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Sie hatten ihr Wächteramt getan, die schimmernden Sternlein am Himmel; sie nickten allmälig ein und überließen es dem Hahnenruf, die schlummernde Erde zu wecken, als im Osten, unter Vortritt des muntern Fackelträgers Morgenstern, ein Dämmerstreif den nahenden Tag ankündigte: einen Tag voll Hoffnungen, Sorgen, Mühen und Freuden für Millionen; einen Tag des Anfangs und Endes, des Aufgangs und Niedergangs schicksalsreicher Menschenleben; den Tag des Jubiläums, den die Berufenen mit so wechselvollen Empfindungen erwartet hatten.
Der Dämmerstreif wird heller und breiter; auf ein Hochplateau über der Burgruine schwingt sich die riesige Gestalt eines Mönches, die den Bergstock, welchen sie bisher geführt, hinter sich wirft, eine Weile stille hält, die Hände wie zu weihevollem Gesange erhebt, dann langsam und feierlich vorwärts schreitet, das Auge unverwandt, groß und von übernächtigem Feuer leuchtend, dem tagverkündenden Morgenhimmel zugewendet.
Als die Gestalt soeben an einer Alpenhütte vorüber geschritten, schlug ein am Brunnen stehender Hirt erschrocken ein Kreuz, nicht anders meinend, als den Bergmönch zu sehen, jenen geheimnisvollen Riesen, von dem die Rede geht, dass er Freitags Berg und Tal durchzieht, in den Gewerken und Hütten zahllose Streiche vollführt: gefüllte Eimer leert, Lampen auslöscht, Werkzeuge zerbricht und mit seinem Hauch alle jene tötet, die sich erkühnen, über seine Bosheit zu klagen.
Doch von dieser übelwollenden Sagenart ist unser Wanderer nicht. Er ist ruhiger, feierlicher geworden, je weiter er auf dem Hochplateau vorwärts drang; an einer grotesken Steinpyramide macht er endlich Halt, um, auf eine Kante derselben gestützt, regungslos, staunend, durchschauert in den Anblick des sachte berginnenden Sonnenaufgangs zu versinken.
Betet er? Kämpfen in ihm die großen, machtvoll wirkenden und zu einem höchsten Wesen die Seele unwillkürlich hinziehenden Empfindungen mit den in enger Zelle geschulten, an äußeren Formen sich abmühenden, Herz und Vernunft brachlegenden Kultusübungen? Was sprechen diese großen Blicke, die das aufgehende Weltgestirn suchen, selbst durchleuchtet von innerem wild loderndem Feuer? Was verraten diese, von innerem Ringkampf zeitweise zuckenden und dann wieder in wunderbarer Ruhe und Selbstbeherrschung erstarrenden Mienen? Wo sahen wir den Mann bereits? Was führte ihn auf diese reine, großartige Naturhöhe herauf, dessen Amt es nach Roms eiserner Fügung ist, in Dämmerungen der Tiefen das Herz am Gängelbande zu führen, die Menschennatur abzustumpfen gegen die Größe und Herrlichkeit der Natur, die Blicke des Volkes kriechend am Boden zu halten und durch ewigen Hinweis auf Tod, Verwesung und Strafen des Jenseits feig, knechtisch, blöd und der Absicht des Schöpfers unwert zu machen?
Doch stille; sieh' hin …
Dort im fernen Osten, hinter dem goldverbrämten Nebelstreifen, kommt sie herauf, die große Leuchte der Welt, eine riesige, torglühende Scheibe, die aus dem meilenweit sich hinstreckenden Haidesee aufzusteigen scheint, begleitet von leise zitternden Klängen, die nur der einsame, seligschauernde Zeuge auf den Höhen vernimmt. Über den Länderstrecken liegt der Morgennebel noch ruhig, glattgestrichen, weiß wie Linnen, daraus nur die höchsten Bergeshäupter wie graue Inseln hervorragen.
Gemahnt es doch an die Sage vom versunkenen Kirchlein im See, wie jetzt aus der Tiefe der undurchdringlichen Nebel ein Morgenglöcklein mit andächtig-schlaftrunkener Stimme heraufdringt; ist es doch, als ginge ein tiefes Rätselwort von Berg zu Berg, da die Sonne den ersten reinen Strahl über den Dunstkreis der Erde sendet, ein geschäftiger Morgenhauch erwacht und die Nebel wie Meereswellen aufregt; sie weichen hier und steigen dort fluchtartig auf, bis die Sonne, höher und mächtiger aufgeschwungen, bald hier, bald dort einen meilenweiten Ausblick in die Täler öffnet, eine märchenhafte Szenerie von Waldhängen, Matten, Flüssen und menschlichen Wohnstätten enthüllend.
Hier unter dem Hochplateau liegt die Burgruine, wo die Jubilare einst ihr Wiedersehen beschlossen haben; dorthin nach Süden, wo die Nebel sich eben teilen, führt die Straße durch wechselvollen Talgrund nach dem Klosterhof. Des Mönches Auge schlägt die Richtung dahin ein und ruht gedankenvoll auf dem Schauplatz des Jubiläums, bis die ruhelosen Nebel den Ausblick wieder schließen und neue Richtungen öffnen, um endlich in voller Flucht vor der Gewalt der majestätisch am Himmel stehenden Sonne und der lebhaften Morgenluft noch eine Weile auf dem Hochplateau sich zu tummeln und dann unwillig weichend bergab in Wälder, Schluchten, Talgründe sich zu wälzen. – Mit der letzten Nebelwoge ist auch der Mönch vom Hochplateau verschwunden – nur noch ein Geheimnis für die Wolke, die ihn dicht umfangen und mit sich geführt …
Mit dem Sieg der Morgensonne auf den Bergen ist auch der Kampf entschieden mit den Nebeln in der Tiefe, die, versprengten Nachzüglern gleich, nur noch für Augenblicke in Hohlwegen lagern oder spähend durch die Straßen einer Ortschaft irren, um von den Geschossen des Lichts getroffen und, vom rührigen Morgenwind erfasst, auch hier vertrieben und vernichtet zu werden.
Wie ein todmüder Heerhaufe hat auch vor Hallbach bis acht Uhr eine Nebelwolke gelagert. Das Kesseltal schützte sie hier länger als anderswo; doch drangen Sonne und Morgenwind auch da herab und, dumpf ergeben, wie in bittere Gefangenschaft folgend, zieht die Nebelmasse langsam ab – urplötzlich einen Ausblick öffnend, welcher, gleich einer Fata Morgana, ein wohlbekanntes Bild aus jüngster Zeit überraschend enthüllt.
Die Schenke »Zum blauen Träubel« steht im jungen Morgenlicht da und vor dem Tore in gedränter Gruppe der Wirt, die Wirtin, die Cilli und Agath'. Sie sehen alle, bewegt und lächelnd, ganz wie am Tage, als Hilarius Abschied nahm, nach der Richtung, in welcher der Nebel langsam abzieht, und scheinen sich von einer lebhaften Überraschung, in die sie ein Besuch versetzt, noch nicht ganz erholt zu haben.
Hilarius war vor einer Stunde erschienen – zur großen Überraschung und Freude des ganzen Hauses. Er ließ sich ein Zimmer geben, stärkte sich durch ein Frühstück und bestellte für später ein Essen für zwei Personen; nach Tisch sollte ein Gefährt bereitstehen, ihn weiter zu führen.
Es entging den Verehrern des jungen Gastes nicht, dass derselbe, so freundlich und gesprächig er auch war, doch merklich sich verändert habe. Es lag eine gewisse Weihe in seinem Wesen, ein gedankenvoller Ernst umspielte seine Stirne, die sorglos muntere Jugendlichkeit war einer männlichen Bestimmtheit gewichen, welche die Anziehungskraft für die Verehrerinnen erhöhte, jedoch vertrauliche Annäherung fernhielt. »Ich weiß nicht – es ist derselbe – es ist derselbe nicht«, sagte die Cilli, als Hilarius sich auf sein Zimmer zurückgezogen hatte; sie gab damit der allgemeinen Stimmung Ausdruck. Jedoch war man überzeugt, dass der Gast nach einiger Ruhe wieder zum Vorschein kommen und beweisen werde, dass er noch derselbe lustig, liebe Geselle sei, der das ganze Haus in fröhliche Bewegung zu versetzen wisse!
Groß war daher das Erstaunen, als Hilarius nach einer Stunde, die er eingeschlossen in sein Zimmer mit der Lektüre von Familienpapieren und in der seltsamsten Bewegung zugebracht, wieder zum Vorschein kam, aber zur Wanderung gerüstet, wie er vor einer Stunde erschienen war. »Ich habe einen Besuch abzustatten – ganz in der Nähe«, sagte er zu dem Wirte, der eben in den Hausflur trat. »Ich werde bald wieder zurück sein.« Und als auch die Wirtin und die Mädchen hinzukamen, reichte er der Ersteren die Hand, richtete freundliche Worte an die Letzteren, rückte den Hut und ging von dannen, den Blicken der Nachsehenden bald entrückt durch die gleichzeitig abziehenden Nebel, welche dem Wanderer auf demselben Wege folgten, wo er einst den Knaben geneckt, den Invaliden gesprochen, das Wunder am Kleewägelchen gewirkt. – Er wurde erst wieder sichtbar, als eine frischere Brise des Morgenwindes in die Nebelwogen fuhr und breite Lichtungen riss, in welche die Sonne siegreich nachdrang …
Da stand nun Hilarius unweit der Hütte der armen Frau vom Lande zur Heimat wiederkehrender Wanderer nach dem Hause spähend.
Vor der Haustüre gingen Hühner futtersuchend hin und wieder; der sie führende Hahn hob dann und wann seinen mit rotglänzenden Federn geschmückten Hals und schaute mit den umränderten Augen wachsam aus, ob die seiner Obhut anvertraute Schar ungestört in ihrem Genusse fortfahren könne. Über das bemooste Dach schlich ein weißgeflecktes Kätzlein, vorsichtig-gierigen Blicks einen Sperling beobachtend, der, auf der Dachrinne sitzend, schrille Rufe ausstieß – plötzlich aber nach dem nächsten Baum flog, als die Bewohnerin der Hütte ihre weißgraue Ziege aus dem Ställchen führte, um sie am nahen Feldrain weiden zu lassen, wo – ach, dachte sie doch immer wehvoll daran! – ihr Severle einstens grausam entführt worden war.
Wie erstaunte die alte Frau, wie horchte sie auf, als sie, zur Hütte zurückkehrend, die wunderlieben und bekannten Klänge – die Klänge jener Spieluhr vernahm, welche Hilarius auf seiner Wanderung und im Klosterhofe so erfolgreich hatte aufspielen lassen!
Befangen und neugierig horchte sie und ging den Klängen nach. Diese schienen bald näher und bald ferner zu tönen, und als die Frau, vor sich hin sinnend, das Spähen aufgeben wollte, kamen die Töne plötzlich aus der Stube durch das offene Fenster – und der nächste Blick entdeckte die silberne Uhr auf dem Tischchen in der Stube.
Verwirrt stand die Frau eine Weile stille und blickte nach allen Winkeln der Stube, ohne jemand zu entdecken, bis Hilarius, vor die Haustüre tretend, mit freundlicher Stimme sagte:
»Hierher gesehen, gute Frau! Da ist der Wundermann!«
Mit einem Ausruf der Freude und Verwunderung eilte ihm die Überraschte entgegen.
Ach, gnädiger Herr«, sagte sie, »die Ehre! Womit verdien' ich einen so gütigen Besuch!«
»Wer so viel Herzweh erlebt hat, wie Ihr, verdient die Teilnahme der Besten und Höchsten!« bemerkte Hilarius und drückte ihre Hand mit beiden Händen.
»Ja, wenn so was angerechnet wird …« erwiderte die Vielgeprüfte und wickelte ein Schürzenende um die linke Hand; ihre Lippen zuckten.
Hilarius kam einem weiteren Herzweh zuvor und sagte:
»Nichts mehr davon, Liebe, Gute; wegen früheren Leids muss man sich nicht immer wieder neues Leid schaffen. Ich bin auch hier – mit einer guten, sehr guten Nachricht!«
Er sah nach der Spieluhr und bemerkte lächelnd:
»Die wird mit ihrem Gebimbel ja gar nicht fertig! – Gehen wir hinein, legen wir ihr das Handwerk; auch möcht' ich gern was zu essen haben!«
»Grundgütiger Himmel! Woher was Rechtes nehmen?« rief die Frau bestürzt und betrübt. – »Etwas Ziegenmilch und Schwarzbrot – das ist alles, was ich habe!«
»Umso mehr habe ich mitgebracht«, sagte Hilarius, dessen Heiterkeit übrigens nicht ganz hell aufleuchtete.
In der Stube holte er aus einem dort heimlich hinterlegten Reisesack ein paar Flaschen Wein und ein wohlverwahrtes Päckchen Esswaren hervor.
»Wir brauchen nur zwei Teller, ein Messer und zwei Gabeln!« sagte er.
»So viel ist da«, sagte die Frau mit einem verwunderten Blick auf die in ihrer Hütte nie gesehenen Dinge.
»Also her damit, wir müssen uns stärken, damit wir dann das Glück ertragen, von dem wir hören werden.« Hilarius' Stimme bebte leicht.
»Glück, Herrle? … Glück?« sagte die Verwunderte. »Ich hol' die Teller … aber Glück – Glück kent unsereins schon lange nicht mehr!«
»Ein so lieberer Gast wird es darum sein«, bemerkte Hilarius, die Uhr einsteckend und das Paket öffnend, aus dem der liebliche Duft gebratenen Geflügels drang.
»Auch ein paar Gläser werdet Ihr haben, liebe Wirtin …«
»Ja«, antwortete die Frau aus dem Hintergrunde der Stube, »aber sie sind beide angebrochen.«
»Man muss sich mit gebrochenen Menschen oft behelfen, man nimmt auch mit defekten Gläsern vorlieb – nur her damit!«
Die Frau säuberte eilig an dem wenigen Geräte, stellte alles auf den Tisch – zog sich aber eiligst wieder in den Hintergrund der Stube zurück, indem sie die Schürze verlegen ans Kinn drückte und sagte:
»So, gnädiger Herr nehmen schon vorlieb mit den alten Sachen – lassen sich's gut schmecken!«
Hilarius stand auf, nahm die Flüchtige freundlich am Arm, führte sie an den Tisch und zwang die sich Sträubende zu sitzen. Seine Stimme war wieder etwas unsicher; dann beteuerte er:
»Kein Bissen wird angerührt, wenn Ihr nicht dabei seid. Gehören doch zwei dazu, wenn auf die Gesundheit eines Dritten angestoßen wird!«
»Eines Dritten«, wiederholte Hilarius. »Eines Freundes, der uns beiden am Herzen liegt … Aber wir wollen erst etwas genießen, dann will ich erzählen … Ich selbst will vorlegen – so; nein, nichts wird zurückgenommen! Wohl bekomm's!«
»Ach Gott, ach Gott!« rief die Frau in großer Verlegenheit, während sie aß und dann und wann einen Schluck Wein nehmen musste. »Wie komme ich zu so großer Ehre?«
»Das sollt Ihr bald erfahren – esst, trinkt! – Ihr könnt Stärkung brauchen!« rief Hilarius.
Die Mahlzeit wurde eigentümlich genug fortgesetzt, worauf Hilarius sich erhob, ein Glas ergriff und mit großer Selbstbeherrschung ausrief:
»Nehmt das Glas, liebe Mutter … Es gilt das Wohl Eures Sohnes – des Severle – er ist gefunden!«
Der Frau fiel das Glas beinahe aus der Hand; sie stellte es behänd nieder.
»Nun ja«, fuhr Hilarius, selbst bewegt, fort und sah einen Augenblick bei Seite – »es ist eine große Freude, wenn ein verlorenes Kind wieder gefunden wird, wenn es nicht Schaden genommen hat – wenn es froh und glücklich wiederkehrt – ans Herz der Mutter!«
»Wo? Wo wäre meine Severle gefunden?« stöhnte die Frau krampfhaft vor Überraschung und Freude.
»Er ist nicht weit«, sagte Hilarius, den Kopf in die Hand legend und gegen seine Bewegung kämpfend; dann fuhr er fort:
»Hört an. Der Mann, der Euern Sohn hat entführen lassen – ist als großer Verbreher entdeckt und vor Gericht gestellt worden – es ist derselbe, über den in Sonndorf verhandelt wurde; er hat die Entführung eingestanden, und deshalb habt Ihr in Sonndorf Zeugenschaft ablegen sollen. Jetzt sind noch ganz andere Dings ans Tageslicht gekommen – es ist der Aufenthalt Eures Sohnes entdeckt – er ist hierher berufen worden …«
»Wo – wo ist er?« brachte die Frau, überwältigt von stürmischen Gefühlen, kaum hervor.
»Er ist in der Nähe …« sagte Hilarius, vor dessen Blicken es zu schwimmen begann.
»Wo?« wiederholte die Frau außer sich und wollte Hilarius zu Füßen fallen.
»Hat er hinter dem linken Ohr nicht drei kleine Muttermale gehabt?« fragte Hilarius.
»Ja – ja! Sie finden sich bei niemand wieder so!« rief die Frau schmerzhaft und freudig.
»Ihr würdet den Sohn wieder erkennen, wenn er käme?«
»Aus Tausenden, glaube ich«, rief die Frau, die Hände faltend und am ganzen Leib zitternd.
»Sehen die Male – diesen ähnlich?« fragte Hilarius und neigte die linke Seite seines Kopfes hin –
Es erfolgte keine Antwort, aber ein seelenerschütternder Jubelruf erklang:
»Mein Kind! Mein Severle! Mein Sohn!«
Und zwei überströmende Herzen pressten sich gegeneinander – das Herz einer Mutter und das Herz ihres wiedergefundenen Sohnes!« …