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Der Angeklagte von Sonndorf hatte gebeten, vor der Versammlung der Jubilare in den Garten geführt zu werden, um durch Bewegung in der frischen Morgenluft die mühsam errungene Fassung und Kraft zu stärken, die er, mehr als jeder andere seiner Kollegen, nötig hatte, über sein Leben Rechenschaft abzulegen. Der Wunsch wurde bereitwillig erfüllt. Einer der Richter, der Staatsanwalt und der eben erst angekommene Verteidiger begleiteten ihn; der Gefängniswächter folgte nur von Ferne.
Der wundervolle Sommermorgen, erquicklich für jedes empfängliche Gemüt, wirkte auf den Schwerbeladenen nicht erleichternd. Die große, markige Gestalt mit dem reichbegabten, imponierenden Kopfe, bestimmt, im Leben Wunder zu verrichten, Tausenden im Guten und Großen vorauszuschreiten, ging gebeugt dahin, lassen Schrittes, das Auge unter dem Schatten dichter Brauen zu Boden gerichtet, gleichsam flüchtend vor dem Anblick des wolkenlosen Morgenhimmels und der milden, lächelnden Sonne, die ihre Strahlen Gerechten und Ungerechten spendet. Teilnehmend ließ der Richter es geschehen, dass der Gefangene nach leise ausgesprochener Bitte sich auf seine Schulter stütze.
Eine Weile war es stille. Man hörte nur die Schritte der Wandernden im Sand. Dann begann der Gefangene, halblaut wie für sich, erst in abgebrochenen Sätzen, dann zusammenhängend und mit ergreifender Betonung seinem arg bedrängten Herzen Luft zu machen.
»Der Anfang ist's, der Anfang; aus ihm folgt alles«, waren seine ersten Worte.
Eine tiefe Blässe überzog sein Gesicht; Schweißtropfen traten auf seine Stirne; das Auge schien sich zu erweitern und seltsam leuchtend eine Erscheinung anzustarren … Eine Erinnerung aus den Tagen jugendlicher Schwärmerei trat urplötzlich, alles um sich verdunkelnd, vor seine Seele, er stand in einer berühmten Galerie vor jener unvergleichlichen Madonna, deren Anblick einstens heiliges Entzücken, jetzt namenlosen Schauer weckte. Scheu will sein Seelenauge vor dem Wunderbilde fliehen, unwiderstehlich muss es auf Mariens hoheitsvollem, gnadenreichem Antlitz haften. Von diesem Antlitz schien ihm einstens Segen, Ermutigung, Stärkung niederzuströmen für die hohen Vorsätze seines Lebens, und mit dem feurig-ahnungsvollen Auge des Christuskindes schaute damals seine Seele mutig in die Zukunft …
Wohin war es seitdem gekommen!
Da ging er jetzt, aus allen Himmeln gestürzt, nach wenigen jugendmutigen Schritten seinen Idealen untreu, ja hohnsprechend, an Wert und Würde hinter dem gewöhnlichsten Menschen zurückgeblieben, unter den Kollegen, so ungenügend mancher auch den Schwüren der Jugend entsprochen haben mag, ein Scheusal, nicht würdig, neben ihnen zu erscheinen!
Mit Heftigkeit zuckt es in ihm auf, Schaum tritt auf seine Lippen; ein Nervenanfall scheint sich zu erneuern; da begegnet sein feuerwerfender Blick dem ruhig fragenden Auge des Richters und die Heftigkeit verwandelt sich in leises Schüttern; die Hand es Gefangenen hält sich fester an die Schulter des richterlichen Führers, und indem das Haupt wieder sinkt, bemerkt die bebende Stimme:
»Der erste Schritt ist's, der erste Schritt; er führt stufenweise abwärts und zu solchem Ende! … Wenn Sie Kinder haben, Richter, warnen Sie dieselben vor der Leidenschaft des Herzens. Noch so rein und erhaben, birgt sie alle Gefahren für ein junges Leben, weckt Begierden tollster Art, und statt die aufgescheuchten zu beherrschen, wird der Mensch von ihnen fortgerissen: von Übereilungen zu Fehlern, von Fehlern zu Lastern, von Lastern zu Verbrechen! … Haben Sie im Gebirge nie gesehen, wenn ein Berghaupt sich umhüllt und donnernd grollt, wie die Nachbarberge ungestüm sich auch umdüstern, so dass in jähem Losbruch hundert Wetter auf die eben noch lächelnden Täler niederstürzen mit wäldersplitternden Stürmen, Feuerströmen, Habel, Donnerschlägen. – Und wenn der Sturm sich legt, die Wolken fliehen – brennt die harmlose Hütte Tales, liegt die Saat vom Hagel zerschlagen, schwimmen im See die Leichen neben den zerscheiterten Schiffen … So hat meine Leidenschaft in wilden Stürmen oft getobt und wie die grollenden Wolken sich verzogen – war mein erster Mord – mein zweiter Mord geschehen!«
Schaudernd sahen Richter und Staatsanwalt sich an; doch ließen sie den Redenden gewähren.
Mit wenigen Strichen, kräftig und ergreifend, schilderte der Gefangene nun seine Leidenschaft zu einer Bühnenheldin, welche ihn anfangs auf die Höhe menschlichen Glückes, allmälig aber abwärts führte in die tiefste Tiefe menschlicher Verworfenheit. Wie ein Lichtstrahl aus einer besseren Welt zuckte es noch einmal in seinem Auge bei dem flüchtigen Angedenken an die schönen Tage erster Liebe; dann wurden Aug' und Stirne trüber, verfinsterten sich verderbenbrütend, kündigten oftmals einen Ausbruch wilder Tobsucht an, als von den ersten Zeichen der Untreue, von unverhohlen hervortretenden Begehrlichkeiten der Angebeteten die Rede war, die endlich nicht mehr zärtlich erraten ließ, wonach ihr Gelüsten ziele. Toilettenpracht, Besitz von Equipage und Kostbarkeiten, verschwenderische Genüsse, aufsehenerregender Luxus in Stadt- und Landwohnungen wurden endlich unverblümt gefordert, ja ohne zu fragen angeschafft.
Nicht mehr die Initiative in Befriedigung maßloser Hab- und Genusssucht hatte der an den Ketten fanatischer Leidenschaft Geschleppte, ihm blieb nichts übrig, als in atemloser Hast die Kosten für schon befriedigte Wünsche zu tragen. Eine namhafte Hinterlassenschaft der Eltern half für längere Zeit; ein fast leichtsinnig gewährter Kredit in Kaufläden, bei Juwelieren und Geldverleihern half dann wieder für einige Zeit, endlich kam ein Treffer dem in wahnsinniger Leidenschaft Dahinrasenden zu Hilfe, um ihn einem neuen Dämon auszuliefern, dem Teufel des Spiels, der Hoffnungen weckte, um Verluste zu bringen und den Abgrund, den die Verschwendung längst geöffnet, ins Unendliche zu vertiefen. Je dichter sich der Ring der Bedrängnisse um ihn schloss, desto deutlicher ließ die Zauberin die Umrissen der Nebenbuhler erscheinen, die, mit ungeschwächten Finanzen herandrängend, die berückende Künstlerin zu erobern kamen.
Eines Tages, als der Verblendete noch als Sieger zu triumphieren meinte, hatte die Vergötterte, leicht wie eine Zirkuskünstlerin von einem Renner auf den Andern sich schwingt, einem reichen Nebenbuhler sich in die Arme geworfen – und war mit ihm verschwunden …
Der Gefangene verstummte. Wie erschöpft knickte sein Oberleib noch tiefer ein; er bat, auf der nahen Gartenbank eine Weile ruhen zu dürfen.
Man gewährte gern seinen Wunsch und ließ sich neben ihm nieder.
Das gegenüber befindliche, wildüppige Gebüsch war hier in zwei Gruppen geschieden, zwischen denen ein wohlgepflegtes Gartenbeet sichtbar wurde, auf welchem Monika eben Gemüse ausstach, und als sie fertig war, noch eine Rose pflückte, um sie an die Brust zu stecken.
Die straffe, in jugendlicher Vollkraft blühende Gestalt, wie sie sich bückte, wendete und endlich erhob, um das Gemüse in einem Stück reinlicher Leinwand fortzutragen, war das wohlgefällig betrachtete Ziel des Richters, Staatsanwalts und Verteidigers. Auch der Gefangene ließ anfangs seine ermatteten Blicke auf der Erscheinung ruhen, wurde jedoch bald in seltsamer Weise bewegt.
»Alle nimmt Gestalt an, um die Martern meiner Schuld nie ruhen zu lassen«, sagte er kaum vernehmbar: »Postillonrock und Steyrerhut – und sie ist's, wie sie leibte und lebte! – Ja – alles nimmt Gestalt an, im Dunkel des Traumes wie im Lichte des hellen Tages!«
Monika, in der Absicht wieder zu kommen, legte zwischen drei gleich aufstrebende Baumäste das Küchenmesser und entfernte sich, ohne die Nähe der Beobachter zu ahnen.
Der Staatsanwalt erwähnte der Verdienste, die sich Altringers Sohn Hilarius erworben, und der Richter und Verteidiger hörten lächelnd zu; allein der Gefangene schien ganz andern Dingen nachzuhangen. Er warf verworrene Blicke nach der Stelle, wo er Monika zuletzt gesehen – erhob sich plötzlich und bat, da er sich stärker fühle, den Rundgang wieder fortzusetzen.
Es überraschte die Begleiter sichtbar, als der Gefangene aufrechter und straffer ausschritt als bisher und in einer Art ingrimmiger Erregung seine Bekenntnisse wieder aufnahm.