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Glücksinseln und Träume

1. Die Sonnenfinsternis

Eine bleiche, kleine Erinnerung, gleichsam das erste geistige Fruchtschneeglöckchen aus dem dunkeln Erdboden der Kindheit.

Jean Paul

 

Der Boden, auf dem ich vom Kinde zum Knaben herangewachsen bin, ist ein dürrer und steiniger Boden. Darum war es aber noch kein unfruchtbarer Boden für mich. Zwischen den alten abgerundeten Pflastersteinen aus rotem Sandstein sprossen Grasbüschel und an einigen Stellen sogar winzige Gänseblümchen und verzwergter Löwenzahn hervor. Wenn der grüne Schimmer zu stark wird, der von ihnen über den gepflasterten Hof ausgeht, beginnt mit stumpfen Küchenmessern und rostigen Scherenklingen ein Kampf gegen diese niedrigen, genügsamen Gewächse, die grausam ausgestochen und abgeschnitten werden. Nicht als Bekämpfer, sondern meist nur als sinniger Beobachter beteilige ich mich daran, staunend über die kräftigen Wurzeln und derben kurzen Stengel der niedergetretnen Pflanzen, und hoch erfreut durch die Entdeckung, daß auch zwischen Pflastersteinen fette Regenwürmer gedeihen. Was mochte noch tiefer sich regen? Wenn man nur graben könnte! Liegen doch alle Schätze des Märchens unter der Erde, wohnen doch Zwerge und Kobolde in der Tiefe, wächst doch Gold und Edelstein da drunten. Ich legte den Regenwurm sorgsam in die Spalte, der ich ihn enthoben hatte, und deckte ihn wieder mit Erde zu. Aber meine Gedanken verweilten bei ihm und gruben nach, bis sie es leuchten sahen tief unten von einer andern Sonne und einem andern Monde, und was ich von Glänzen und Glitzern jemals gesehen oder geahnt hatte, war nun an den Wänden von Höhlen in der Tiefe. Da strahlte Gold und Silber und glühte Metall mit der Glut, die Abends bei sinkender Sonne an der Spitze des Blitzableiters auf dem hohen Hause uns gegenüber niederfloß, da gingen leuchtende Bäche und tropfte blaues Wasser, und überall regte es sich von Wesen, neben denen mich der geheimnisvolle Wurm der Pflastersteine ganz bescheiden aber befreundet deuchte.

Dann kamen aber auch wieder sonnige Tage, wo man die Augen vor dem vielen Lichte verschließen mußte, das auf die Steine und die Mauern herabrieselte; da wuchsen in meinem Kinderglauben die Gräser und der Löwenzahn in ihren Spalten, trugen Ähren und schmückten sich mit hohen Blumen, die goldne Käfer anlockten. Und Licht floß von oben aus den Ast- und Zweiggittern der Bäume und zwischen großen grünen Blättern herein, die es freudig durchglühte. Und es war das keine Märchenwelt, wie die untere, sondern eine Welt, wie sie uns umgibt, nur schöner, leuchtender, weshalb auch die Pflaumen auf den Bäumen unbeschadet der frühen Jahreszeit wie blaue Edelsteine hingen.

Dann stand mir das kleine einstöckige Haus meiner Eltern mitten im Wiesengrün, und der frische Duft vom Wachsen und Blühen zog über die zwei niedern Sandsteinschwellen in das Haus herein. Dazu waren diese sehr geeignet, denn die Schritte von Generationen hatten ihnen eine schöne Rundung gegeben. Es saß sich darum so weich auf diesen Steinstufen wie auf einem Polster, doch kühler zuzeiten, und ich habe in meinem Leben keinen Sitz mehr so gern gehabt wie diesen. Dazu trug jedenfalls nicht wenig der tiefdunkle Hintergrund des Hausflurs bei, worin dann und wann ein leuchtender grauer Streif, in dem Billionen Stäubchen tanzten, beim Öffnen einer Tür erschien. Sehr oft stand die Tür unsrer Küche offen, die auf diesen Gang mündete, und aus ihr stahlen sich bläuliche Schimmer von blinkendem Zinn und dumpfroter Glanz von Kupferkesseln heraus. Aber viel mehr interessierten mich Düfte, die denselben Weg nahmen, und vielverheißende Geräusche von dürrem Holze, das in der Flamme zerkrachte, von Fett, das in der Pfanne brotzelte, und von rollenden, hackenden, schneidenden Bewegungen auf einem klappernden Brett. Das war das Kuchenbrett, das ich mir am liebsten mit Mehl bestreut und mit einem eiergelben Teig belegt dachte, aus dem die geschickte Hand meiner Mutter mit der Öffnung eines Wasserglases Küchlein von erfreulicher Rundung »ausstach,« die dann im Schmalz unter dem erwähnten bedeutungsvollen Geräusch gebacken wurden. Sehr erfreulich waren auch die Düfte langsam dörrenden Obstes, die sehr warm und weich einem besondern Aufbau entströmten, der sich über dem Herd erhob. Und über allem schwebte, gleichsam alle kräftigend, der Geruch der Schinken und Würste, die in dem breiten Rauchfang hingen. Alles das drang aus dem dunkeln Gang zu mir, wenn ich auf den Steinstufen des Häusleins saß und in die lichte Welt hinausschaute. Dem Büblein kam der Gedanke: Die Farben, die Töne, die Düfte besuchen dich auf ihrem Weg ins Freie: sie wissen, daß dem Büblein der Besuch der Küche verboten ist, und bringen ihm Kunde von dem, was da hinten im Dunkeln vorgeht. Das saß aber geduldig und verträumte die Zeit, bis der Ruf erscholl: Büble, essen! Da sah man das Blondköpfchen vor dem kleinen Tische stehn und sein Mittaggebet sprechen, währenddessen es freundliche Blicke mit dem Zinnteller vor ihm tauschte, als wollte es sagen: Du hast mir vorhin aus der Küche zugewinkt, ich werde es mir nun gut von dir schmecken lassen. Und es drehte ihn um und klapperte mit der Gabel auf seiner Unterseite, bis die dampfende Suppe zu zweckvollerer Tätigkeit einlud. War es aber gesättigt, dann riefen ihm Sonne, Gras, Blumen und Würmer von der andern Seite her, und bald erschien es wieder auf seiner runden Schwelle, begrüßte sie alle und war überzeugt, daß sie sich alle miteinander freuten, wieder mit ihm beisammen zu sein.

Da freute sich offenbar auch noch ein großes rundes Ding mit, ein wesentlicher Bestandteil dieser Welt eines Kindes, von dem ich noch Kunde geben muß. Seitwärts von der Tür stand nämlich in demselben Hofe auf untergelegten Steinplatten ein grüner Zuber, in den sich in einer hölzernen Rinne das Regenwasser vom Dach ergoß. Für gewöhnlich lag sein Spiegel still wie aus Metall gegossen in dem Rahmen der hölzernen Umfassung; aber bei Regen stürzt das Regenbächlein in eiligem Strahle von oben, reißt Luftblasen mit, die dann silbern vom Grunde des aufgewühlten Beckens aufsteigen. Tausendmal habe ich auf das Wasser hingeschaut, wenn die Regentropfen daraus fielen, lustig aufsprangen und kleine Wellenkreise beschrieben, die sich einander in allen denkbaren Zusammendrängungen schnitten, sodaß die Wasserfläche wie ein höchst kunstvolles Werk der Silberschmiedekunst erschien. Und noch öfter stand ich über das Wasser geneigt, wenn seine Oberfläche ganz still war, und wartete, bis Luftbläschen in schlanken Wellenlinien an die Oberfläche stiegen: die schönsten Perlen, mit keiner zu vergleichen, die in der tiefsten Muschel auf dem Meeresgründe herangereift ist. Als ich in spätem Jahren als Student in der Ferne allein vor meinem kleinen Teekessel saß und der allmählichen Erhitzung des Wassers bis zum Sieden zuschaute, sah ich die Luftperlen sich am Boden meines Teekessels sammeln, ihn dicht bedecken, dann ineinander fließen und als größere aufsteigen, deren Aufeinanderfolge endlich das Wasser zum Wallen brachte; und wie arm ich damals oft war, so reich fühlte ich mich, da ich glänzende Perlen ohne Zahl entstehn und vergehn lassen konnte, die in wenig Minuten den einförmigen Boden meines alten Kesselchens in ein getriebnes Kunstwerk verwandelten. Wie gut ist es, früh sehen zu lernen!

Als ich eines Tages wieder ganz versunken in die Tiefen meines Wasserfasses starrte, die ich noch immer nicht ergründet hatte, fiel ein verirrter Lichtstrahl, der von einem spiegelnden Fensterglas zurückgeworfen sein mochte, in das Wasser, irrte auf ihm herum, tauchte unter und wanderte bis auf den Boden. Wenn es auch nur ein Flimmern war, so vermochte ich ihm doch zu folgen; der Strahl verschwand, ich sah ihn noch über den Rand des dunkeln Fasses sinken, aber in meinem Auge blieben wunderbar rotleuchtende Punkte, die er in der Wassertiefe erleuchtet, sichtbar gemacht hatte, Punkte wie von Edelsteinen. Ich war sehr betroffen, ohne erstaunt zu sein; denn wo silberne Perlen ausstiegen, konnten auch Rubinsteine liegen. Als nun eines Tages das Gefäß ausgeschöpft und sein Boden trockengelegt wurde, da waren diese rotglühenden Punkte sehr kleine Würmchen, die schnellende, funkelnde Bewegungen machten, und außer ihnen lag noch ein zusammengerollter dünner Wurm von wunderschöner Rosafarbe auf dem Grunde, dessen geheimnisvolles Dasein mir nicht weniger rätselhaft vorkam, als der Stallknecht Gustav, der dieser Reinigung beiwohnte, erklärte, dieser Wurm komme manchmal in den tiefsten Brunnen, aber immer nur als ein Einsiedler vor. Bei mir bestand kein Zweifel, diese wundervollen roten Tiere gehörten derselben Welt an wie die blassen Regenwürmer, einer Welt der Tiefe und der Schütze, und ich dachte darüber nach, wie das Wasser des grünen Zubers gleichsam eine Verbindung mit dieser andern Welt herstellte, neben der die Welten der Stube und der Küche mir kaum mehr beachtenswert erschienen.

Das große Haus dagegen, das mein Höfchen von zwei andern Seiten her einschloß, sah ich kaum; seine Fenster waren fast immer geschlossen, und wenn auch Menschen darin aus und ein gingen, ich vergaß sie, wenn sie vorübergegangen waren, und kümmerte mich nicht um sie. Diese weißlichgrünen Wände mit den Streifen des Regenwassers, diese dunkelgrünen Fensterläden, die mir als Feinde des, Lichts und als Symbole der sinkenden Nacht und des Zubettegehns einen unangenehmen Eindruck machten, diese hohen Fenster, die zum Teil nie geöffnet wurden und verstaubt waren, kamen mir alle so stumpf, so glanzlos, so unberedt vor. Wie anders der Mond, den ich mit der Zeit kennen lernen durfte, wie er sein Licht in das Regenfaß ergoß. Wenn das milde Licht der Mondsichel, die dem Vollmond entgegenreift, gleich nach Sonnenuntergang die Welt übergoß, die, da sie an Giebeln, Türmen und hohen Zinnen einen Schimmer von Abendrot festhielt, noch nicht ganz bleich geworden war, durchbohrte ein glänzender Silberstab die Wassersäule des Regenfasses. Die leiseste Bewegung verwandelte ihn in eine Schlange, die sich unaufhörlich hinab und hinauf ringelte, und bei größern Wellen wurden Lichtstücke daraus, die gerade, gebogen und gewunden sich einander näherten und wieder zerbrachen, wobei Silberfunken nach allen Seiten durch die Flüssigkeit stoben.

Eine zweite Welt neben der der Tiefe zog mich noch weit stärker an. Das war die Welt, die über mir lag. Aus dieser stieg zunächst jeden Morgen der vorhin genannte Stallknecht herab, der, nächst den guten Eltern, der einzige Mensch war, dem ich anhing. Er waltete in dem Stalle, dessen graue Rückwand an der vierten Seite meines Hofes stand. Das Stampfen der Pferde, das Rasseln ihrer Ketten, das herüberklang, verliehen ihm selbst eine geheimnisvolle Würde, als ob er darüber zu gebieten hätte, und als er mich einmal in den Stall führte, dessen Tor sich in eine Nebengasse öffnete, und mir sagte, daß die schönen gelben und weißen Figuren, die mit Sand auf den Boden gestreut waren, sein eignes Werk seien, schien er mir nicht viel weniger zu vermögen als der liebe Herrgott, der das Gras wachsen ließ. Aus dem Zimmer des Stallknechts klangen Abends Laute, deren stählernen Ton ich noch heute nicht vergessen habe; er war Lehrer gewesen, ehe er unter die Dragoner gegangen war, und sein baufälliges Klavier gehörte zu den Reliquien, die er aus der Schulstube in sein Reiterleben herübergenommen hatte. Auf dem blaßnußbaumnen Klavier stand eine kleine Erdkugel, die kunstreich aus Pappe gefügt und mit der Hand gemalt war. Hat mir jemals wieder ein Mensch so imponiert wie der Stallknecht Gustav? Rosse zähmen, eine Welt von herrlichen Figuren aus bloßem Sand auf den Boden eines Stalles zaubern, den Erdball nachbilden und dessen Harmonien auf Stahlsaiten erklingen lassen: was ist vielseitig, wenn nicht dieses? Wenn ich später von den Renaissancemenschen las, die alles konnten, erschien die Figur Gustavs vor meinen Augen. Hatte nicht dieser Stallknecht außerdem die Liebe für sich, mit der er seine Pferde pflegte und mit einem kleinen Kerl, wie mir, wie mit seinesgleichen plauderte? Und war er nicht eine herrliche Erscheinung, schlank, helläugig, heiter, in weißen Lederhosen und roter Jacke? Er ist später fürstlicher Stallmeister geworden, und daß er als solcher, neben dem Wagen des Fürsten reitend, mir mit den Augen, von denen ich eine Erinnerung wie an abwechselnd lachende und fragende Kinderaugen habe, freundschaftlich zuwinkte, wenn ich, die Schulbücher unter dem Arme, vorbeiging, gehört zu den Anerkennungen im Leben, die ich am lebhaftesten empfunden habe. Daß über meinem ganzen Verhältnis zu Gustav der scharfsüßliche Geruch des Pferdestalles wie Weihrauchwolken schwebte, war noch ein besondrer Genuß. Hatte ich Gustav so lieb, weil er von diesem Geruch umgeben war, oder liebte ich den Geruch, weil er ihn mit sich trug?

Von Gustavs Zimmer sah man an hohen Häusern hinauf, und ganz oben, wohl im fünften Stockwerk, wohnte nach den Auskünften, die mir geworden waren, das Christkindchen und der Knecht Ruprecht, die nur einmal im Jahre herabstiegen, um die guten Kinder zu belohnen, die bösen zu ermahnen. Ich warf gelegentlich einen verstohlnen Blick hinauf und fand keine Enttäuschung darin, daß ich in der Wohnung, die diesen beiden mythischen Gestalten zugesprochen wurde, eine schneiderähnliche Gestalt auf erhöhtem Sitze mit langen Armbewegungen nähen oder ein andermal eine arme alte Frau die Fenster abwischen sah. Knecht Ruprecht mußte wohl Leute haben, die seine Puppen nähten, und das Christkindchen mußte doch wohl eine Stief- oder Pflegemutter haben, die für es sorgte, solange es auf der Erde so viel zu tun hatte. Nichts konnte mich überraschen, was in der Höhe vorging, da ich das Gefühl hatte, durch Gustav darüber auf dem laufenden erhalten zu werden. Ich wundre mich aber noch heute, daß ich mich nicht mehr um Sonne, Mond und Sterne kümmerte, die doch derselben Höhenzone angehörten. Ich schlief wohl zu lange und zu tief, um von den letzten viel zu sehen; das Sonnenlicht aber nahm ich, wie viele andre Menschen ihr ganzes Leben tun, als etwas Selbstverständliches hin.

Da geschah es an einem Hochsommertage, daß mein Vater auf den Dachboden stieg, um aus alten Fensterrahmen Gläser zu brechen, und mit Staunen sah ich, nachdem diese sorgfältig gereinigt waren, wie man sie mit Rauch berußte. – Ihr habt sie eben gereinigt, und nun beschmutzt ihr sie wieder? – Warte nur, mein Sohn, du wirst schon sehen, wozu das nötig ist. Und Gustav sagte mir: Heute ist eine totale Sonnenfinsternis. Gib acht, daß du nicht erschrickst. Wenn es dunkel um uns her wird, schaue du in dein Regenfaß, da wirst du die Sonne verschwinden und bald wiederkehren sehen. – Gehn wir nicht zu Bett, wenn sie verschwindet? – Wir dürfen aufbleiben, denn sie kommt bald wieder, und wenn sie wiederkommt, kommt auch gleich wieder der Tag, der vorher war, und schreibt sich mit demselben Datum.

Ich verstand nicht viel von dem, was da gesagt wurde. Es kam mir verworren vor. Den andern Tag aber sah ich mit eignen Augen im Spiegel meines Wasserfasses das Tagesgestirn plötzlich vergehn und wiedergeboren werden.

War dieses ganz schwarze unheimliche Ding, das langsam vorrückend die helle Sonne auffraß, wirklich der Mond? Dann war es jedenfalls ein ganz andrer als der freundliche lichte, den ich wohl einmal an einem Winterabend die Welt in Silberflor hatte hüllen sehen. Aber die Sonne selbst, die war eine völlig andre, oder vielmehr es war so, als ob sie überhaupt nicht mehr wäre, denn als das schwarze Ungeheuer sich so weit in die glührote Scheibe hineingefressen hatte, daß der Rest davon Sichelform anzunehmen begann, wurde die Luft plötzlich kühl, es erhob sich ein Wind wie am Abend, mich fröstelte. Später erzählte man, der Rasen habe sich in diesen Sekunden betaut, und es seien dunkle Wolken, wie bei Gewittern, mit blutroten Rändern plötzlich gegen den Himmel heraufgewachsen. Ich erinnere mich nicht, jemals wieder so rasch Abendwerden gesehen zu haben; völlig ohne Dämmerung und Abendglühn war der Tag dahin, und eine fahle, bleierne Nacht lag auf uns. In diesem Augenblick, wo die Sonnenfinsternis vollständig war, schaute ich wie alle andern, die ihre geschwärzten Gläser beiseite taten, in die Sonne und sah nichts als eine schwarze Scheibe, über deren Ränder Feuertropfen zu quellen schienen. Von der zuerst dunkel gewordnen Seite der Scheibe waren die Feuertropfen in kurzem zu einem dünnen Lichtband zusammengeflossen, und schon glühte dieses so hell, daß man die Gläser wieder vornahm. Ich schaute eifrig in mein Wasser hinein, da umschlangen mich die lieben Arme meiner Mutter von rückwärts, und ein tränenüberströmtes Gesicht drückte sich an das meine, und ich hörte nur die erstickten Worte: Wie schrecklich, wie schrecklich. Mein Gott, laß es nicht weitergehn! Mich fröstelte zwar noch etwas, aber ich verstand nichts von diesen Angst, wollte gern im Wasser schauen, was sich weiter begab; doch meine Mutter zog mich an sich und herzte mich wie ein Wiedergefundnes. Rascher, als es gekommen war, muß sich das Grau, das die Menschen so erschreckte, wieder erhellt haben. Mein Vater trat zu uns und bat meine Mutter, durch das Glas zu sehen, wie die Sonne schon zur Hälfte wiedergekehrt sei, und zeigte, wie die Schatten der Bäume und der Menschen wiederkehrten, wuchsen und tiefer wurden. Die Leute, die von höhergelegnen Punkten die Finsternis beobachtet hatten, stiegen herab, die meisten mit ernsten Mienen, und als die Sonne wieder fast ganz frei leuchtete, und die Wolken zurücksanken, die gegen sie, als sie schwach geworden, heraufgewachsen waren, schienen viele erleichtert aufzuatmen. – Gottlob, daß es vorbei ist! – Es war doch ein schreckhaftes Ding! – Gut, daß wir unsre liebe Herrgottssonne wieder haben! hörte man sagen.

Es ist eine Warnung, hatte ich auch sagen hören, und dieses Wort gab mir zu denken. Eine Warnung an wen? Und von wem? Ich nahm mir vor, Obacht zu geben, wie es nun mit der Sonne weiter gehn werde, denn ich hatte die unbestimmte Befürchtung, daß die Warnung wohl von ihr selbst ausgegangen sei, und daß die Verfinsterung vielleicht sagen sollte, sie werde jetzt öfters verhindert sein, so regelmäßig wie bisher des Vormittags zwischen dem Rotdorn und dem Roßkastanienbaum hervorzukommen, deren Blüten sie zur hellen Glut entzündete, und werde des Abends nicht hinter dem langen Dach der Maschinenfabrik verschwinden, dessen Blechplatten dabei jedesmal zu schmelzen und in Fluß zu geraten schienen. Diese Befürchtung war glücklicherweise nicht begründet; wohl entzündete die Sonne im Kommen nicht mehr die roten Blumen, aber nicht weil sie etwa trüber geworden wäre, indem von der Verfinsterung etwas an ihr haften geblieben wäre, sondern weil diese Blumen des Frühlings hingewelkt waren. Diese Sonne mochte schon viele zur Blüte geweckt und zum Grabe geleitet haben! Als ich einige Wochen danach mit meinen Eltern auf dem Schloßberg in Baden wohnen durfte, erbat ich mir die Erlaubnis, mit den Erwachsnen den Sonnenaufgang an einem klaren Morgen sehen zu dürfen. Und als ich die Feuerkugel zwischen langen grauen Nachtwolken, die noch wie Schafe hingestreckt waren, rein und hell hervorschweben sah, war ich beruhigt: es war die alte Sonne, die da heiter emporstieg. Nur über eins war ich erstaunt: daß sie einen Augenblick gezögert hatte, sich von der untern Wolke loszumachen, und dann rascher emporgeschwebt war. Ich erklärte mir das als einen Rest von der Furcht vor der Verfinsterung, der sie eben noch glücklich entgangen war. Die Morgenwolken sahen gefährlich genug aus, und ein sonnenloser Regentag war ihr Werk. Natürlich hatte sich die Sonne bedacht, ehe sie heraufgeschwebt war und sogleich wieder verfinstert werden sollte. An demselben Abend habe ich sie als volle Kugel im blauen Dunst der Rheinebene so rasch hinabsinken sehen, daß es schien, als müsse im nächsten Augenblick ein gewaltig tönendes Aufprallen auf dem Granit der Vogesen erfolgen. Aber sie ging wie Luft in Luft in die Dunststreifen über, es war ein Dahinschmelzen, und nur das Blutrot, das dann alles überfloß, mochte an einen gewaltsamen Untergang erinnern.

Als auf der Rückfahrt vom Sonnenaufgang die Rede war, und ich gefragt wurde, was mir daran am besten gefallen habe, meinte ich: der Augenblick, wo es Tag wird. Ich erinnerte mich dabei an den Moment der Christbescherung, die damals noch am Christtagmorgen stattfand, wo zwischen die noch fortbrennenden Lichtchen des Tannenbaums auf einmal das volle Tageslicht hereinflutet, und meinte, gerade so seien die letzten Sterne am Himmel gestanden, eben noch ausglühend, ehe die Sonne ganz oben war; dann seien sie ganz bescheiden und still verlöscht.

Zu den Bewohnern der obern Sphäre gehörte auch der Schornsteinfeger, der einigemal unvermutet mit Kugel und Besen aus einem Schornstein aufgetaucht, auf dem Dachfirst hingegangen und wieder verschwunden war, ein rätselhafter, geheimnisvoller Schatten. Wie bei allen Figuren der obern Sphäre nahm ich auch für ihn keine Verbindung mit der untern an, er lebte nun einmal dort oben, und es fielen mir keine vierfachen Treppen ein, die herabführen könnten. So gesellte ich ihn denn zum Christkindchen und zum Knecht Ruprecht, zu dem langarmigen Schneider und der alten Frau und fand es ganz natürlich, daß sie alle mit der Sonne, den Sternen und dem Mond das Gemeinsame hatten, zu erscheinen und zu verschwinden und oft lange Zeit verschwunden zu bleiben. Nur eine einzige von den obern Existenzen hatte ich auch unten auf der Erde gesehen; die rotbäckige Bäckermarie, die in einem Eckfenster an der Straße hinter Semmeln, so rund wie ihr Gesicht, und Brezeln zu sitzen pflegte, war einmal an einem der Dachfenster erschienen und hatte den Wolken und den Schwalben nachgesehen. Das hatte freilich meine Auffassung von einem besondern und höhern Leben in Luft- und Lichtreichtum dort oben nicht erschüttert. Vielmehr schien eine Bemerkung Gustavs, die andre lachen machte, einen tiefern Zusammenhang zwischen denselben zu erschließen; als die Meinen eines Abends vor dem Hause saßen, und er wie öfters in seiner roten Jacke vor ihnen stand, hörte ich ihn nämlich sagen: Mit der Sonnenfinsternis war es doch eigentlich gerade so, wie wenn der schwarze Schornsteinfeger die rote Bäckermarie küßt! Mir kam das gar nicht scherzhaft vor. Denn das waren ja alles Wesen von da oben: Sonne, Mond, Schornsteinfeger und Bäckermarie. Das Christkindchen bringt uns den Baum voll Sterne, die wie die Morgendämmerung dem Christfest vorleuchten, und das ist ein kleiner Teil von den Sternen, die am Himmel stehn, und deren hellster über Bethlehem am Himmel stand, und die man dann wieder in stillen Nächten aus dem Wasser spiegeln sieht, wo sie in der schweigsamen Tiefe, die Nachts unermeßlich ist, wie Goldsplitter in einem dunkeln Kristall leuchten. So mögen auch menschliche Wesen, die da oben hinter den rätselhaften Fenstern wohnen, die zuzeiten sonnenhaft glühn und das Mondlicht zurücksprühn, sonnenhaft und mondähnlich sein. Das Kind ahnt auch ein Nachtleben der andern Menschen, das in der Zeit sich abspielt, wo Sterne und Mond am Himmel stehn; Laute davon wie ganz von fernher dringen bis an sein Bettchen, und es weiß noch nicht, was davon Wirklichkeit, was Traum ist. Die Erwachsnen imponieren aber dem Kinde nicht zum wenigsten auch, weil sie noch leben, wenn es in den Schlaf versunken ist, und lange vor ihm wieder wachen. Das ist nun eben die Zeit, wo auch die Sterne und der Mond wachen, und die guten Geister, das Christkind voraus, niedersteigen.

*

Es gibt prosaische Menschen, die unser sehnsüchtiges Zurückerinnern an die Kindheit als etwas Leeres, Hohles verlachen. Sie wollen im besten Fall einen Traum darin sehen. Wie sehr irren sich die! Ich brauche nur in die »Kinder- und Hausmärchen« hineinzulesen, so werde ich wieder des Gefühls inne, mit dem ich sie zuerst vernahm, und es beginnt aus den Fernen und den Tiefen der Erinnerung her zu leuchten und zu glänzen von dem ungeheuern Reichtum, den das Kind daran hat, daß es alles glaubt, auch das Wunderbarste, und vor allem, daß sein Glaube allem Toten Leben gibt. Wieviel größer ist also der Wirklichkeitsbereich des Kindes, wieviel mehr besitzt und beherrscht das Kind, da ihm das Wunderbare gehört, ohne daß es sich darüber wundert, vielmehr sich darin vollkommen zuhause fühlt. Mir kommt meine Kindheit nicht eng und nicht arm vor, wenn ich auch weiß, daß meine Fähigkeiten und meine Kenntnisse damals noch gering waren, denn vieles bestand damals, was mir die Erziehung und der Unterricht genommen haben, und alles war lebendig, während sich mir heute die Welt in eine große, weite, tote Hälfte und eine kleine teilt, die mit Leben begabt ist. Man stellt immer den sogenannten Bildungsgang der Menschen so dar, als sei es ein unablässiges Sichbereichern durch Kenntnisse, Sichklären und Sichveredeln durch immer mehr in die Tiefe dringendes Verständnis. In Wirklichkeit ist es unsre Absetzung von der Herrschaft über den ungeheuern Bereich des Glaubens, von dem wir wie durch Mauern getrennt werden, der uns nicht bloß verschlossen, der verwüstet, unfruchtbar gemacht wird. Ein ganz kleiner Teil davon wird abgesondert, so wie Fürsten von einem ungeheuern Wald einen Zipfel als Wildpark absondern lassen; in diesem sollen wir fortfahren zu glauben, in diesem zwingt man uns das Wunderbare auf, das man uns dort genommen und verboten hat. Man kann es aber nicht hindern, daß die Mauer, die man gegen das Paradies unsrer Kindheit aufgerichtet hat, Spalten und Risse hat, durch die das Wunderbare herüberstrahlt in unsre aufgeklärte gebildete Existenz.


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