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Wer Deutschland durchwandert hat, weiß von dieser oder jener Stelle mit ziemlicher Bestimmtheit zu sagen: Hier fängt Norddeutschland an, hier hört süddeutsches Wesen, süddeutsche Landschaft auf. Frankfurt und Kassel, Bamberg und Hof, Bonn und Köln sind bekannte Grenzpunkte. Nicht so leicht ist der Gegensatz zwischen ost- und westdeutsch zu stellen. Doch fürchte ich keinen Widerspruch, wenn ich Naumburg als eine der am weitesten ostwärts vorgeschobnen Städte mitteldeutscher Art nenne. Ja, in seiner Lage an einem mäßigen rundlichen Berge, den große Obstbäume umstehn, mit dem Blick auf das friedlich umbuschte Wiesental der Saale und aus die Rebenhügel der Unstrut, ist etwas Schwäbisches. Und dazu kommt an der ersten Schlinge der Saale oberhalb Naumburgs an einem waldigen, quellenreichen Hag das turm- und zinnenreiche Kloster Pforta. Verglichen mit den roten Backsteinbauten des Tieflandes haben schon alle die Saalestädte und Dörfer reichere Farben, die dem Auge wohltun. Die grauen Dächer strahlen hell in dem trüben Blau des leichtbewölkten Sommermorgenhimmels. Eines fehlt leider heute in Thüringen fast ganz, was sich Niederdeutschland bewahrt hat, und was in Oberdeutschland in schnellem Absterben begriffen ist: das alte Grau der tief herabreichenden Strohdächer, die tief schwärzlich-blau schimmern, wenn sie vom Regen feucht sind, und deren weiche, volle Formen das glänzende Grün der Moospolster erhellt. Die Feuerversicherungen drücken das Strohdach ebenso wie manche altertümlichen Holzkonstruktionen im Bauernhaus durch hohe Prämien aus dem Wettbewerb. Zwar wurmt es den Bauern, aber dafür will er nicht besonders zahlen. Da nun auch, wie man behauptet, die früher jedem Bauer vertraute Kunst, Strohdächer auszubessern, in manchen Gegenden völlig abhanden gekommen ist – eine der »verlornen Künste,« über die man Bücher schreiben könnte –, werden die Ziegeldächer immer allgemeiner. Und hohe, steile Dächer sind es, die über thüringisch-hessischen Fachwerkbauten ansteigen.

Es gibt in Mitteldeutschland eine Menge Bergstädte und Dörfer von ärmlichem Innern: enge Gassen, verfallne Mauern, alte Häuser. Sieht man aber von oben hinein, so ist man erstaunt, wie sauber die Dächer gehalten sind. Da sieht man keine Lücke. Und besonders wo das Material Dachschiefer ist, da glänzt uns die ganze Stadt entgegen. Da sieht man denn auch die Gassen und Häuser mit mildern Augen an. Wer lange im Tiefland gelebt hat, besonders im amerikanischen, wo man zu den Häusern aufschaut wie zu Bergeshöhen, der sagt sich vielleicht beim Blick in eins von diesen mitteldeutschen Tälern, wo das Städtchen zusammengedrängt ist wie eine Herde, die sich schützen will, daß es nicht ganz ohne heilsame Folgen für die zur Unbescheidenheit neigende Menschennatur sein könne, gelegentlich den Schauplatz ihres Dichtens und Trachtens und Überhebens aus der Vogelperspektive zu betrachten und sich zu überzeugen, wie eng und klein eigentlich ihre »Welt« doch sei.

Es wäre interessant, zu wissen, wie weit die hohen steilen Dächer zurückgehn, und was ursprünglich an ihrer Stelle stand. Es ist nicht ausgeschlossen, daß schon auf vorhistorischen Pfahlbauten hochgegiebelte Hütten standen. Naumburg an der Saale, Freyburg an der Unstrut gehören noch zu den ragenden Städten, auch einige der lausitzischen, wie Bautzen, aber im allgemeinen sinkt das Niveau der Städteprofile nach Osten hin. Dazu kommt aber auch sichtbar ein Unterschied, der der neuern Zeit angehört. »Scharfzinnige Gassen« sind für alte Städte wie Lübeck, Hildesheim, Nürnberg und viele andre von dieser gestaltenreichen, hochstrebenden, vielgetürmten Art ebenso bezeichnend wie eine gewisse Flachheit für die jüngern. Wenn man die »mittlere Höhe« der Städte bestimmen wollte, würde man finden, daß sie in den letzten Jahrhunderten immer kleiner geworden ist. Die kleinen Residenzstädte gehören natürlich zu den flachsten, denn in ihnen durfte nichts das majestätische Überragen des Palastes stören, der selbst oft nicht sehr imposant war.

Daß aber die Verflachung nicht so ganz neu ist, zeigt mir der Schritt von Naumburg nach Leipzig, der geographisch ein Hinabsteigen vom thüringischen Hügelland in die sumpfige Tieflandbucht der Pleiße, ethnographisch ein Überschreiten alter Völkergrenzen ist. Das große Leipzig hat kein kirchliches Bauwerk wie die nahen Dome von Naumburg und Merseburg aufzuweisen. Im Kampf mit Naumburg hat sich Leipzig als Meßstadt behauptet, als historische Stätte steht Naumburg hoch darüber. Und wo wäre die architektonische Bedeutung Dresdens ohne die Bauten prachtliebender Kurfürsten, die großenteils erst im achtzehnten Jahrhundert entstanden sind?

Mit der Überschreitung der Saale haben wir den alten Kulturboden verlassen und sind in das germanisierte slawische Kolonialland eingetreten. Auch der Volksschlag ist auf den beiden Seiten verschieden. Ich weiß wohl, daß den Thüringern viel slawische Elemente beigemischt sind, und daß man ein rein germanisches Volk erst westlich von der Werra trifft, wo dann allerdings der Unterschied zwischen dem kräftigen, zähen Hessen und dem beweglichen, lebenslustigen und nachgiebigen Thüringer zu greifen ist. Aber das Übergewicht der breiten Wendengesichter tritt doch für den, der von Westen kommt, in Mitteldeutschland erst jenseits der Saale ein. So ist auch für den von Süden Kommenden die mittlere und die untere Pleißen- und Elstergegend der Grenzstrich, wo er sich von entschieden östlichen Lüften angeweht fühlt. Es ist in gewissem Sinne auch eine Art Halbasien, wo schon das sich urdeutsch fühlende Leipzig liegt, denn in der Rasse und im Volkscharakter beginnen mongolische Züge stärker hervorzutreten. Hier beginnt die Herrschaft des Breitschädels, der seine höchste oder vielmehr breiteste Entwicklung bei den Mongolen und Kirgisen findet, sowie das Tiefland von hier an keine Unterbrechung mehr hat bis zum Fuße des zentralasiatischen Hochlandes; und mit ihm beginnt das breite Gesicht. Nicht auf den Schultern des Westdeutschen sitzt die eigentliche tête carrée, und der obersächsische Philister, den uns Ludwig Richter als deutschen Typus gezeichnet hat, ist das Erzeugnis einer Rassenmischung.

Gotha ist eine hübsche Vertreterin der thüringischen Residenzstädte. Das alte Gotha hat sich in den letzten Jahrzehnten mit ausgedehnten, freundlichen Villenstraßen umgeben. Schon früher war es durch die Lage des Schlosses mit seinem herrlichen Garten inmitten der Stadt begünstigt. Diese enge Vergesellschaftung von Park und Stadt ist recht bezeichnend für das Verhältnis dieser Fürsten zu ihren Bürgern. Schloß und Hütte trennt nur ein Garten, an dem beide Insassen sich erfreuen. Man durchwandre den alten engen Kern von Gotha mit den schmalen Gassen und unscheinbaren Häusern, und man wird beim Hinaustreten in die grünen Parkanlagen das Gefühl haben, daß diese Bürgerschaft ihren Fürsten viel verdankt. Es waren keine Bernharde und Karl Auguste, diese alten Gothaischen Herzöge, aber so manches Gute haben sie doch hinterlassen. Manchmal hat sich in ihnen ein freier Geistesfunke geregt. Sie haben ihren Anteil an zwei Anstalten, die das kleine Gotha berühmt gemacht haben, als es noch im Vergleich zu dem heutigen ein ärmliches Nest war: an der Sternwarte und an dem Geographischen Institut. Das gehört auch zu den Lehren der Geschichte der kleinen deutschen Residenzstädte, daß so mancher Keim, den das Bürgertum nicht mehr hegen konnte oder mochte, in den Fürsten treue und eifrige Pfleger fand. Als Nürnberg und Augsburg aufhörten, die geographischen Karten für die halbe Welt zu machen, traten Weimar und Gotha an ihre Stelle. Ein Gang durch die herzogliche Bibliothek zu Gotha zeigt, daß es den vielbespöttelten und wohlgehaßten Duodeztyrannen zuzeiten nicht an Sinn für Besseres als Jagd und Soldatenspiel gefehlt hat. Hatte doch jeder seine Bibliothek und seine Kunstkammer. Wenn nicht alle Perlen italienischer und deutscher Kunst ihren Weg in die englischen Schlösser gefunden haben, so hat man den Liebhabereien deutscher Kleinfürsten dafür Dank zu wissen. Eine merkwürdige Wirkung dieser Art zeigte mir übrigens der Besuch der Gothaischen Bibliothek; dort füllt nämlich die seltne vollständige Reihe der dem englischen Parlament vorgelegten Blaubücher einen großen Raum. Gotha verdankt sie dem Prinzen Albert. In ihrer Art gefiel mir die Bibliothek des Perthesschen Geographischen Instituts noch besser, denn sie ist das Werk einer Privatanstalt, die vollkommen auf sich selbst gestellt ist. Es ist eine umfassende, an neuern, seltnen Reisewerken und amtlichen Berichten besonders reiche, trefflich geordnete und schön aufgestellte Bibliothek. Dazu die Kartensammlung, von der mir ein englischer Fachmann sagte: Es gab eine Zeit, wo man sich weder in Petersburg noch in London oder Paris, sondern nur im Perthesschen Archiv zu Gotha über die unbekannten Teile von Zentralasien und das »dunkelste Afrika« unterrichten konnte. Ich finde am rührendsten die Geringfügigkeit der Mittel, mit denen hier Großes geleistet worden ist. Das Wirken eines Stieler, Sydow, Behm, Hassenstein und vieler andrer ist ein lebendiger Protest gegen die landläufige Meinung, man könnte das Beste und Größte in der Welt nur mit viel Geld schaffen. Die ideale Genügsamkeit und das Genügen am Ideal hat die Blüte der Kartographie in dem kleinen Gotha allein möglich gemacht. Es ist dabei ganz charakteristisch deutsch-kleinstaatlich, daß Hoff und Stieler, die Säulen der wissenschaftlichen Arbeit des Gothas der zwanziger Jahre, herzogliche und Staatsbeamte waren, die so Bedeutendes in ihren Mußestunden schufen.

Eisenach liegt am Rande Thüringens, aber gerade darum hat es von allen thüringischen Städten am meisten gemeindeutsche Bedeutung, die freilich von der literarischen Blüte Weimars überragt wird. Sängerkrieg, Luther, Bernhard, Goethe, Wartburgfest, Scheffel, Reuter, in unsrer Zeit der Kongresse die Vorliebe, womit Eisenach als Versammlungsstadt gewählt wird, zeigen, wie der Begriff mitteldeutsche Lage hier praktisch und lebendig wird. Eisenach selbst muß als Städtchen einen tiefen, schweren Eindruck gemacht haben, solange nicht die Zierlichkeit und das Behagen der Villenquartiere aufgeblüht war. Der überall hervortretende rotbraune Fels des Rotliegenden und die Vorliebe für das Bauen mit rotem Sandstein machen Eisenach den hessischen Städten verwandt. Nur die Werra trennt gerade hier Thüringen und Hessen. Auf demselben Rotliegenden führt der Weg zur Wartburg, die auf einem dem Wald entragenden Fels aus demselben rotbraunen Stein gebaut ist. Auch die Wartburg, so groß ihr Ruhm ist, ist thüringisch eng und einfach. Ihre einzelnen Bauten sind nicht nach einem Plan entworfen, der Stil ist der der romanischen Profanbauten, ernst und zierlich, schwer und leicht zugleich. Von unten heraufwandelnd glaubt man einer Kirche zu nahen, bis der sogenannte Kleine Turm hervortritt. Das alte Eisenach liegt recht waldverloren da unten.

Die Eisenacher Landschaft gehört nur einem Ausläufer des Thüringer Waldes an, sie hat keine so hohen Berge, aber mehr intime Reize als Friedrichsroda oder Ilmenau. Von der Wartburg aus führen unzählige Kamm- und Abhangwege durch Fichten und Buchen hin. Das Annatal ist eine »Klamm« mit allen Requisiten, aber in Miniatur: schroffe Felsen, moosbedeckt, Wasser, das bald neben, bald unter uns murmelt, junge Ahorne aus den Spalten, darüber hoher, lichter Buchenwald. In der von Moos sammetgrünen Landgrafenschlucht zwängt man sich zwischen Felsen durch und tritt zuletzt auf ein natürliches Rund, das von einer hohen, schlanken Buche beschattet wird. Ein ganz andrer Weg ist die geradlinige Schneise von der Wartburg zur Hohen Sonne, die ein herrliches, waldumrahmtes Bild der Burg gewährt.

Welcher Gegensatz zu dem Blick von der Wartburg die weite Aussicht von der Feste Koburg. Diese fränkischen Gaue wie heiter, wie reich an Städten und Dörfern, und auf den Bergen welche Fülle von Schlössern, Klöstern und Kirchen. Was macht allein das reiche Banz für einen Eindruck. Wahrlich, das Koburger Bier und der gleich vorzügliche Koburger Schinken sind keine Zufälligkeiten, sie symbolisieren dem denkenden Genießer das Frankentum Koburgs. Der Wald, der auf der andern Seite alles beherrscht, kommt hier nur noch parzellenweise vor. Die thüringischen Landschaften haben alle etwas Jugendliches in ihrer Waldumgrenztheit; hier dagegen flutet die alte Geschichte des Maingaus zu unsern Füßen heran, die schon rodete und baute, als jenseits des Rennsteigs noch das Brüllen des Urstiers den tiefen Wald belebte.

Bei der Teilung zwischen den Residenzen Gotha und Koburg hat Gotha den Löwenanteil davongetragen, es ist doch die eigentliche Hauptstadt des Doppelherzogtums. Aber Koburg ist nicht ganz leer ausgegangen. Das herzogliche Theater spielt zwar dort etwas weniger, was besonders schmerzlich empfunden wird; aber unter anderm beherbergt Koburg auf seiner Feste einen Schatz von Kupferstichen und andern Werken der künstlerischen Vervielfältigung aus dem vorkodakischen Zeitalter, der zu dem reichsten seiner Art gehört. Weniger Wert wird man heute wohl auf die dort installierte Ruhmeshalle des vielgewandten und -gewanderten Ernst des Zweiten legen. Ich ziehe den Trophäen von Eckernförde und Abessinien den Blick in die fränkischen Gaue vor, der mir die echtere geschichtliche Lehre erteilt, daß der Burgenbau eine Periode in unserm Lande der einsamen Waldgebirge darstellt: er hat die Arbeit der Menschen, die vorher nur den Fuß der Gebirge umbrandete, auf die Gipfel geführt und so manche von ihnen dauernd umgestaltet und bewohnbar gemacht.

Ich möchte noch an eine andre thüringische Residenzstadt erinnern. Von Altenburg ist in der Welt viel weniger geredet worden und ist noch heute weniger die Rede als von Weimar, Eisenach und Gotha. Der Fremde schaut sich an dem festen Schloß, das noch heute Residenz ist, das hohe Fenster an, aus dem Kunz von Kauffungen mit unglaublicher Kühnheit die beiden sächsischen Prinzen herausholte; er beachtet die baumreichen, freundlichen Straßen des neuen und die engen mit kleinen Häusern umstandnen des alten Altenburg und entfernt sich in dem Bewußtsein, seine Kenntnis, von den wichtigen Dingen dieser Welt nicht wesentlich gefördert zu haben. Wer finden will, findet aber auch in Altenburg, z. B. im Kunstmuseum, eine schöne Sammlung alter Sienesen und Florentiner, darunter eine Perle, ein Frauenbildnis von Botticelli; dann eine Sammlung von neuern deutschen Bildern, die einmal für sich erfreulich und dann weiter auch dadurch interessant ist, daß über ihre Vermehrung ein Ausschuß kunstliebender Bürger beschließt, dem der Rektor des Gymnasiums, angesehene Ärzte u. dergl. angehören. Ein Geschichtschreiber der Zukunft wird also darin ein document humain ersten Ranges für den durchschnittlichen Kunstgeschmack mittlerer Schichten unsers Zeitalters finden. Das ist ein Vorzug dieser Sammlung vor großen, den Kunstlaunen berühmter Direktoren unterworfnen Museen.

Es ist erfreulich, zu sehen, daß das Skatspiel, das die berühmteste Erfindung Altenburgs ist, den Geschmack für Höheres nicht ganz ertötet hat. Ein deutsch-amerikanischer Bekannter, der als Arzt in einem fetten Landort wirkt, wo noch die seltsame altenburger Bauerntracht getragen und die Hochzeit drei Tage lang gefeiert wird, erzählte nur Schönes von dem geistigen Leben der nahen »Hauptstadt,« aber auch von der Abneigung der in der Mehrheit bäuerlichen Volksvertretung, Geldopfer aus dem Staatssäckel für Bildungszwecke zu bringen. Wer Studien über den Konservativismus einer bäuerlichen Bevölkerung machen will, muß nach Altenburg gehn. Da ist nichts von der nur zu geweckten Art der armen und unzufriednen Arbeiterbevölkerung des »Waldes.« Ich bin überzeugt, wenn es auf die altenburgische Bevölkerung ankäme, wäre weder die Buchdruckerkunst noch die Dampfmaschine erfunden worden, von der Elektrizität gar nicht zu reden. Jedenfalls hätte aber durch ihre Arbeit der Teil der Weltgeschichte, der von dunkeln Ackerbodenschollen, von schwer aufstampfenden Rossen, von gefüllten Scheunen, von saurer Sämannsarbeit, von Erntekränzen und vom frohen Tanz um die Dorflinde handelt, genau die Gestalt angenommen, die er heute hat, wenn auch nicht andre mitgewirkt hätten. Und ich zweifle keinen Augenblick, wäre die Welt nicht so alt, daß alles erfunden ist, was Menschen überhaupt erfinden können, so würde Altenburg nicht bloß den Skat, sondern auch den Pflug erfunden haben.

Es grünt und blüht ein reiches Leben an der Saale, Ilm und Unstrut, aber für die großen Geschicke Deutschlands ist jahrhundertelang all dieses Grünen und Blühen kaum in Betracht gekommen. Daher der Eindruck des Zwecklosen, des ziellos Verlaufenden der Geschichte dieser Landschaften. Wenn es ein Deutschland gegeben hätte, das auch der letzten Kleinstadt das Gefühl hätte erwecken können, daß sie zu einem großen Ganzen gehöre, wäre die Frage berechtigt: Was hat ein Kahla, ein Saalfeld zu Deutschlands Wohle beigetragen? Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, daß dieses Zwecklose einer mühseligen Kleingeschichte oft schon im Äußern mancher von diesen Städtchen zum Vorschein kommt. Ich stieg den Südabhang des Thüringer Waldes hinab und war enttäuscht über die Unscheinbarkeit der äußern Merkmale der Geschichte eines so namhaften Ortes wie Schmalkalden. Ist das derselbe Ort, der in der deutschen Geschichte eine wichtige Rolle in dem entscheidendsten Augenblicke gespielt hat? Man hat es nicht vergessen. Das Lutherhaus, heute eine Buchhandlung, das Melanchthonhaus, heute die Rosenapotheke, haben ihre Gedenktafeln, die allerdings etwas ärmlich und einsilbig sind. In der Hauptkirche, deren verfallner Zustand dem christlichen Sinn der Schmalkaldner keine Ehre macht, ist ein schlechtes Bild Luthers und ein Lutherstübchen, wo der Reformator gearbeitet hat; es ist bezeichnenderweise eine echte Gelehrtenzelle. Das Rathaus ist unansehnlich, das Pfarrhaus war einst ein hübscher Fachwerkbau, der aber jetzt vernachlässigt ist. Die übrigen Häuser der jetzt 7000 Einwohner zählenden Stadt sind meist schlecht gehalten, die Gassen eng und schmutzig, und erst wenig Neubauten zeigen an, daß sich die Stadt aus ihrer engen Zusammendrängung hinaus bergaufwärts ausbreiten will.

An ähnlichen und kleinern Städten Thüringens und Sachsens fand ich oft noch am anziehendsten die enge Verbindung mit dem Lande, die jedenfalls ein sozialer Charakterzug von Bedeutung ist. Man weiß oft nicht, ob das städtische oder das ländliche Wesen überwiegt. Im achtzehnten Jahrhundert war das noch mehr der Fall, und um die Umwelt der weimarischen Heroen zu verstehn, muß man den Straßen Ilm-Athens Kühe und Schweine zur Staffage geben. An das oberfränkische Fichtelgebirgsstädtchen Wunsiedel schließen sich ganze Straßen von aneinander gebauten Scheunen an, für die das zusammengedrängte Städtchen keinen Raum hat. Vielleicht hat auch die Rücksicht auf die Feuersicherheit eine solche merkwürdige Absonderung ländlicher Bauwerke veranlaßt.

Wie man sieht, empfiehlt es sich nicht, immer nur Weimar zu nennen, wenn man an die Bedeutung der kleinen Residenzstädte für die Entwicklung des deutschen Volkes erinnern will. Man hat zuviel von Weimar und seinesgleichen gesprochen und darüber die hundert andern vergessen, in denen, ungewärmt und unbeleuchtet von der Sonne des Genies, das deutsche Bürgertum verkümmert ist. Es ist wohl wahr, daß sich in den deutschen Mittel- und Kleinstädten durch alle Stürme ein gesunder Mittelstand erhalten hat, aber dieser Mittelstand mußte sich mit der harten Schale des Philistertums umgeben, gewissermaßen versteinern, um unter kümmerlichen Bedingungen fortleben zu können. Wunderbar ist, was in einigen von diesen Städten geistig geschaffen worden ist, aber für jede große Schöpfung wurde immer gleich der Rahmen zu klein. Den großen Eichen des deutschen Waldes wurde hier nicht die tiefe Erde geboten, die sie brauchten, um sich ganz tief einzuwurzeln. Herrliches ist erklungen, aber der Schallraum fehlte. Daher die merkwürdige Erscheinung, daß von manchem, was aus kleinen deutschen Städten ausgegangen ist, die Welt mehr Vorteil hatte als alle Mitbürger zusammengenommen. Sobald es den engen Raum überschritten hatte, wo es sich unter der Sonne der Fürstengunst treibhausartig entwickelt hatte, schwang es sich in Höhen, bis zu denen die Auffassung des zeitgenössischen Pfahlbürgertums nicht reichte. Darum neben dem großen Stück Weltgeschichte, die das Dasein Goethes ausfüllt, das Satyrspiel: »Goethe im Urteil seiner Stadt- und Landesgenossen.«

In einer deutschen Kulturgeschichte, die einst geschrieben werden muß, darf das Kapitel nicht stiefmütterlich behandelt werden, worin die Wirkung des Mangels eines großen städtischen Mittelpunkts in dem Deutschland des achtzehnten Jahrhunderts untersucht wird. Man konnte an Einfluß auf Gesamtdeutschland weder Berlin noch Wien mit Amsterdam und mit Kopenhagen vergleichen. Was wäre auch heute Dänemark ohne Kopenhagen, das 18 Prozent der Bevölkerung von Dänemark in sich vereinigt, während Berlin nur 5 Prozent der Bevölkerung von Preußen, 3 der Bevölkerung von Deutschland hat? Was Wien und Berlin damals geleistet haben, wenn es auch noch wenig ist, zeigt doch, was möglich war. Das gilt noch mehr von den Leistungen Hamburgs, Frankfurts und Leipzigs. Aber wie wenig boten alle diese Städte damals den aufstrebenden Geistern, wie wenig bedeuteten sie als Schule des Lebens! Nur Lessing hat in den großen Städten des damaligen Deutschlands gelebt, und nur sein Wirken ist ohne sie nicht zu denken. Aber man erinnere sich, um von Weimar zu schweigen, an Jean Pauls Leben, das in Klein- und Landstädtchen verflossen, nein versickert ist. Jean Paul gerade hat es gewußt und ausgesprochen, daß das Genie für seinen Verkehr nicht das Netz der Landstraßen braucht, die auf die großen Treffplätze der Menschen und Völker zusammenlaufen. Wohl stand Jean Paul mit der ganzen Welt in Verbindung, aber wieviel von seiner Wirksamkeit ging in kleinstädtischen Reibungen verloren. Carlyle hat als Jünger Jean Pauls öfter kräftig auf die Großstädte losgezogen, aber er hat sein Experiment mit dem Landleben bald aufgegeben und von London den Gebrauch gemacht, den er für seine Zwecke nötig hatte.

Die deutsche Sprache hat der Welt das Wort Philister und die deutsche Literatur der Weltliteratur den Kampf gegen das Philistertum gegeben. Die französischen Romantiker und später Carlyle haben es mehr oder minder sinngemäß ihren Sprachen einverleibt. Ein Glück für uns, daß sie in Frankreich und England auch Philister entdeckten, sonst hätte man glauben können, Deutschland allein sei damit gesegnet! Ich weiß nicht, ob Byron das Wort gebraucht hat, aber sein Kampf gegen cant, engherzige Heuchelei, ist auch ein Kampf, und ein titanischer, gegen ein Philistertum, das noch schlimmer als das von Goethe oder Tieck bekämpfte war und ist. Man sollte einmal die Definitionen des Philisters zusammenstellen, das würde ein interessantes Kapitel der praktischen Völkerpsychologie werden. Und die Darstellung der Beziehungen zwischen Philister, Snob und Bourgeois würde darin einer der fesselndsten Abschnitte sein. Goethe hat uns mehrere hinterlassen außer der bekanntesten:

Was ist ein Philister?
Ein hohler Darm,
Mit Furcht und Hoffnung ausgefüllt,
Daß Gott erbarm!

In das kürzeste Wort gefaßt, wäre wohl das Wesen des merkwürdigen Geschöpfes »eng« zu nennen: engherzig, enggeistig, engselig, daher kurzsichtig, daher geneigt, an jedes Ding und an jeden Menschen, jede Handlung einen kleinern Maßstab anzulegen als nötig ist, daher auch ohne Wagemut und innere Heiterkeit. Man begreift ganz gut, daß das Philistertum in dem engen Horizont einer Kleinstadt eine ganze Bevölkerung ergriffen und ansteckend sich über ganze Völker verbreitet hat. Und was kleine Residenzen anbelangt, so kam da nicht bloß der Mangel eines weiten freien Tätigkeitsfeldes in einem großen Horizont ins Spiel, sondern die falschen Götzen des Hofes, die falschen Ideale eines äußerlich und innerlich unfreien Lebens. Wo war es doch, wo für die vom Hof Abhängenden ganze Häuserreihen ohne Küche gebaut wurden, weil ihre Inwohner samt allen Familienangehörigen aus der Hofküche gespeist wurden? Gerade so lieferte das Hoftheater die Kunstgenüsse. Daß nun in solchen Verhältnissen nur in der Kunst die Befreiung aus »Philisternetzen« lag, besonders im Theater, wo ein höheres Leben gemeint wurde, und daß die aufgeklärten und kunstsinnigen Kleinfürsten von der Art Karl Augusts, Ludwigs des Ersten von Bayern als Kunstförderer wahrhaft prometheisch wirken konnten und mußten, braucht nicht auseinandergesetzt zu werden.

So wie wir die deutsche Kleinstadt in Amerika nicht haben, kennen wir auch nicht das Philistertum, das wie in Gewächshäusern in ihr großgezogen worden ist. Aber Philister haben wir trotzdem genug. Das Übe! der Seelenverengerung ergreift bei uns die Geld- und die Geschäftsleute. Der Stolz auf die geradlinige Deszendenz von irgendeinem mit den frühesten Einwandrerzügen des siebzehnten Jahrhunderts gekommnen Subjekt, gleichviel welchen Wertes, Standes und Charakters, wird lächerlicher zur Schau getragen als der Stolz des deutschen Klein- und Beamtenadels. Der Bildungsphilister ist eine ungeheuer verbreitete Spezies in Amerika. Aber das schwerste Philisterjoch legt uns die Vorstellung vom Gentleman auf, ein falsches Lebensideal, die Naturen verflachend, verkümmernd, eine traurige Erbschaft der alternden Kultur Altenglands. Doch davon wäre ein Buch zu schreiben, und ich habe heute noch einige Beobachtungen mitzuteilen.

Dem deutschen Bürgertum ist die frische Luft des weiten Reiches in erster Linie zugute gekommen. Es war am weitesten hinuntergedrückt und ist am raschesten gestiegen. Aber mir scheint, daß es nicht minder ein Segen des neuen Reiches war, daß es Deutschland seine hohe Aristokratie zurückgegeben hat, die ihre natürliche Aufgabe, die soziale Spitze der deutschen Gesellschaft zu sein, über einer politischen vergaß, für die ihre Staaten viel zu klein waren. Hoffentlich kommen die Zeiten nie wieder, wo der Aufwand für ein Miniaturheer und eine lächerliche Diplomatie diese Länder bedrückt. Wie viel besser ist es für alle, wenn die Reichsfürsten in der Armee und der Diplomatie des Reiches ihre Männer stellen. Es wäre schon früher manches besser gewesen, wenn wir mehr Bernharde von Weimar, Leopolde von Anhalt, Ludwige von Bayern gehabt hätten. Das Beispiel der Hohenlohe und der Hohenzollern muß unter »Regierenden« noch viel mehr Nachahmung finden! Wieviel Heldenkraft ist auf deutschen Fürstenschlössern verdumpft und vermodert. Irgendwo in Deutschland regiert ein Herr mit den Einkünften eines mittlern Bankiers, der Not hat, seine paar Schlösser zu erhalten, und seinen Hofstaat längst aufgelöst hätte, wenn nicht der kleine Adel des Landes bereit wäre, für weniges mehr als nichts die Erbämter zu bekleiden. Er behält so wenig übrig, daß er nicht einmal seinen Herzenswunsch erfüllen kann, den Kaiser in seine Jagdreviere einzuladen, die ihresgleichen suchen. Was Wunder, daß der früh der preußischen Armee entzogne Fürst Buddha zu seinem Lieblingsheiligen erkürt und erst auftaut, wenn man ihm von dem indischen Königssohne spricht, der Bettler wurde.

Das Reich hat zunächst die Kleinfürsten wieder mehr auf ihre Völker oder Völkchen zurückgedrängt, mit denen sie sich zu vertragen haben. Die Landtage stützen sich mit seltner Einmütigkeit auf Preußen, aus dessen schneidiger Bureaukratie die besten Verwalter hervorgegangen sind, die das Interesse des Landes auch unter absolutistischen Formen ganz anders vertreten als die gefügigen Höflinge, die sonst die ersten Stellen als Erbstellen zu bekleiden pflegten. »Preußen hat ein Auge auf uns,« »Preußen sorgt dafür, daß man uns nicht wie früher auspreßt.« In Domänen- und Veräußerungsfragen hat sich Preußen in der Regel für das Land tätig gezeigt. »Wir werden doch eines Tages an Preußen fallen, das weiß man dort so gut wie hier, und Preußen will uns auch nicht ausgesogen wissen.« Diesen Satz habe ich nicht selten gehört. Ja wenn mich meine süddeutschen Erfahrungen nicht trügen, gibt es sogar zwischen den Vogesen und dem Böhmerwald Leute, die pietätlos genug sind, zu sagen: Wir sind in der glücklichen Lage, durch Preußen gegen Willkürlichkeiten unsrer Dynasten und innern Politiker gesichert zu sein, wenn sie noch so partikularistisch fühlen, mit einem Auge schielen sie doch vor jeder »Tat« nach Berlin.

Um nach Thüringen zurückzukehren: die Stellung der kleinen Fürsten zu ihrem Volk hat gerade hier unter dem Reiche nichts verloren. Es ist eine gute Ehe, nicht ohne die Trübungen, die dazu gehören, im allgemeinen voll Vertrauen und Hingebung von seiten der bürgerlichen und der bäuerlichen Teile des Volkes und sehr oft auch von seiten der Fürsten. Ich bewundre diese mehr als jenes, wie sie unter andern, schwierigern Verhältnissen die alten patriarchalischen Beziehungen aufrecht erhalten. Die Existenz eines Herzogs von Anhalt hat gewiß viel Schönes, aber um einen Sommersonntag in seinem herrlichen Park zu Wörlitz beneide ich ihn nicht. Als der Urgroßvater die Urgroßmutter nahm und ihr diesen Park zum Angebinde gab, da besuchten ihn schüchtern gute Bürgersfamilien aus Dessau oder Wittenberg, die sich den Luxus eines Hauderers gönnen durften, und wenn Serenissimus ihnen begegnete, sanken sie in die Erde; er erkannte sie aber und zeichnete sie durch huldvolle Ansprache aus. Jetzt ergießen Eisenbahn, Dampfboot – von Coswig aus – und Lohnkutscher, das Fahrrad, dieses nivellierende Instrument nicht zu vergessen, allsonntäglich und sogar allmittwochlich Tausende von Menschen in dieses friedliche Gelände. Wenige von ihnen haben das Bewußtsein, daß sie hier beim Herzog von Anhalt zu Gast sind. Die Mehrzahl schreit, johlt und benimmt sich nicht wie zuhause, nein wie in irgendeinem öffentlichen Lokal dritten Ranges. Dabei hält es der Herzog für seine Pflicht, wie sein Vater und sein Großvater, sich gerade Sonntags dem Volk zu zeigen, und sogar sein liebes Töchterlein kutschiert sein Ponygespann durch die Wagenburg der Sonntagsgäste. Früher hörte der Lärm mit Sonnenuntergang auf. Jetzt sorgt die mit herzoglicher Genehmigung durch die stillen Gründe von Jonitz und Oranienbaum gebaute Lokalbahn dafür, daß sich der Bodensatz des Sonntagspublikums erst nach zehn Uhr empfiehlt. Aus der weltabgeschiednen Idylle ist ein Vorstadtvergnügungsort geworden. Kann man als Landesvater seinem Volke mehr entgegenkommen?


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