gehörten Lenau, Uhland, Freiligrath einer Woge an, die erst nach dieser unsern Strand erreichte, und Goethe stand allen fern, wurde als schwerverständlich von den einen, als sittengefährlich von den andern und als teuer von allen gemieden. Goethes Werke gab es auf zwei Stunden im Umkreis nur bei einem alten einsamen Dorfarzt.

Es ging wohl von der weiblichen Seite der Eichelberger Gesellschaft zuerst die unerhörte Frage aus: Sind wir denn gebildet genug? Da war eine Arztesgattin, dort eine Pfarrerstochter, die behaupteten, man müsse etwas mehr für den Geist tun, die eine klagte, die Lehrersfrauen läsen schon dieselben Bücher wie die Frauen höherer Beamten, und die andre hatte bei einer Fahrt im Stellwagen mit der Tochter des Wollwarenfabrikanten Staar in Roßloch den Eindruck gewonnen, man müsse etwas Besondres tun, wenn man nicht auf das Niveau von solchen Leuten sinken wolle. Daß der jüdische Kaufmann und Auswanderungsagent Stieglitz in Aspringen für seine zahlreichen Kinder einen Hauslehrer angestellt hatte, der angeblich in München und Paris doziert hatte, verstärkte die Befürchtung, daß die Intelligenz des Bezirksamts Sensenheim überflügelt werden könnte. Bei den mit reichlichem Kaffee gewürzten Besprechungen in den »Staatszimmern« der Honoratioren stellte sich heraus, daß die Männer dieser Bildungsfrage kühler gegenüberstanden. Natürlich! Sie, die Studierten, konnten sich doch nicht von einem Staar oder Stieglitz überholt glauben! Der Rentamtmann erzählte, daß Herr Staar noch nicht einmal orthographisch sprechen könne; er spreche beständig von Streechwolle statt Streichwolle, halte jenes für feiner; und das Bildungsstreben der Familie Stieglitz erschien der Gesellschaft nicht mehr so bedenklich, als der Bezirksförster erzählt hatte, ihr Hauslehrer sei eine Art von Naturmensch, der auf Stroh schlafe und sich zur Verrichtung seiner Bedürfnisse in den Wald begebe. Mein Prinzipal, der mit Herrn Stieglitz Geschäfte machte, nahm seinen Klienten in Schutz und erklärte, der Hauslehrer sei ein Mensch wie andre auch, sogar etwas hochmütig, und daß Herr Stieglitz ihn angestellt habe, sei durchaus nicht »aus Überhebung geschehn, sondern weil ihn das billiger komme, als vier Kinder in die fernen städtischen Schulen zu schicken. Wenn nun auch mit Beifall von dem schwäbischen Rentamtmann das große Wort ausgegeben wurde, dieses Bildungsstreben sei gerade ein so norddeutsches Gewächs wie manche andern Ideen, die besser im märkischen Sande als in unserm tiefern Boden gediehen, so siegte doch der Wunsch der Frauen und der heranwachsenden Jugend, etwas mehr von der Welt zu vernehmen und die herannahenden Herbstabende, an denen die Männer länger im Kasino saßen, mit frischerer Leseware zu verkürzen. Man beschloß die Begründung eines Lesezirkels, an dem die höhern Beamten, die Pfarrer, Ärzte und Apotheker des Eichelberger Ländchens teilnehmen sollten, von dem aber schon die Lehrer selbstverständlich ausgeschlossen waren. An den Herrn Baron wandte man sich gar nicht, weil man bei seiner Abneigung gegen das Lesen moderner Literatur einen Korb vermuten konnte, und ebensowenig an den katholischen Kaplan, von dem man voraussetzte, daß ihm manches Buch nicht gefallen werde, das man vielleicht zu lesen wünschte. Mein Prinzipal wurde zum Geschäftsführer gewählt, weil er, sagte man, freie Zeit und junge Leute, nämlich uns, zur Verfügung hätte. Im Hintergrunde mochte mehr noch die Hoffnung wirksam gewesen sein, daß seine Verschwägerung mit einem hervorragenden Verlagsbuchhändler ihm billigem Bezug der Bücher ermöglichen werde.

Ich habe noch heute eine große Freude an der Öffnung eines Bücherpakets voll Neuigkeiten, aber in jenen Jahren war mir ja jedes Buch viel neuer, enthielt jedes viel mehr Wichtiges, Wertvolles, vielleicht Erstaunliches. Das Gefühl gespannter Teilnahme, mit dem ich im Schweizer Robinson die allmähliche Entleerung des gestrandeten Schiffes las, wobei ein Schatz nach dem andern ans Licht kam, durchrieselte mich wie Seligkeit, wenn ein grauer Pack vom Buchhändler anlangte. Schon die saubere Rechteckgestalt mußte ansprechen, sie verkündete die entsprechend geformten, scharf umgrenzten Büchergestalten, die verheißungsvoll herausquollen, wenn die Schnüre gelöst waren. Da lagen zu unterst die Zeitschriften mit ihrem kaum zu übersehenden Inhalt: die Gartenlaube, die damals noch in jungen Jahren stand, W. O. von Horns Maje, das Buch der Welt mit seinen bunten Farbentafeln und, über alle geschätzt, die aristokratischen Westermanns Monatshefte. Man sah die Abende vorüberziehn, an denen diese Hefte entfaltet werden sollten, und zählte die Stunden behaglicher Spannung bei ihrer Lektüre voraus. Da wurden die neu erschienenen Bände der Romane von Mühlbach, von Hackländer, von Mügge, von Otto Müller, Becker und so manchen andern auseinandergelegt. Ich habe aus solchen Bänden auch unvergeßliche Werke wie Scheffels Ekkehard und Kürnbergers Amerikamüden hervortreten sehen. Auffallend arm war damals die historische und die Memoirenliteratur; bis in unsre Kreise drangen Ranke und Sybel nicht hinab, am meisten gelesen schien mir Macaulays englische Geschichte mit zahllosen schlechten Holzschnittporträts. Für mich lag regelmäßig irgendein Lern- oder Studierbuch dabei, das mich immer zuerst durch sein äußeres Gewand ergötzte, wie es nun auch sein mochte, ehe ich mich an sein Inneres machte. Im Grunde gefiel mir eben fast jedes Buch schon von außen, denn es war immer eine Verheißung, und eine Ausnahme davon machten nur die »roh« versandten, die man erst heften lassen mußte. Ich vergesse nicht den Eindruck, als ich die Homerausgabe der Firmin-Didotschen Klassikerbibliothek mit lateinischer Übersetzung erhielt: ein starker, straff gehefteter Band in festem Umschlag von unscheinbarer graugrüner Farbe, von dem sich das vortreffliche Papier, der klare, saubere Druck in fremdartigen eleganten Griechenlettern schön abhoben. Das war ein Kunstgenuß! Die höchste Stufe dieses äußerlichen Büchergenusses erstieg ich allerdings erst einige Jahre später, als mir mein nun längst verstorbner Freund L. D. aus Köln den kleinen Horaz mit lateinischen Prosaerklärungen in Elzevierformat, ebenfalls aus Firmin-Didots Verlag, dedizierte. Das war das erste Buch mit eingeklebten Photographien, das ich sah. Es war in grünen Maroquin gebunden, mit Goldschnitt. Kein Krondiamant konnte herrlicher leuchten!

Zu diesem Genusse, Bücher zu sehen und zu fühlen, aufzuschneiden und anzulesen, brachte der Lesezirkel noch den andern der Verteilung der Bände und Hefte an die Abonnenten. Man konnte dabei die lieben Bekannten nach Bildung und Geschmack einteilen, Freunde begünstigen, Gleichgiltigen kleine Bosheiten zufügen. Es erfolgten auch Reklamationen, und die Empfindlichkeit gegen vermeintliche unpassende Zuweisungen war groß. Es mag dabei Prüderie und Unverstand im Spiele gewesen sein, aber ein gesünderes sittliches Empfinden herrschte in diesen Kreisen, als man heute in ihnen finden wird.

Wenn sich Neugierige auf die am Vormittag neu ankommende Zeitung stürzen, und ein Kannegießer in ereignisreichen Zeiten sogar dem Postwagen auf die Höhe vor dem Dorf entgegengeht, um die Neuigkeiten eine halbe Stunde früher zu haben – er liest sie dann im Gehen, bedächtig langsam auf der Straße herschreitend –, so ist das nur ein Ausfluß der Aufgeregtheit Einzelner. Im Grunde kümmert man sich im Dorfe wenig um das, was draußen in der Welt vorgeht, und wenn man es einmal tut, legt man die Zeitung mit dem Gefühl des Behagens aus der Hand, mit dem der Philister im »Faust« von den Schlachten hinten weit in der Türkei reden hört. Es mag draußen ringsum stürmen und branden, wir sehen die Wellen nicht, hören sie nicht einmal. Jetzt sind bald zwei Menschenalter verflossen, daß das Dorf die Durchmärsche der Russen und der Preußen sah, die nach Frankreich zogen; nur die Allerältesten wissen, was ein Krieg ist. Früher hat Eichelberg schwerere Heimsuchungen in Kriegslisten erfahren. Aber gerade darin zeigt es sich, wie ein Dorf organisch mit seinem Boden verwachsen ist, daß die Stürme es zwar niederdrücken, es aber nicht hindern, sich zu erheben, wenn der Orkan vorüber ist.

Ich kaufte mir beim Buchbinder Werner in Sensenheim fünf Buch gelbliches Konzeptpapier, wie es in den Kanzleien üblich war, und faltete und heftete mir in stillen Abendstunden daraus vierzig Hefte zu vierundzwanzig Seiten, auch hatte ich farbiges Papier von festerm Griff mitgebracht, und zwar blaues, violettes, grünes und rotes, und davon wurden Umschläge um die Hefte gemacht, je zehn von gleicher Farbe. Und nun erhielt jedes Heft seine Aufschrift von Theologie und Mystik an bis zu Acker- und Wiesenbau, Dichtung, Malerei, Theater, Musik waren nicht vergessen. Indem ich nun fast alle Bücher, die mir erreichbar waren, Kapitel für Kapitel las und jeden Satz bemerkte, der mir besonders wissenswert zu sein schien, um ihn dann in sein Heft einzutragen; indem ich ebenso jede Zeitschrift und jedes Tagblatt behandelte, die mir unter die Hände kamen, ja endlich jeden bedruckten Papierfetzen, sammelte ich in wenig Monaten einen ganz gewaltigen Schatz von Wissen an, dem leider nur alle Tiefe und aller innere Zusammenhang fehlte, denn ich schrieb mir nicht nur die Stellen ab, die mir gefielen, sondern auch die, die mir durch ihre Dunkelheit imponierten; diese schrieb ich manchmal, ohne auch nur ein Wort davon verstanden zu haben, in mein Heft, in dem Wunsche, sie so lange immer wieder zu lesen, bis ich sie erfassen würde. Daß das einmal geschehn müsse, bezweifelte ich keinen Augenblick. Woher sollte mir eine Vorstellung von der Begrenztheit meines Verstandes gekommen sein? Niemand kann jemals Autodidakt in einem reinern, ich möchte sagen verwegnern Sinne gewesen sein als ich in jener Zeit. Der Gedanke, jemand zu fragen, der es besser verstünde als ich, kam mir überhaupt niemals in den Sinn, war mir doch sogar in der Schule niemand gegenübergetreten, dem ich ein tieferes oder reicheres Wissen zutraute, als ich leichtlich zu erwerben hoffte. In der Tat, es war ein ganz folgerichtiges und rücksichtsloses System des Selbstunterrichts, dem ich folgte, und es gab davon keine Ausnahme. In keiner spätern Zeit meines Lebens verfügte ich über so ausgebreitete und mannigfaltige Kenntnisse wie im Sommer 1861, wo ich drei Monate lang jeden Morgen von drei bis sechs und dazu noch manche Abendstunden über meinen Heften saß, rastlos eintragend und nachlesend. Ich wußte ganz genau Bescheid zu geben über die Geschichte der Burgruine Dürnstein in unsrer Nähe sowie über die Natur des Klingsteinkegels, auf dem sie stand, das Leben Jakob Böhmes war mir ebenso vertraut wie der Feldzug der Tausend unter Garibaldi in Sizilien, die Entstehung des Krebses der Obstbäume und die Auffassung Macaulays von Friedrich dem Großen kannte ich ziemlich gut, wußte aber unter anderm auch, was Luise Mühlbach in verschiednen Romanen über diesen meinen Lieblingshelden gesagt hatte. Ich erinnere mich, daß ich den ... dieser Schriftstellerin an einem Sonntag Nachmittag zwischen meinen Apothekerhantierungen verschlang. Zugleich beschäftigte ich mich auf den Wunsch meines Prinzipals mit der Herstellung von Theïn aus einem halben Pfund Kongotee, das ich mit meinem Taschengeld erworben hatte; daß es mir nicht gelang, das Alkaloid kristallisiert zu erhalten, war der erste Rückschlag, den mein knabenhafter Glaube daran, daß man könne, was man ernstlich wolle, erlitt.

Das waren Beutezüge, die Wertvolles und Plunder in bunter Mischung heimbrachten, denn von Unterscheidung und Auseinanderhaltung des Guten und des Schlechten war noch nicht die Rede. Es regte sich erst ganz leise das kritische Vermögen. Doch erinnere ich mich, daß mir nach der Ernte auf den fünf Äckern, d. i. Bänden der Essays von Macaulay schon eine Abneigung gegen die Advokatenmanier der Argumentierung dieses Geschichtschreibers aufstieg; auch wandte ich mich von den nervös-geistreichen Bemerkungen der Rahel zu des Angelus Silesius Cherubinischem Wandersmann mit Überdruß ab, als mir der innige Glaube des Dichters und die schillernde Eitelkeit seiner Kommentatorien deutlich wurde. Das sind Abneigungen, die ich mir bewahrt habe, aber es waren damals Instinkte. Dafür nahm ich vieles halb oder ganz Unfertige mit in den Kauf, und am meisten blendete mich die Fülle der Tatsachen, die einzelne Autoren vorzubringen hatten. Da hatten natürlich die populär-naturwissenschaftlichen Schriftsteller mit ihren zusammenraffenden und prahlerisch exponierenden Methoden leichtes Spiel.

Da in diesem Bemühen kein Plan war und nicht einmal zur Ordnung des Aufgenommenen Zeit blieb, wurde der Geist zwar voller aber nicht klarer, das Gefühl der Überladung nahm überhand, und der Flug erlahmte. Es blieb das schöne Gefühl übrig, einmal höher gestiegen zu sein, und die wertvolle Lehre, was ein tüchtiger Anlauf vermag; aber wenn ich auf diese Art von Bildungsarbeit zurückschaue, sehe ich einen Mann voll kühnen Mutes auf das weite Meer hinausrudern, dessen Ruderschläge bald erlahmen müssen; er wird sein Ziel nicht erreichen. Wenn nur das Meer ihn nicht verschlingt!

»Es gibt ein Lerngenie, so wie es ein Geschäftsgenie und ein Bauerngenie gibt,« sagte Herr Keitel, wenn er mich über den Büchern fand. »Aber jedes an seinem Platz. Du lernst mehr als gut ist. Wo bleibt der Platz für das Praktische? Füllst du dein Gehirn bis in den letzten Winkel mit Dingen, die der Vergangenheit angehören oder in der Luft stehn, und wirst doch kein Gelehrter, wovon willst du leben?«

*

Nachdem ich ungefähr ein Jahr lang alles gelesen oder wenigstens in allem gelesen hatte, was der Zufall mir bot, fing ich an, die Seichtigkeit dieses Bildungsflusses zu ahnen, der so breit und scheinbar so voll an meinem Leben hinströmte. War es, daß mir von dem Besten so wenig dargeboten wurde, sodaß ich mich tatsächlich fast nur im Mittelmäßigen herumtrieb, war es das Gefühl, so manchem, woran mein Lesetrieb geriet, noch nicht gewachsen zu sein, ich hörte auf, mich mit gleichem Eifer den »historischen« Romanen der Mühlbach oder einem Hefte einer chemischen Zeitschrift zuzuwenden. Es begann nicht gerade ein kritisches Zeitalter, ich möchte eher sagen, daß aus dem Nebel des allgemeinen Bildungsstrebens helle Punkte zu leuchten begannen, auf die ich unwillkürlich hingelenkt wurde. Und zwar meine ich mich zu erinnern, daß besonders der damals vielgelesne neunbändige Roman »Der Zauberer von Rom« von Gutzkow die Wendung bewirkte. Diesen hatten unsre Bildungsbeflissenen auf gemeinsame Kosten aus der Leihbibliothek einer benachbarten Stadt bezogen, und wer Anspruch machte, mitzureden, der las mit. Auch ich durfte so nebenher traben. Durch meine Hände gingen ja die Büchersendungen, und ich las die ankommenden oder die abgehenden Bände. Als ich mich nun am Ende fragte, was denn eigentlich der Inhalt und Sinn der langen Geschichte sei, da wirbelte es mir nur so im Kopfe, denn da ich nicht herauszufinden vermochte, welche von den zahllosen Figuren und Zuständen des Romans der Wirklichkeit angehörten, und welche der Welt des Scheins, so hatte ich meiner Weltkenntnis keine einzige Tatsache hinzuzufügen.

Starke Neigungen zogen mich in zwei Richtungen von der literarischen Näscherei dieses zerstreuten Lesens ab: das Streben, fremde Sprachen zu kennen, und die starke Wirkung der Natur, sei es im Freien, wo sie bei jedem Gange ins Feld hinaus wie berauschend auf mich wirkte, sei es in den naturwissenschaftlichen Werken. Ich hatte das Gymnasium nicht ganz durchgemacht; die Lücken im Griechischen auszufüllen schien also die nächste Forderung. Hier war etwas ganz Greifbares zu gewinnen, jedes gelernte Wort schien so gut zu sein wie ein überall geschätztes Geldstück.

Der Lehrer war ein kleiner Mann mit lächelndem Kindergesicht, der nie widersprach, und aus dessen Mund ich nie das Wörtchen »Nein« gehört habe. Niemand, den ich kennen gelernt habe, hatte einen so engen Horizont wie Herr Klatt. Er war ein Lehrerssohn aus einem Nachbardorf, hatte in der nahen Bezirksstadt das Seminar besucht und gedachte sein Leben, das gegenwärtig noch jung war, in Eichelberg zu beschließen. Darüber hinauszuschauen hatte er nicht die geringste Lust. Dabei war er keine Einsiedlernatur, kein Idylliker, sondern ein echter bäuerlicher Realist. Er hatte sich früh mit einer Gerberstochter aus seiner Heimat verheiratet, die ihm ein kleines Kapital mitgebracht hatte, mit dem er einen Garten erwarb, worin die beiden Leute viel mehr Nutzpflanzen zogen, als sie brauchen konnten – Verkaufsgelegenheiten dafür gab es noch nicht, da die andern Leute selbst Gemüse und Obst im Überfluß oder aber kein Geld hatten, sie zu kaufen –, und gerade so viel Blumen, als für einen Geburtstagsstrauß für sie und ihn hinreichten. Seinen Kohl und seinen Salat zu verwerten, war das Problem, um das sich der Lehrer unaufhörlich herumdrehte. Er gab vor, Bücher kaufen zu wollen, wenn es ihm erst gelungen sein würde, für die Erzeugnisse seines Gemüsegartens lohnenden Absatz zu finden.

Er besaß ein »Rheinisches Konversationslexikon,« das samt seinen verschnörkelt lithographierten Titelblättern und seinem braunen Löschpapier längst verschollen ist. Und dieses war wohl die Hauptquelle seines Wissens. Außerdem hatte er von der ersten Fibel an sorgsam die Bücher aufbewahrt, aus denen er gelernt hatte, und diese waren zu drei Reihen herangewachsen und machten Klatt zu einem der bücherreichsten Leute.

Die Schule war ihm nur ein Lohndienst, und zwar ein unwillkommner. Die jungen Bauern, die noch bei ihm in die Schule gegangen waren, hielten nichts von seinem Lehren. Der geistliche Herr Schulinspektor fällte das salomonische Urteil: In der Schule vermag er nichts, da ist er nur ein flackerndes Licht, aber er weiß viel und vermehrt dadurch die Würde seines Standes.

Der Bauer kennt zwei große Lehrer, die mit der Hierarchie des Schulwesens nichts zu tun haben, die Natur und das Herkommen. Wenn er die Schule verlassen hat, besucht er keine andre Lehre mehr als ihre. Wer kanns ihm verdenken, daß ihm der andre Lehrer, der das Seine selbst erst aus Büchern gelernt hat, nicht imponiert? Die Honoratioren, stolz auf ihre Gymnasialbildung, die, einerlei wie tief sie geht, und wieviel davon »sitzen geblieben« ist, für sie ein soziales Kennzeichen ist, stehn der Volksschule, der Bauernschule teilnahmlos, wenn nicht spottend oder abgeneigt gegenüber. Die Lehrer müßten weltklug sein, was sie in der Regel nicht sind, und nicht sein können, wenn sie sich in einer so schwierigen Gesellschaft behaupten wollten. Den guten, pflichttreuen und geduldigen bringen es die Jahre, viele bleiben zeitlebens in einer sonderbaren Zwischenstellung, wo dann der Bauer, der solche Sorgen nicht kennt, weil er weiß, wo er hingehört, sie grausam als »Halbvögel« bezeichnet. Ich fand immer die Anlehnung des Lehrers an den Geistlichen als die natürlichste Lösung aller Schwierigkeiten, die seine Stellung umgeben. Und tatsächlich steht die Geltung des Lehrers bei seiner Gemeinde immer in einem gewissen Verhältnis zu der Stellung, die der Geistliche darin einnimmt.

Ich sprach über den Zaun hin: Herr Klatt, Sie verstehn Griechisch.

Herr Klatt war mit dem Binden seines Endiviensalats beschäftigt, den er mit dünnen Strohseilen umwand. Ohne seine Stellung, den Kopf beim Salat, aufzugeben, antwortete er: Zu dienen, bis Ilias.

Haben Sie auch eine Grammatik studiert?

Ja, Büttner, sprach er in den Salat, aber nur bis in die Unregelmäßigen hinein, dann wurde mirs zuviel.

Büttner habe ich auch, bin aber noch nicht so weit.

Nun, da werden Sie Ihre Wunder erleben. Die Griechen waren ein ganz andres Volk als wir, das merkt man eben an ihrer Sprache. Wie könnten wir in einer so komplizierten Sprache sprechen: Dual, Aorist und so weiter. Und dann noch die Unregelmäßigen! Herr Klatt erhob sich im Eifer seiner Darlegung aus dem Grünen und wand eines seiner Strohseile um die Hand: Sehen Sie, so lernt mans, und so geht es wieder hinaus – dabei löste er die Windung wieder auf und streckte das Strohseil –, und man weiß soviel wie vorher. Das muß man viele mal wiederholen; endlich bleibt was hängen – und dabei wiederholte er die Wickelung mit dem Strohseil rückwärts.

Die Ilias lesen zu können ist freilich vieler Mühe wert.

Ja, sagte Klatt und fing wieder an zu binden, da haben Sie Recht. Aber für den innern Menschen, ich meine den Christenmenschen, bleibt doch weniger, als man glaubt, davon übrig. Ich meine, was unsereiner brauchen kann. In Kadettenschulen mögen heranwachsende Kriegsmänner die Ilias lesen und daraus lernen, sich mutig mit Feinden herumzuschlagen. Uns friedlichen Menschen kommt das Waffengeklirr und der Staub doch ganz überflüssig vor. Und was man fürs Leben braucht, haben schon meine Schulbuben. Den Kleinen, die sich von den Großen unterkriegen lassen, sage ich: Wehrt euch! Der Paris mit seiner Helena paßt eigentlich auch nicht unter anständige Leute. Wie gut, daß es so wenig griechische Literatur gibt. Denken Sie, der Homer hätte so viel geschrieben wie der Goethe, den niemand kaufen kann, der nicht Kapitalien hat. Den Homer kann man zur Not auswendig lernen, beim Goethe hat man den ersten Band vergessen, wenn man den zehnten aufmacht, und es sind vierzig! Shakespeare sind auch zwölf Bände. Dagegen soll es Leute geben, die alle griechischen Dichter vom Anfang bis zum Ende gelesen haben. In der Schloßbibliothek habe ich eine illustrierte französische Übersetzung, die voll nackter Menschen ist, ganz oben hinaufgestellt, wo sie niemand sieht.

Herr Klatt sprach gern von der Schloßbibliothek, deren Bücher er aller paar Jahre zu ordnen hatte. Man behauptete zwar, dieses Amt sei ihm entzogen worden, weil er die nicht ganz moralischen Werke von allen andern getrennt in fast unauffindbaren Ecken aufgestellt habe, sodaß der Baron seine Lieblingslektüre mit Mühe zusammensuchen mußte. Andre erzählten, er habe die Schildkrotdose des Barons mit unter die Duodezbändchen gestellt und sei in den Verdacht geraten, sie eingesteckt zu haben. Aber Herr Klatt fuhr fort, aus seiner Kenntnis der Schloßbibliothek einen Bildungsanspruch herzuleiten, zu dem seine Vorstudien ihn nicht berechtigten. Ich bin einmal in Abwesenheit des Barons in das plump-runde Turmzimmer getreten, das diese Bücherei beherbergt. Weder der Lehrer noch ich vermochten sein rostiges Schloß zu öffnen, man mußte den Gärtner herbeirufen.

Auf den Bücherschränken hatte man die verschiedensten Büsten aufgestellt, wie man sie ererbt oder von wandernden Italienern gekauft hatte. Sonderbarerweise waren darunter auch ganz gewöhnliche Köpfe von Knechten und Mägden, die ein Freund des Barons als Liebhaber nach der Natur modelliert hatte.

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Dekan Stellmann war ein großer dicker Mann mit entsprechendem Kropf, blauer Nase, rauchgrauer Brille, buschigen Brauen und grauen Locken; er trug sich nachlässig; man behauptete, der Wind habe ihm einmal den schwarzen Strohhut, wie ihn damals die Geistlichen trugen, von der Krempe weggeführt, wo er locker saß, und er habe es in seinen tiefen Gedanken nicht bemerkt. Er lebte in den Alten und galt für den festesten Hebräer der Diözese. Wie er in den Alten lebte, das zeigte mir unsre Unterredung; ich habe unter berühmten Philologen und Archäologen, mit denen mich mein Leben zusammengeführt hat, keinen gefunden, der inniger vom Geist der griechischen Dichter durchdrungen gewesen wäre, als Stellmann. Aus jedem seiner Sätze sprach eine Kongenialität, die mir damals zunächst den Eindruck schlagender Wahrheit machte. Du willst dich also in die Griechen vertiefen? begann er ungefähr; bedenke, daß das eine Welt ist. Entweder kommst du nicht hinein oder nicht mehr heraus. Was du mir von den Lateinern sagst, die du gelesen hast, daraus mache ich mir nicht viel. Das hilft dir auch nichts, denn die Griechen sind die Schöpfer der klassischen Literatur, und du mußt sie mit reinen Augen schauen. Im Vergleich mit Homer sind Virgil und Horaz ganz moderne Menschen. Die können dir den Blick nicht klären. Es hat in unsrer Zeit und in den nächstvergangnen Jahrhunderten Männer gegeben, die den Griechen näher standen, sie besser verstanden und zum Teil auch gedolmetscht haben als jene Römer. Du kennst doch Schillers Gedichte? Wenn ich jene lateinischen Dichter moderne Geister nenne, so verstehe wohl, daß ich nicht sage »moderne Menschen.« Denn das ist gerade das Große an den Griechen, daß sie jedem gesunden Menschen verwandt sind. Vorm Bauern kannst du lernen, daß ein Sonntagskleid fürs Leben genügt, aber jedes Arbeitsjahr will sein Werktagsgewand. Sorge dafür, daß du dieses immer in der gehörigen Festigkeit und Dauerhaftigkeit bereit hast, so wird dein Sonntagskleid dir schön erhalten bleiben. Wer sich aber am Werktage sonntäglich kleidet, wird den Sonntag durch werktägliches Aussehen entheiligen; er hat weder Freude an diesem noch an jenem. Die Bildung, die jetzt durch Zeitungen und Volksschriften verbreitet wird, ist ein abgetragnes Sonntagsgewand.

Als ich einmal bis zu den Tragikern und an die Schwelle Platos vorgedrungen war, kam die Rede auch öfters auf die Vorahnungen des Christentums in den Schriften der Alten. Ihre Besten, sagte Stellmann, waren im Grunde Christen, aber sie sind stehn geblieben. Sie waren wie Leute, die einen weiten Weg vorhaben, und da sehen sie auf der Seite ein marmornes Götterbild, das ist so verlockend schön, sie können nicht vorbei. Die Juden sind daran vorbeigekommen und wurden Christen. Darum hat auch die herrliche Griechensprache nicht die höchste Würde. Das Griechische hebt uns aus der Masse, aber Menschen werden wir erst durch das Hebräische.

An einem warmen Herbstnachmittag fand ich ihn mit einem alten Buche, das aufgeschlagen auf seinen Knien lag, aber sein Blick ruhte nicht auf dem Gedruckten, sondern hing an irgendeinem Punkt im blauen Westen. Er deutete mit der Hand auf den Platz auf der Bank, den ich einnehmen sollte, und fuhr fort, ins Weite zu schauen.

Ich bin nun so alt geworden, sagte er nach einer längern Pause, wie in Selbstbeobachtung, daß ich manchmal aus einem Buche eine Stimme wie ein fernes Echo vernehme; es ist aber meine eigne. Im leisen Lispeln bewegter Luft im Schilf, im ersten Donner einer Gewitternacht, der ganz ferne, wie schlaftrunken vorüberwallt, im Schatten des Knalles einer Flinte, der im Forst verhallt, liegt etwas von meinem eignen Innern, etwas unbestimmt Weckendes, Erinnerndes. Es ist mir, als hätte ich einmal eine schwermütig schöne Dichtung gehört, deren zerrissene Harmonie der rätselhafte Laut aufwecken will. Bei Beethoven gibt es Laute, die diesen vergleichbar, etwas in mir heben wollen, was begraben ist. Doch fürchte ich, dieser Schatz ist unhebbar, wenigstens in diesem Leben. In Sphärenharmonien wohnt vielleicht einst der Ton, der in diese innern Melodien einklingt und den Bann von ihrem Leben löst.

Stellmann war ein Freund der Malven; er fand in ihren aufstrebenden Blütenstengeln, in ihren großen einfachen Blättern und in den tiefroten oder sattgelben Farben ihrer Blüten, die niemals grell sind, etwas Klassisches. Wenn ich zwischen meinen Malven den Garten hinaufgehe, sagte er, kann ich mir denken, ich schritte auf einen ... zu. Gewiß haben die Griechen solche Pflanzen in der Nähe ihrer Tempel oder an den Wegen gepflanzt, die zu Bildsäulen hinführten.

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Auf der Ruine von Steinberg kam wie ein Gesicht das Gefühl der Vergangenheit über mich. Ich hatte von den Alten und dem Altertum sprechen hören und mit gesprochen, gefühlt hatte ich es nie. Da lag ich in den dunkeln Basaltblöcken, aus denen die Ringmauer der alten Burg besteht, der man römische Fundamente zuschreibt, schlürfte den Geruch des Goldlacks ein, der in ihren Ritzen wild wächst, und bewunderte die prächtige Blattform der fremdartigen Aristolochia. Ein Trauermantel, der mich und diese Blumen umflog, kam mir wie ein Bote der Vorwelt vor. Ich dachte an die Ritter, die Mönche, die Römer, und es kam ein Gefühl von Weite über mich, als ob sich mein Gesichtskreis ins Ungemessene ausdehne, und doch wieder war mir die Vergangenheit so nahe, als träten die alten Gestalten aus den Nischen und schauten aus den halbgebrochnen Fensterbogen. Es war wie ein Zurückversetztwerden um Jahrhunderte und ein Wiederzurückkehren in die Gegenwart mit neuen Erfahrungen von alten Menschen und Taten. Nie werde ich den seltsamen Zustand vergessen, worin ich den Berg hinabstieg; es war mir, als sei mein bestes Teil dort zurückgeblieben. Es war, wie wenn jemand etwas Großes gelernt hat, das er nun zum erstenmal ganz erfaßt. Ich habe von da an alles Geschichtliche liebgewonnen und leichter aufgenommen.


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