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Bei den jungen Bäumen kommt es vor, daß sie auf eine harte Bodenschicht stoßen, die ihre Wurzeln nicht zu durchdringen vermögen, da sieht man, wie plötzlich ihr Wachstum stockt; sie sterben nicht ab, aber sie machen auch keine Fortschritte, denn es geht gegen ihre Natur, die Nahrung in der Breite zu suchen. Wozu haben sie ihre starken Wurzeln, als daß sie damit in die Tiefe gehn? Sie sollen sich nicht bloß damit festhalten, sondern auch die Nahrung und die Feuchtigkeit in tiefern Schichten erreichen. So werden nun ihre Schosse jeden Frühling dünner, ihre Blätter bleiben klein, ihrer Blüten sind weniger, als es sein sollten, und die Früchte, die sich daraus entwickeln, fallen zum größten Teil vor der Reife ab. Man sagt: Das Bäumchen hat keinen Trieb. Da plötzlich ändert sich das alles: in einem Frühling sproßt es stärker, sein Laub wird mehr und dunkler, seine Blütenfülle ist unerhört und gibt die schönsten Hoffnungen für die Zeit der Reife. Es ist, wie wenn eine Lust und Freude zu leben über das Bäumchen gekommen wäre. Man sagt jetzt: Es ist in den Schuß gekommen. Wie kam das? Seine eifrig suchenden Wurzelfasern haben eine Spalte in der Steinschicht des Bodens gefunden, sind durchgedrungen, und nun erweitern sie die Spalte in fröhlichem Wachstum und speisen die letzten Zweige aus der frischen, inhaltreichen Nahrungsquelle, die sie da unten erschlossen haben. So war es mir nach meinem gewagten Blausäureexperiment gegangen: es war da eine harte Zwischenschicht über meinen Lebensquellen gewesen, ich glaubte innerlichem Verschmachten nahe gekommen zu sein, und nun plötzlich hatte sich in einer starken Krisis des Körpers und der Seele die Verbindung wiedergefunden. Und da in der Zeit des heftigsten Heimwehs die Seele in sich zurückgescheucht worden war, streckte sie nun mit Wonne alle Fühler in die Welt hinaus und suchte Anschluß an Licht und Luft, Fels und Baum, Blume und Biene, und der Reichtum des Lebens übergrünte wie in einer fruchtbaren Sturmnacht den Riß meines Innern. Ich wäre aber wohl nicht so rasch meiner harten, steinernen Winterschale ganz ledig geworden, wenn ich nicht gerade in diesem Vorfrühling Adalbert Stifter entdeckt hätte. Wie jeder Mensch von Gemüt lag ich nun an den Bänden der »Studien«, einem durstigen Wandrer an Quellen gleichend, und konnte mich nicht satt trinken an dem klaren, frischen Tau ihrer schönen Worte. Ich schlug zufällig im »Abdias« auf: ungewiß ist, ob sein Schicksal ein seltsameres Ding war oder sein Herz, und meinte, nach der Weise der Jugend, das Wort auf mich selbst beziehen zu müssen. Ich las aber auch die herrlichen Frühlingsschilderungen in den »Feldblumen,« die schönsten, die wir in deutscher Prosa haben, und lernte sehen und tiefer empfinden, wenn ich mir jenen Jüngling zum Muster nahm, von dessen Frühlingsbeobachtungen Stifter dort erzählt: »Heute ist weithin heiterer Himmel mit tiefem Blau, die Sonne scheint durch mein geöffnetes Fenster; das draußen schallende Leben klingt klarer herein, und ich höre das Rufen spielender Kinder; gegen Süden stellen sich kleine Wolkenballen auf, die nur der Frühling so schön färben kann; ein ferner Taubenflug läßt aus dem Blau zuzeiten weiße Schwenkungen vortauchen, der Vorstadtturm wirft goldne Funken.« Eine Schilderung wie diese wirkt auf empfängliche Seelen unmittelbar bereichernd; sie regt an, in allem die Poesie zu suchen, die nie fehlt, oder sie in alles zu legen, wo sie dann überall Wurzeln schlägt. Besonders erinnere ich mich, daß mein Verhältnis zum Licht nun ganz anders wurde. Es strömte mir, wo ich vorher dunkle Äste und Blätter und dazwischen lichte Zwischenräume gesehen hatte, durch die schwarzen Gitter des Ast- und Zweigwerks wie glühendes Silber und rann an all den dunkeln Linien hin, umsäumte wie ein zarter Flaum jede Kontur, troff von den Knospen und drang in allen Abstufungen von Grün durch die Blätter, das Ganze ein Ineinanderweben und -wogen von Körper und Licht, ein Schwimmen des Körperlichen in einer Lichtflut. Ich sah aber auch mit nicht geringerer Freude dem Leben zu, das der rauschende Regen in der Krone der alten Linde weckte, in die man gerade von den obersten Fenstern unsers Hauses hineinschaute, ich staunte über das Mischen von Grün und Silber und Wasserglanz, wenn der Regen hereinprasselte und die Blätter sich hin und her warfen, als wüßten sie nicht, ob sie die Unterseite oder die Oberseite vor der Flut schützen sollten, und konnte minutenlang dem ruhigern Erguß zuschauen, wo sich Tropfen um Tropfen auf den Blättern sammelten, die sich wie erleichtert aufrichteten, wenn wieder ein Tropfen von der Spitze abgeronnen war. Und das gleichmäßige Rauschen eines sanften Regens in der Baumkrone war mir ein süßer beruhigender Ton.
Möchte doch das Schicksal jedem erwachenden Jüngling die »Studien« in die Hände spielen, möchte jeder ältere Freund den jüngern auf diese reinen, reichen, die Sinne für die außermenschliche Welt öffnenden, das Herz für Edles weckenden Schilderungen und Geschichten hinleiten. Wir alle haben es beständig nötig, aus unsern egoistischen Schranken, die wir uns kurzsichtigerweise immer wieder aufrichten, herausgeführt zu werden, und zwar nicht in die ähnlich beschaffnen Vorstellungskreise und Empfindungsweisen andrer Einzelmenschen, sondern in die weite, reiche Natur, die nichts von Leid und Lust der Menschen weiß und eben darum beiden so wohltätig ist. Noch vor ein paar Wochen hatte ich in mein Tagebuch geschrieben: Die Welt so schön, und ich so unglücklich! Und je schöner sie wird, desto breiter klafft der Gegensatz zwischen der Herrlichkeit außen und der Armut innen. Mein Inneres ist wie wund, jede Berührung schmerzt, ich spüre die Berührung des Blumenduftes und des Sternenstrahls an dieser schwärenbedeckten Seele. – Jetzt machte ich einen überzeugten, dicken Strich durch und schrieb darunter: Dieses ichsüchtige Sichabwenden von der Natur ist auch ein Abfall von Gott. Ich nehme mir vor, aus mir hinaus in die wunderbare Gotteswelt statt immer nur in mich hineinzusehen. Und die unmittelbar folgenden Seiten desselben Tagebuches zeigen mir den Fortschritt vom Sehen zum Beobachten und die Anfänge des Schauens ins Innere der Dinge. Die Nacht war mir bisher nur Schutz gegen die harten, scharfkantigen Dinge des lichten Tages gewesen, ich hatte sie als die Wohltäterin gepriesen, die unmerklich die Fäden auflöst, die wir am Tage um uns und durch die Welt hinspinnen, die unsre Seele lockert, frei macht, den Traumgeistern Raum gibt, sich zu regen und zu wandern. Nun lauteten die Ergüsse meiner innersten Gefühle ganz anders: In diesem einzigen Lichtpunkt des Morgensterns, der kleinen Sonne, die der großen vorfährt und vorleuchtet, des Dämmerungssterns, dessen Herrschaft beginnt, wenn die Dämmerung alle andern Sterne auslöscht, und die Sonne noch nicht emporgestiegen ist, liegt mir mehr als in der ganzen übrigen Natur. Der Morgenstern, wie er einsam in der Vordämmerung steht, ist ein Tor ins große Helle, ein Lichtmeer scheint herauszufließen, das dahinter glüht. Mut und Hoffnung strahlen mich aus seiner milden Glut an, Mut, als Stern der Nacht in den Tag hineinzuleuchten, Hoffnung, daß keine Finsternis jemals die Lichter des Himmels ganz verdunkeln wird.
Der Herr Apotheker, der jeden Morgen nach dem Frühstück in Schlafrock und Pantoffeln die Runde durchs Haus machte, die schraubenförmige Mütze auf dem Haupt, in der Hand ein altes Salbentöpfchen, worin er unermüdlich den Seifenschaum zum bevorstehenden Geschäft des Rasierens schlug, pflegte auf diesem Gang die geschäftlichen Befehle zu erteilen, die wir Ordre du jour nannten. Als an einem der ersten Tage nach meiner Genesung die Vorfrühlingssonne eifrig beschäftigt war, die grauen, alten Schneereste aus den Schatten der Mauern und Hecken herauszuschmelzen, und ein milder, hellblauer Tag heraufzuziehn versprach, ein Tag für frisches, frohes Hinauswandern, trat er zu mir und sagte unter eifrigem Rühren des Töpfchens: Fritz, es wird Ihnen vielleicht gut tun, die linde Luft zu genießen. Ich schicke heute Nachmittag den Johann mit dem Wagen an die Eisenbahnstation, um meine Nichte Luise aus Mannheim abzuholen. Sie könnten bei dieser Gelegenheit in der dortigen Apotheke den Topf mit Bilsenkrautextrakt abgeben, den der Kollege neulich bestellt hat, und dann meine Nichte hierherbegleiten. Sie ist ein recht liebes Mädchen. Ihr Vater ist so beschäftigt, daß er sie leider nicht selbst hierherbringen kann. Er wird später kommen.
Ich war natürlich gleich bereit. Was konnte es Schöneres geben, als in diese Luft hineinzufahren? Und außerdem war ich, seitdem ich das Krankenbett verlassen hatte, bereit, zu tun, was man von mir forderte, denn ich fühlte eine unbestimmte Pflicht der Abbitte und eine noch umfassendere, aber nicht schwächere Regung, dankbar zu sein. Beide mochten mir wohl auch den Mut verliehen haben, knabenhafte Schüchternheit abzutun. Ich empfing am Wagenschlag des langsam unter das kleine dunkle Stationsdach hereinrollenden Zuges das schlanke Mädchen, das reisefroh dem engen Abteil entschlüpfte. Bald saßen wir in dem leichten Wägelchen nebeneinander und überholten stolz den alten grünen Stellwagen, der mir Gelegenheit zu Erzählungen gab, die meine Dame in Heiterkeit versetzten. Wie der ältere Bruder dieses klappernden Fuhrwerks letzten Winter bei heftigem Winde auf offner Landstraße bis auf die Ränder abgebrannt war, wobei die Passagiere kaum zwar nicht ihr nacktes, aber doch ihr in Wintermäntel gehülltes Dasein retteten, so rasch hatte ein unvorsichtig weggeworfnes Streichholz die dichte Strohlage des Bodens entzündet, schilderte ich mit lebhaften Farben und vergaß nicht den Haupteffekt, wie der dicke Handelsjude Schlome, ein Stammgast dieses Fahrzeugs, noch dicker durch seinen Pelzmantel, durch das enge Fenster mit Mühe herausgezogen worden war. Auch daß im Winterschnee, wenn engsitzige Schlitten an die Stelle des Wagens treten, die Post Passagiere verliert, die lautlos in den tiefen Schnee fallen, sodaß der Postschaffner angeblich deren Abgang erst merkt, wenn er, am Ziel angekommen, sie vermißt, worauf er zurückeilend die im Schnee weiterschlafenden findet, und andre Beiträge zur Mythologie des Postwagens trug ich meiner Zuhörerin vor. Zweimal müssen die Fuhrwerke auf unsrer Straße »Steigen« hinauffahren, und beide Höhen krönt eine Waldparzelle; ich ging, so lange der Wagen im Schritt zu fahren hatte, neben ihm her, und es war mir ein wohltuendes Gefühl, die Hand auf demselben Polster ruhen zu lassen, in dem das junge Mädchen lehnte. Anemonen und Schlüsselblumen ziehn dort unter den Buchen, die erst in Knospen standen, an die Straße heraus. Ich reichte die schönsten, die ich pflücken konnte, in den Wagen. Es ist nichts besondres, wenn ein Menschenkind, und nun gar ein junges, sich an Frühlingsblumen freut, die, so unvermittelt und unvermutet, wie sie aus der braunen Erde hervorsprießen, doch so recht geschenkt sind. Wer wäre nicht dankbar, sie zu empfangen? Als ich aber dem Mädchen sagte: Ich habe Ihnen da eine Schlüsselblume gereicht, an der schon ein paar Blüten verwelkt sind, werfen Sie sie weg, wir finden gleich schönere! – antwortete es: Es ist mir so schwer, mich von dieser Schlüsselblume zu trennen, wenn auch einige von den chromgelben Blütenköpfchen schon bräunlich angehaucht sind. Warum sie deshalb gleich wegwerfen? Sie bleiben doch immer ein herrliches Werk der Schöpfung, das ich ungern von mir tue. Wir werfen doch auch ein Kunstwerk nicht in den Staub, wenn es alt geworden ist. Und diese Blumen sind außerdem lebende Wesen, die verschmachten, wenn wir unsre Hand von ihnen abziehen. Wir haben sie nun einmal aus ihrem Boden gerissen, sorgen wir nun dafür, daß sie solange wie möglich am Leben bleiben, es ist doch eigentlich eine Art Pflicht. Gleich nach der Ankunft werde ich sie ins Wasser stellen.
Ich mag das Mädchen erstaunt angesehen haben; das klang ja wie aus Stifter; so hatte ich überhaupt noch niemand sprechen hören, nicht einmal meinen alten Lehrer der Naturgeschichte, der mich zuerst die Pflanzen kennen und lieben gelehrt hatte. Ich schwieg, da mir die Empfindung, die da ausgesprochen worden war, zu fein und zu eigentümlich vorkam, sie zu wiederholen oder mich nachträglich dazu zu bekennen. Aber ich fühlte tief, daß ich eigentlich ebenso denken und handeln müßte, wenn ich nicht noch zu tief in schlechten Gewohnheiten steckte, und ich war gespannt, was dieser feine Mund mir wohl noch offenbaren werde. Einstweilen ahmte er mein Schweigen nach, und ich hatte Zeit, über den wundervollen Effekt nachzudenken, den der Mannheimer Dialekt, aus solchem Munde solche Empfindungen tragend, in dem Ohre eines Hörers hervorbrachte, der ihn bisher als das Idiom von Getreide- und Hopfenhändlern oder Rhein- und Neckarschiffern vernommen hatte.
In den angebräunten niedern Räumen des Apothekerhauses, wo sonst nur die Alten grämlich und heiser redeten und die Jungen verdrossen schwiegen, klang Luisens Stimme hell und heiter. Diese Stimme war vielleicht in ihrer Weise ebenso um einen Ton zu hell, wie Luisens Auge um eine Idee zu groß und zu klar war. Wenn es singend den dunkeln Gang herklang, bald ferner, bald näher, mußte ich an Töne einer Glasharmonika denken, und es drängte sich mir die Frage auf: Kann in so hohem, feinem Tone Seele sein? Lebt etwas darin? Oder klingt nur kalter, heller Kristall? Luisens Auge beruhigte darüber. Es war nur eines. Wer in dieses Gesicht blickte, sah zuerst den viereckigen schwarzen Fleck eines an einem seidnen Band um den Kopf befestigten Stückchens Seide, das das rechte Auge bedeckte. Das Auge war bei einer Operation entfernt worden, die Lider hatten sich für immer geschlossen, die Augenhöhle war etwas eingesunken. Ich fand die Stelle nicht häßlich, aber es lag mir ein schmerzlicher Zug um die zusammengezognen Lider, den der schöne heitere Schwung der Augenbrauen und die freie glatte Stirn wie ein trübes Wölkchen an einem völlig heitern Himmel erscheinen ließ. Jedenfalls stießen sich auch viele andre nicht an dem schwarzen Band und Fleck, denn das übrig gebliebne Auge war von einer solchen Klarheit, daß es mehr als genügte, das Gesicht des Mädchens zu erleuchten, zu beleben. Ich weiß nicht, ob es auch auf andre einen so seltsam anziehenden Eindruck machte, jetzt die augenlose Hälfte dieses Gesichtes, und dann wieder die Hälfte mit dem Leben und Leuchten des Auges zu sehen. Der Wechsel von Schatten und Licht erinnerte an den Neumond und den Vollmond. Kehrten sie mir die Seite mit dem schwarzen Seidenviereck zu, so lag es wie ein leichter Schatten auf allem, was uns umgab. Jeder Sonnenstrahl, jede Blume leuchtete weniger, und ich glaubte über das feine Gesicht einen Hauch von Trübung sich ausbreiten zu sehen. Wandte Luise den Kopf, da ging es hell durchs Zimmer, und mir kam es vor, als müßte ich im Strahl ihres Auges Sonnenstäubchen tanzen sehen. Ja, diese sonnige Bläue strahlte für mehr als ein Gesicht Licht und Frohsinn aus, das konnte man sehen, wenn Luise unter andern Menschen war: unwillkürlich blieb der Blick an diesem Auge haften. Ich nehme an, daß es etwas größer war, als ein Auge gewöhnlich ist, jedoch gewiß nur um so viel, daß es sie eben gerade überstrahlte; damals dachte ich übrigens niemals daran, sondern sonnte mich nur in seinem Lichte, dankbar wie für eine schöne Blume, für einen hellen Stern. Luisens Gesichtszüge will ich nicht beschreiben; sie waren fein, die Gesichtsform schmal, und über einer schönen Stirn, die keine Falten zu kennen schien, lag aschblondes Haar in einer schönen Bogenlinie, die ein glatter Scheitel in der Mitte teilte; das paßte alles so gut zusammen, daß man in dem Gefallen an der Harmonie der Erscheinung die Regelmäßigkeit und die Lieblichkeit einzelner Züge ganz vergaß.
In den Mienen und in dem Benehmen Luisens war die Mischung entlegner Gaben und Neigungen, die uns mehr als alles andre zu Menschen hinzieht, an Menschen fesselt. Auf ihrer Stirn wohnte Hoheit, in ihrem Auge warme Freundlichkeit, die so weit über Schönheit hinausreicht, aber ihre feinen Nasenflügel sprachen von Ungeduld, vielleicht manchmal von Stolz. In dem weichen Munde zeigte sich ganz von fern eine kommende Weisheit, wie ein Festes, das werden will, und wenn auf ihrer Oberlippe das Licht eines Lächelns aufging, hatte es zwar noch das unbestimmt Heitere der Jugend, aber ich dachte: So muß Pallas Athene gelächelt haben, als sie noch ein Mädchen war. In ernsten Augenblicken fiel aber ein Schatten aus dem klaren Auge darüber, wie wenn in besten dunkelm Hintergrund ein Gedanke von Wehmut und Trauer vorüberglitte. Sie fühlte wohl die Kühle dieses Schattens, und er verschwand bald.
Alle Menschen, die durch eine auffallende körperliche Eigentümlichkeit, einen Fehler, einen Mangel »gezeichnet« sind, neigen zu Nachdenklichkeit. Ein Teil ihres Wesens ist einwärts gekehrt, sie besinnen sich mehr als andre auf sich selbst. Gemeine Naturen gehen im Egoismus oder im Hader mit dem Schicksal auf, edlern ist der Kampf mit dem Wunsche, anders zu sein, nicht erspart. Wer diesen Wechsel von Licht und Schatten einmal erfahren hatte, dem gehörte er zu dem Menschenkind. So dachte der Photograph nicht, der in jener Zeit der erst werdenden Lichtbildkunst mit einem unvollkommnen Apparat und mangelhafter Fähigkeit von Dorf zu Dorf zog. Er nahm Luise natürlich von der sehenden Seite auf, und wer das Bild sah, mochte denken: Wie neckisch trägt diese junge Dame ein schwarzes Bändchen schief über dem Ohr. Als ich das Bild sah, das nach der damaligen Mode wie lackiertes Blech glänzte, entfuhr mir der Ausruf: Welche Lüge, welche Feigheit! Nur ihr ganzes Gesicht ist ähnlich. Ohne das andre Auge ist es gefälscht!
Ein ganz wolkenloser Himmel kann nicht über einem solchen Leben stehn. Freundschaft und Liebe bringen ihm heißere Sonne, aber auch schwerere Stürme. Es neigt sich gern zu andern, die freier, heiterer im Leben aufgewachsen sind, und rankt sich an ihnen auf bis zum Verluste des eignen Schwerpunkts. Uns andre reizt nur das Schöne, für jene hat immer auch das Gesunde, Normale einen Wert, den wir nicht nachfühlen. Kurz, es gibt für sie mehr Anziehungspunkte außerhalb ihrer Persönlichkeit, die darum leichter schwankt und sich neigt.
In Luisens Wesen überwog nun äußerlich der Eindruck des Ruhens in sich selbst, gesteigert bis zum Herben, Verschlossenen. Es ist etwas vollkommen Blumenhaftes um die frühe volle Entwickeltheit junger Mädchenseelen; wie eine Blume kommt sie über Nacht, und man freut sich ihrer ohne Warum? und Wohin? Der junge Mann, der nicht aus dem Werden herauskommen kann, der das Gefühl hat, nie fertig werden zu sollen, steht bewundernd im Anblick einer solchen Menschenblume, deren Reiz ihn kein Lesen und kein Lernen lehren konnte. Sie steht hoch über ihm, wie eine nie gesehene Alpenblume in unerreichbarer Felsenhöhe, er begnügt sich, sie bewundernd anzusehen. Aber warum öffnet sich diese Blume nicht? Kann es Menschen geben, die nur knospen?
Wir jungen Leute lebten in dem engen Hause so nahe beisammen, wie konnte es fehlen, daß wir uns näher kamen? In die Ferne hinauszuschweifen, entdeckungslustig »mit tausend Masten« ist Jugendrecht. Glücklicher Heißhunger der Jugend nach neuen Menschen, neuen Dingen! Der Horizont war lange so enge, und was er umschloß, war längst bekannt; was nun neu an ihm auftaucht, ist eine Entdeckung, und nichts kann uninteressant sein, was die Erfahrungen eines jungen Gemütes zu bereichern verspricht. Es war mir schon eine Freude gewesen, die freie Stunde eines stillen Winternachmittags in der Schusterwerkstätte des alten Adam zu sitzen, wo der Glanz der wassergefüllten Glaskugeln zum Nageln und Hämmern und zu den Erzählungen von Handwerk und Wanderschaft leuchtete. Ich hatte auch des Abends mit Knechten und Mägden um das Herdfeuer gesessen und hatte gern dem ewig passenden Knecht einen glühenden Span für die Pfeife gereicht. Aber die Unterhaltung mit Luisen war doch etwas ganz andres, denn auf das, was sie sagte, kam es dabei gar nicht an; der Laut ihrer Stimme und der Glanz ihres Auges lieh allem einen hohem Wert, ihr Gespräch kam mir wie ein blühendes Bäumchen oder wie eine Druse köstlicher Kristalle vor. Wenn ich von den Meinen in der Heimat sprach, hörte sie mit stummer Teilnahme zu, wenn wir aber unsre gemeinsamen Erinnerungen an die Straßen der Stadt und die Waldwege, die sie umgeben, an den Markt und das Theater, an die stadtbekannten Persönlichkeiten austauschten, da lebte sie auf, da leuchtete manchmal sogar ihr Auge und stieg eine Röte in ihre Wangen, die von einer freudigen Teilnahme zeugte. Es war ihr vielleicht von meinem Heimwehzustand des vergangnen Winters berichtet worden, und ich wagte mir einzubilden, daß sie mir mit dem Eingehen in diese Heimatsgespräche noch nachträglich wohltun wolle. Jedenfalls geizte ich nicht mit dem wärmsten Gefühle des Dankes.
Dabei konnte ich nicht aufhören, die Weltkenntnis und das sichere Urteil Luisens zu bewundern. Mit der richtigen Ahnung für das Wirkliche, die Mädchen schon in die Kinderschule mitbringen, nahm sie aus ihrer engen Welt die Maße für die weitere. Was war nicht alles willkommner Gegenstand unsrer Gespräche! Von den Geheimnissen des Glaubens bis zu denen der Küche oder des Gartens reichte die Skala. Die Rätsel des Lebens lagen noch so tief in der Erde, wir warfen sie uns einander zu, wie Knaben mit Eicheln oder Roßkastanien Ball spielen, aus denen ein mächtiger Baum werden wird.
An schönen Maitagen war es Sitte, auf den Basaltkegel des Steinberges zu steigen, der unsre Gegend beherrscht, und sich einmal die Welt von oben anzuschauen. Es war, als wollten sich die Menschen nach dem langen Winter versichern, daß sie wieder, wie letztes Jahr, im Sonnenglanz vor ihnen liege. Und da dort oben ein paar Pflanzen wuchsen, die in unsrer Flora selten sind, der Sage nach sogar der schöne Frauenschuh, verschönte noch der Reiz des Schätzesuchens diesen Ausflug. Luise und ich verabredeten, den Sonnenaufgang von dort oben zu sehen, und die alten Schauinslands ließen uns in dunkler Nacht hinausziehen, nachdem sie einen Tag lang die Köpfe geschüttelt und über die warme Kleidung, die für Luise geboten sei, lange Gespräche geführt hatten. Für mich hatte es nur eine Sorge gegeben: welche Laterne für die erste dunkle Stunde den Weg am hellsten erleuchten möchte, damit Luise sicher dahinschreite.
Wer, der einen Menschen gern hat, wünschte nicht, einmal mit ihm auf einem Berggipfel zu stehn, eine ferne Welt zu Füßen und den Himmel allein ganz nahe zu Häupten? Es ist der Gipfel der Einsamkeit, und da wir nun von Erhabnem rings umgeben sind, fällt alles Niedrige von uns ab. Wir brachen lange vor der Dämmerung auf. Dort stand die scharfgezeichnete und doch so zarte, fast durchsichtige Silbersichel: ihr Licht kam mir golden vor, und von der Kühle der Frühmorgenluft spürte ich nichts. Wir schritten durch die Tauperlen des Grases, ohne eine abzustreifen, so kostbar kamen sie uns vor, wir sahen den Morgenstern noch Heller und die Mondsichel blässer werden, wir hörten die schlafenden Dörfer erwachen und sahen die ersten Arbeiter aufs Feld hinausziehn. Bis wir an den Fuß des Steinbergs kamen, lagen auf manchen Wiesen schon dichte Reihen gemähten Grases. Der Morgenwind ging warm von Südost her und schob lange, schwere, graue Wolken vor die Sonne. Nicht als Feuerball stieg diese empor, sondern als glühender Lavastrom floß sie durch die Spalten des Gewölks, das sich auszubreiten und in Nebelwolken heraufzuwogen begann, die das zerstreute junge Sonnenlicht golden anglühte. Aus dem runden Gipfel, wo die schwarzen Blöcke des Basalts wie eine zerbrochne Mauer liegen, stand der Nebel vor dem West- und Nordhimmel dicht, als gelte es, eine neue Mauer aufzubauen, und nur hoch oben blaute es unbestimmt. Mit der Aussicht war es nichts. Von Osten her drang nur noch ein silbernes Licht durch, dieses aber warf unmerklich dunkler den Schatten des Berges auf die graue Wand vor uns, sodaß man jeden Block unterscheiden konnte, und unsre Gestalten dazu, seltsam in die Höhe gereckt. Es war sonderbar, wie jede Bewegung in die Höhe zu schießen schien. Manchmal umgaben goldne und bläuliche Säume die Umrisse. Als ich hinter Luise trat, wollten unsre Nebelbilder sich verschmelzen, Luise aber trat zur Seite und beeilte den Abstieg zu einer mauergeschützten Stelle, wo wir uns mit befreundeten Wandrern trafen, die von andern Seiten heraufgestiegen waren. Diese hielten nicht viel von einem Berggipfel im Nebel und saßen schon um ein loderndes Reisigfeuer, über dem der Kaffeekessel hing. Wir aber waren in aller Stille stolz, früher oben gewesen zu sein und mehr gesehen zu haben, und aus Luisens Gesprächen hörte ich mit inniger Freude ihren warmen Anteil an unsrer gemeinsamen Wanderung heraus. Welches Glück in dem gemeinsamen Besitz noch so beschränkter Erfahrungen! Waren nicht sogar die Sterne unser, die wir am Morgen bewundert hatten und am Abend bei der geräuschvollern Heimkehr wiedererkannten?
Ich vermied es, auf dem ganzen Wege Luisen zu berühren, da ich ahnen mochte, daß ein für Körperelektrizität nicht leitender Zwischenraum für uns von Heil sei. Ich war es zufrieden, wenn ihr freundlicher Blick dem meinen antwortete, und wenn wir in unsrer Unterhaltung dem Gewöhnlichsten den Reiz persönlichen Interesses beilegten, der allen Dingen Wärme und Leben gibt. Freundschaft und Liebe übertreffen noch weit Kunst und Dichtung in der Gabe, alles und jedes aus der Sphäre der Gleichgiltigkeit erheben, beseelen, idealisieren zu können. Sicherlich haben beide dazu beigetragen, die Welt schöner, befreundeter zu machen, denn nicht alle Gefühle dieser Art gehn mit dem Augenblick verloren, der sie hatte entstehn lassen. Die Schlüsselblumen haben dauernd für mich an Wert gewonnen, seitdem ich wußte, daß Luise sie so sehr liebte. Und das Brückengeländer, wo wir beide oft standen und in Pausen ernster Gespräche den stillen Bach unter uns wegfließen ließen, kam mir wie ein Sinnbild des Glücks vor, das fest steht, während die Zeit darunter unmerklich rasch vorübergeht. Freunde sollen einander fördern, sagte ich einmal, als wir zusammen dem Bache nachblickten. Das können sie am besten, wenn jeder die Arme frei hat. Nehmen wir an, wir sollten diesen Bach auf einer schmalen Planke überschreiten, Sie gehn hinüber, ich halte die Planke, damit sie nicht zittert. Leute, die einander lieb haben, meinen, sie müssen mit verschlungnen Armen zusammen hinübergehn, und eins zieht das andre hinab. Ein Freundespaar handelt also vernünftiger als ein Liebespaar. Ist es nicht so in vielen andern Fällen?
Luise lächelte fein. Ihre Rechnung wäre richtig, wenn nicht diese Leute sich glücklicher fühlten, wenn sie zusammen ins Wasser gefallen sind, als andre, die den Weg trocken zurückgelegt haben.
Es mag nicht ganz ungefährlich sein, in das Wasser zu fallen, über das die Planke der Freundschaft führt. Ich habe die Idee, es sei tief. Es ist so schön, in stilles tiefes Wasser einzutauchen. Wer werden die beiden so leicht wieder ans Licht kommen?
Das brauchen sie vielleicht gar nicht. Es soll Augenblicke geben so voll Glück, daß dahinter nichts mehr ist, was die Mühe zu leben lohnte.
Was mochte das Mädchen denken? Ich verstand es nicht. Daß diese Freundschaft jeden Tag verschönte, stand mir fest genug! Nichts auf der Welt kam mir so sicher vor. Ein Händedruck, ein stummer Vertrag, und daruntergesetzt die Unterschrift eines jungen Herzens voll Glaube: was gibt es Sichereres für dieses Herz?
Ich ging ganz in dem Genuß des Umganges mit einem Menschen auf, der besser, schöner und viel, viel gescheiter war als ich. Im Grunde war es der Ehrgeiz, einen solchen Kameraden zu gewinnen, der mich zu ihr hintrieb, und später der Stolz, sie zum Freunde zu haben. Darum durfte auch neben dieser Kameradschaft noch so manches andre in meiner Seele Raum haben; wäre es Liebe gewesen, die hätte jede andre Regung ausgetrieben. Für so junge Gemüter, wie das meine, liegt in früher Liebe die Gefahr, daß sie den Menschen allein haben will, ihn im wahren Sinne des Worts beherrscht, deshalb ein Stehenbleiben der ganzen innern Entwicklung, soweit sie eben nicht Liebe ist, ein in die Blätter verfrühtes Schießen ohne Blüten und Frucht, was der Gärtner Vergeilen nennt. Dem Gefährten, den man bewundert, es nachzutun, die Freude darüber, daß er unsre Freuden teilt, vereint zu denken und zu wollen, was man vorher einsam und freudlos gedacht und gewollt, das ist die Blüte der Freundschaft. In einem werdenden Menschen ist der Trieb zur Unterordnung, er will folgen, will geführt werden, und diesem Trieb nachzuleben, macht sein Glück aus. Mein Blick zu dem Mädchen war immer nur aufwärts gerichtet, und wenn sie etwas billigte, was ich tat, oder einen Gedanken teilte, war ich eben so glücklich, wie wenn ich etwas besser machen konnte, was sie rügte. Ich erinnere mich, daß ich einen ganzen Tag glücklich war, als Luise mit einer Nelke von wunderbarer Weiße im Mund mir früh aus dem Garten entgegenkam. Es war eine Antwort auf die Rede von gestern Abend, wo ich von den Nelken erzählt hatte, die eben aufgingen, und gemeint hatte, sie seien weißer als weiß, weißer als Schnee, und man müsse in ihrem Anschauen glücklich sein, ein solches Wunder sehen zu dürfen. Nelkenkenner wissen wohl, welches Weiß ich meine; es gibt nämlich weiße Nelken, denen durch eine ganz entfernte Beimischung von Purpur eine Glut ihres Weiß verliehen wird, für die ich in der Natur nur blendende, leuchtendweiße Sommerwolken zum Vergleich nennen könnte. Von diesen Wunderblumen trugen wir nun beide, solange sie blühten, recht volle Exemplare im Munde. Und als Luise sich eine nach Bauernart hinters Ohr steckte, tat ich es natürlich nach, ließ es jedoch auf ein vernehmliches »Narr!«, das brummend aus dem Munde der Schraube kam.
So wie zwei unsichtbare Linien von unfern Augen ausgingen, die sich in jenen Himmelslichtern schweigend trafen und begrüßten, so strahlten von unfern Herzen Linien in die ganze Welt, die uns umgab. Es wurden ihrer immer mehr, und sie flochten sich immer dichter zusammen. Wie konnte es anders sein?
So natürlich, wie Knospen junger Pflanzen die Erdschollen heben und zur Seite drängen, um in Licht und Sonnenwärme zu gelangen, schlossen wir zwei jungen Menschenkinder uns gegen den Druck des alt und kalt gewordnen Hauswesens bei Schauinslands zusammen, und indem wir uns gegenseitig zustrahlten, wurde es lichter und wärmer um uns her.
Schöne Tage, wo alle Wünsche schweigen. Keins von uns wollte, daß es anders kommen, niemand dachte daran, ob solche Freundschaft nicht einmal die Blüte der Liebe treiben werde.
Es kam die Zeit, wo auch in den Gärten die Erde umgegraben wird, nachdem auf den Äckern draußen die Sommerfrucht längst eingeeggt ist. Es ist nicht gerade eine leichte Arbeit, die schweren Erdschollen zu durchschneiden, umzuwenden und zu zerkleinern, aber es ist eine hoffnungsvolle, und trotz den Schweißtropfen, die sie kostet, hat sie etwas von der Vorbereitung einer Frühlingsfeier: das häßliche, vom Frost entfärbte und vom Schnee zur Erde gedrückte Herbstgestrüpp wird nun entfernt, der Boden wird gereinigt, das Umgraben bringt frische Erde an die Oberfläche, die braun glänzt, Hacke und Rechen säubern sie, und alles ist zum Säen und Pflanzen bereit. Ist es nicht, als ob alle die Schätze, die die Sonne aus dieser Erde hervorlocken wird, nur warteten, bis die Strahlen sie wecken? Wenn die Erde im Herbst verarmte, im Frühling wird sie wieder reich, und ich zerbröckelte jede Erdkrume mit dem Gefühl: Wieviel Keime mag sie bergen! Jetzt ist sie in Wahrheit die Muttererde! Glücklich, wer säet und erntet! Er lebt etwas vom Leben der Natur mit, das sein eignes Lebensgefühl erhöht.
Ich pflanzte vielerlei in diesem Frühling, ein Apothekergarten trägt alle die Würzpflanzen, deren Pflege Karl der Große in einem berühmten Briefe seinen Gutsverwaltern ans Herz gelegt hat, und dazu noch vieles andre, was die Zeit dazugefügt hat. Außerdem sind die Apothekersleute Menschen wie andre, die Gemüse und Salate, Rettiche und Gurken, Lauch und Zwiebeln brauchen. Das alles ist beetweise abgeteilt, und während einiges fortwächst, wie es gesät wurde, sät man andres in besondre geschützte Kastenbeete, aus denen dann die Pflänzlinge, wenn sie stark geworden sind, ins freie Land verpflanzt werden. Kressen gehören zu den Gartenpflanzen, die man am frühesten aussät; wenn der Winter früh gegangen ist, vertraut man die kleinen rotbraunen Körnchen schon in den letzten Tagen des Februars der Erde an. Man sät sie, um einen frühen Ostersalat zu haben, und weil ihr Grün früh die braunen Beete verschönt.
So wie der Malerlehrling, der zum erstenmal einen vollen Pinsel in die Hand bekommt, an die nächste beste Wand unfehlbar die Linien kleckst, die ihm gerade als schaffenswert vorschweben, so trieb es mich, von der Keimkraft der Körnchen, die mir anvertraut waren, den schönsten besten Gebrauch zu machen. Wie oft schon hatte ich der unverständigen Neigung nachgegeben, ihren Namen dorthin zu schreiben, wohin die Sonnenstrahlen ihn zu lesen kamen. Und so säte ich denn, oder es säte ein Wille in mir, der halb Spieltrieb war, ein schöngeschwungnes L auf ein noch freies Beet. Nach zehn warmen Frühlingstagen, die ein kräftiger Regen unterbrach, sah ich die winzig kleinen Doppelblättchen der Sämlinge hervorkeimen, alle rundlich, auseinandergefaltet, wie bittende Händchen, in deren Mitte dann erst die zerschnittenen und krausen Blättchen der Gartenkresse wie zierliche grüne Blütchen aufknospten. Dazwischen kamen junge Gräser, die senkrecht wie ganz feine grüne Linien, ein Heer von Spießen, erschienen; manche waren auch zusammengebogen, und die Spitze konnte sich nur freimachen, indem sie die dunkle Erde mit Schnellkraft empor und beiseite schob. Mein erster Gedanke war Freude über das gelungne Werk. Wenn das so fortsproßte, mußte das L bald sichtbar sein, und schon sah man einige Umrisse seiner Bogenlinien. Den nächsten Tag war es schon fast zu erkennen. Da kam mir eine Art Scham über die unzarte Entschleierung eines tiefen Gefühls, verschärft durch Zweifel, wie Luise meine Freiheit aufnehmen werde; und zum erstenmal dachte ich daran, daß alle es sehen würden, und was ich antworten würde, wenn sie fragen: Warum? Ich trat an das Beet heran und sah die Pflänzchen und Keime zerstreut stehn und die braune Erde dazwischen vorschauen; da war kein L zu sehen, ich schöpfte die Hoffnung, es sei nicht aufgegangen. Aber wenn ich zurücktrat, da leuchtete der liebe, gefürchtete Buchstabe mich verhängnisvoll deutlich an, und der folgende Tag verscheuchte jeden Zweifel. Nun mußten es auch die sehen, denen es im Grunde gleichgiltig sein konnte, ob ein L oder ein X, für die aber die Frage von brennendem Interesse war: Wer hat den Buchstaben hingesät? Und was hatte er für eine Absicht dabei?
Des Mittags nach der Suppe kam die Frage, die kommen mußte. Wer hat nur die Kressen in so sonderbaren Schnörkeln gesät? Die Hälfte des Beetes ist leer. Das ist sehr unökonomisch und hat doch gar keinen weitern Zweck. Also sprach der Mann mit der Schraube und rückte seine Mütze aufs Ohr. – Die Kressen habe ich gesät, antwortete ich mit einer Stimme, von der ich mir später vorredete, sie sei eisig gewesen; vielleicht zitterte sie jedoch etwas, denn ich fühlte mein Herz so gegen die Tischkante pochen, daß ich von ihr abrückte in der Furcht, der Tisch mit allem, was darauf war, werde ins Pulsieren und Klirren kommen. – Und warum haben Sie das Beet nicht vollgesät? – Ich hätte nun antworten können: Weil der Samen nicht reichte, schämte mich aber jeder Ausflucht. – Es kam mir so der Gedanke, es sei schöner, auch einmal eine Figur hineinzusäen. – Und was soll es denn vorstellen? – Das weiß ich augenblicklich selbst nicht, es wird mir erst einfallen, wenn es weiter heraus ist.
Die fragende Miene des Inquisitors belehrte mich, daß er das L noch nicht so bestimmt gesehen hatte wie ich. Die praktische Erwägung seiner Hausfrau: Das gibt nicht einmal eine ordentliche Schüssel voll Salat! schloß brummend das Verhör. Aber im Aufstehn vom Tisch, das ich heute beeilte, traf mich ein so neckischer Blick aus Luisens Auge, daß ich meinte, es träte der allerhellste Stern hinter Wolken vor. Sie weiß es, was kümmern mich die andern; und sie zürnt nicht!
Wir lehnten den Nachmittag an der Brücke, die über den Bach rechter Hand in den Garten führt; an dem leuchtenden Frühlingssonnentag war es eine Wohltat, den Bach entlang über den dunkeln Wasserspiegel hinzusehen, auf den Erlen niederhingen, deren Laub noch nicht schwarzgrün wie im Sommer war. – Sehen Sie, wie ernst im hellgrünen Glanze die schwarzen Früchtchen stehn? Das ist gerade das Gegenteil von dem, wie es am Abend hier aussieht, wenn die Sterne in dem schweigenden Wasser liegen wie eingesprengtes Gold in einem ganz dunkeln Kristall. – Solcherlei und andres, meist wohl ziemlich weit hergeholtes, sprach ich zu dem Mädchen, das nicht viel antwortete, aber nicht ungern zuzuhören schien. Ich hatte mit der Zeit das Gefühl, daß das ein Herumreden sei. Das blaue Auge richtete sich sehr hell aus mich, aber nicht so völlig kristallhaft kalt, wie es Wohl blicken konnte; ich dachte an einen ganz Hellen Saphir, den ich auf dunkelm Sammet hatte liegen sehen. Ihre Lippen öffneten sich nicht, sie wußten wohl, daß die Frage dieses Auges mir nicht unverstanden blieb; auch meine Lippen waren versiegelt, aber mein Auge sagte: Ja, ich habe das L gesät, und die Röte, die ich in den Wangen fühlte, bekräftigte es: Ja, er hat wirklich die Keckheit gehabt. So sahen wir uns' an, und ich weiß nicht, warum ich meinen Blick nicht von dem ihren lösen konnte. Es war ein unbestimmtes Vertrauen, dessen ich aus diesem Auge nicht genug schöpfen konnte. Und endlich brach es wie ein Quell hervor: Wie schön ist es doch, daß Sie jetzt da sind, wo die Sonne jeden Tag heller und wärmer scheint, Fräulein Luise. Es wurde vorher schon schön und gut von dem Augenblick an, wo Sie kamen, und nun wird jeder Tag herrlicher. Für mich sind Sie der einzige Mensch, an den ich mich hier anschließen konnte, Sie sind jung – Aber nicht so jung wie Sie, Fritz, warf sie lächelnd ein – und haben nichts mit dem Geschäft zu tun, Sie kommen aus meiner Stadt und kennen sogar die Straße, wo meine Eltern wohnen, für das alles bin ich Ihnen dankbar. Ich weiß wohl, daß das Dinge sind, die Sie ganz gleichgiltig lassen, Sie sollen sich auch gar nicht darum kümmern,. Sie haben ja besseres zu tun. Aber wenn ichs kurz sagen soll, ich freue mich eben einfach, daß Sie da sind, sehen Sie, es ist nicht anders, als wenn wir jetzt Morgens einen so recht dicken Strauß Anemonen in das alte dunkle Apothekenzimmer stellen^ das leuchtet wie ein Sonnenstrahl, und alles nimmt von dem Licht der frohen Blumen an und wird selbst hell und froh davon. Der Blumenstrauß allein weiß nichts davon. So, Fräulein Luise, ist es mit Ihnen.
Luisens Auge lachte hell, als sie sagte: Es ist ja recht schmeichelhaft, mit einem ganzen Strauß Frühlingsblumen verglichen zu werden. Mir wäre es genug, wenn Sie mich mit einer einzigen Blume verglichen.
Nein, das geht nicht, sagte ich; wegen des Lichts muß es ein Strauß sein, denn im Vergleich mit der Freude, die aus Ihrem Gesicht auf die Welt ausgeht, ist eine Anemone nur Dämmerung. Nein, es muß etwas Leuchtendes sein, was man mit Ihrem Angesicht vergleicht.
Luise errötete, wollte nicht weiter darüber geredet haben, ob Strauß oder Blume, sondern fragte mit demselben schelmischen Lächeln, das ich vorhin über ihr Gesicht hatte gleiten sehen: Ist es wirklich ein L, das Sie mit Kresse angesät haben?
Ja, und Ihr L, nur Ihres, das höchste L, das es gibt. Mit Kressensamen, der es schnell verrät, sät ich es gern auf jedes frische Beet.
Nicht weiter, fiel mir Luise ins Wort, und ich verstummte, im stillen halb und halb erstaunt, mich freuend über meine eigne Kühnheit. Als aber nun Luise mit kühler, absichtlich gesetzter, fast geschäftsmäßiger Stimme sagte: Es ist nun da und wächst. Was tut man damit? Zum Ausroden ist es zu spät! – bewunderte ich, wie so oft schon, ihre ruhige Überlegenheit und wollte nicht Zurückbleiben: Befehlen Sie es, so rode ich es doch noch aus.
Dazu ist es schon zu spät. Man hat den Buchstaben einmal erkannt. Die Frage ist nur: Was tun wir damit? Onkel, Tante, die Köchin Kathi und alle, die in den Garten kommen, sehen es, und bei diesem Wetter wird es jeden Tag ausfallender, nächstens – und sie lächelte höchst liebenswürdig – wird es wie ein Transparent in die Welt hinausleuchten. Ich frage Sie, was fangen wir damit an, ehe es uns über den Kopf wächst?
Ich wußte keinen Rat, meinte aber, die Sache sei gar nicht so gefährlich, jetzt, wo ich wisse, daß sie es nicht mißverstehe und mir nicht zürne, nähme ich es gern auf mich, möchten doch die andern sagen, was sie wollten.
Fräulein Luise schien nicht damit einverstanden zu sein, das grünende L so auf die leichte Schulter zu nehmen. Man wird fragen, warum Sie den Anfangsbuchstaben gerade meines Namens hingesät haben, warum nicht des Ihrigen? Ein F ist gerade so leicht zu säen wie ein L, und gewöhnlich verewigen doch die Leute am liebsten ihren eignen Namen.
Fräulein Luise, Sie wissen ja jetzt, warum ich es getan habe. Ich konnte wahrlich nicht anders.
Mein Onkel wird es kaum glauben, und Tante sicherlich nicht, sie werden annehmen, Sie seien in mich verliebt! – Dabei errötete sie sehr lieblich, wirklich anemonenhaft, und ich fand es sehr lieb, daß sie diese Worte so zögernd aussprach, gerade weil sie dabei noch mehr errötete. Zum Glück war aber mein Gewissen ganz rein. Verliebt? Kein Gedanke. Ich konnte ihr mit der offensten Miene von der Welt antworten: Von Liebe ist keine Spur dabei, dafür stehn Sie viel zu hoch über mir. Mein Ehrenwort, daß ich auch nicht mit einem Gedanken daran gedacht habe, als ich die gefährlichen Körnlein da ausstreute. Warum soll man denn nur den Namen einer Geliebten mit Kressensamen auf ein frisches Beet streuen können, und nicht den eines Freundes, einer Freundin? Muß denn überall Liebe mit dabei sein? Wäre ich Kressensamen, ich verbäte mir, so ohne weiteres und einseitig immer nur mit Liebe verbunden zu werden. Ich habe einmal von der Liebe gelesen, daß wenn sie einmal gekommen ist, sie wächst und wächst, wie die Flut, überall hindringt, alles ausfüllt. Das muß wahr sein, denn überall liest, überall hört man von ihr, und die reinste selbstloseste Freundschaft muß sich für Liebe beargwöhnen lassen. Ich weiche dieser Flut nicht, und wenn ich so einsam vor ihr stünde wie die Felsenklippen vor Helgoland.
Ich mußte wohl bei dieser Rede wider die Liebe etwas pathetisch geworden sein und die Hand aufs Herz gelegt haben, denn Luise bat mich lachend, keine so bedenklichen Gebärden zu machen. Aber ich war glücklich, einmal so offen reden zu dürfen. War es doch nicht bloß ein Bekenntnis an das Mädchen, sondern die Aussprache einer jugendlichen selbsterrungnen Anschauung von Dingen, die mir die wichtigsten erschienen.
So tief wie Paris unter den Helden der Ilias steht mir die Liebe unter der Freundschaft. Mögen die Dichter sie in krankhaften Versen besingen, die Freundschaft steht mir in jeder Hinsicht höher, und das ist es, wenn ichs denn offen sagen soll und darf, was ich für Sie empfinde, aber ich würde durchs Feuer für Sie gehen.
Luise war nachdenklich geworden. Dann verlangen Sie dasselbe auch von mir? Und wenn ich nun nicht dazu bereit wäre? Freundschaft muß gleich an Opfern und Empfangen sein.
Wie könnte ich an Gleichheit denken, Ihnen, Ihnen gegenüber! Unmöglich. Ich bin Ihnen so verschuldet, werde niemals imstande sein, das abzutragen, was Ihre Gegenwart mir ist, und was Ihr Erscheinen in diesem Hause mir geworden ist. Dulden Sie es einfach, daß ich Sie dankbar verehre, ganz von unten herauf nur, und fragen Sie nicht weiter. Wenn ich lästig bin, sagen Sie mir ein Wort, es genügt, und ich ziehe mich zurück.
Sie übertreiben augenscheinlich. Denn was kann mein Erscheinen für Ihre hiesige Existenz bedeutet, was bewirkt haben? Soweit ich sehe, ist sie noch eben so, wie sie vorher war. Was sollte ein Mädchen daran ändern können? Doch gut, Sie wollen nicht, daß ich frage. Da wir aber gute Freunde sein sollen, so erlauben Sie mir den Rat, zu dem ich als Freundin berechtigt bin, die vier Jahre älter ist: Leben Sie nicht in Illusionen, besonders nicht mit Bezug auf mich; ich bin ein äußerst fehlerbehaftetes Geschöpf.
Ich ließ Luise nicht ausreden, denn das klang ja fast absurd, und reichte ihr die Hand. Sie drückte sie lachend und meinte, es solle damit allen Förmlichkeiten und für immer genügt sein. Ja, für immer, rief ich begeistert; aber das grünende L erschien mir, und ich fragte kleinlaut: Wie ist es nun mit den Kressen?
Die nehme ich auf mich, und wenn sie herangewachsen sind, essen wir sie als Pfand der Freundschaft auf, recht jung und zart, damit das L bald verschwindet, und Onkel und Tante werden dazu geladen.
Und müssen noch obendrein Acetum vulgare und Oleum olivarum dazu geben.
*
Es war eine ganz hübsche Episode gewesen. Aber ich müßte lügen, wenn ich nicht einräumte, daß mir ein Stein vom Herzen fiel, als das grüne L in Gestalt des Kressensalats, wie er so zart noch kaum gegessen worden ist, verschwand. Ich hatte mit steigendem Mißfallen und sogar mit Reue die Kresse wuchern und treiben und den Buchstaben wie mit Bosheit immer deutlicher machen sehen, und ich sehe jetzt ein, daß der Hauptgrund davon eine innere Unsicherheit war, ob nicht dennoch Liebe es gewesen sei, die im Gewände der Freundschaft mir das Samenkorn dieser lyrischen Idee in die Seele geworfen hatte. Am Abend des verzehrten L lag auf meinem Tisch ein feines Sträußchen aus Kresse mit einer Aurikel in der Mitte, und von diesem Grün und Goldbraun umhüllt trug ein schmaler, langer, zusammengerollter Streifen Papier folgenden Vers:
Wenn es die Kressensaat zu schnell verrät,
Was für ein Name dir im Herzen steht,
So nimm und mische alles zum Salat
Und salze ihn mit Tränen, dies mein Rat.
Doch iß die Kresse jung, wen sie recht zart,
Und sprich dazu: Mein Herze, werde hart.
Ich kannte nicht die Hand, doch ertappte ich mich, wie ich den Streifen küssen wollte. Ich zerdrückte eine Träne und sagte froh nichts weiter als: Freundin!
*
In meinem Tagebuch finde ich folgende Aufzeichnung aus dieser Zeit: Nun keimt es wieder Blättern und Blüten entgegen. Aus dem steinigsten Erdreich treiben grünende Keime, und schwache Hälmchen spalten mit gewaltiger Triebkraft die Erdschollen. So leuchten am Himmel neue Sterne auf aus dem Dunkel, man ahnt kaum, woher und warum? Doch freut man sich, daß die Welt nicht feiert, und daß der alte Gott nicht karg geworden ist. Ein solcher Stern warst du. Als du in unsre Nacht hineinleuchtetest, sagten wir: Das Schicksal hat noch immer Gaben frei.