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Jahre waren dahingegangen, die Erlebnisse der Vergangenheit traten immer mehr zurück hinter den Schleier halber Vergessenheit, während die heftig pulsierende Gegenwart mit ihren sich jagenden Genüssen, den Aufregungen der Börse, den maßlos weiterdrängenden Unternehmungen, Heimanns Geist und Sinne immer tiefer in ihre Wirbel zogen, ohne seiner geschäftsmännischen Vorsicht Eintrag zu tun und seinen Humor schädigen zu können.
Dann und wann gab noch ein Gesinnungsgenosse der Universität brieflich ein Lebenszeichen über »Leben und Streben«, hierauf verstummten alle derartigen Nachrichten, und es geschah nur selten in Folge eines indirekten Anlasses, dass Heimann an den hohen Schwur erinnert wurde, nach fünfundzwanzig Jahren über sein Leben Rechenschaft abzulegen.
Lächelnd trank Heimann einst, da bei festlicher Gelegenheit auf alte Erlebnisse toastiert wurde, sein Champagnerglas leer und dachte, durch den Nasenzwicker blinzlend:
»Es hat noch gute Weile, unser curriculum vitae prüfen zu lassen!«
Hinsichtlich der Bekehrung seiner Recha hatte Heimann, die Nutzlosigkeit seiner Bemühung einsehend, sein resigniertes Abkommen bald getroffen; wich er doch allen religiösen Fragen mit unbehaglicher Behändigkeit aus. Genüsse, Geschäfte, äußerer Glanz und augenblicklich wirkende Unterhaltungen waren endlich ausschließlich seine Sache, und mit liebenswürdiger Selbstironie gestand er später selbst im Jargon seiner Gattin:
»Habe ich Dich bekehren wollen zu mir herüber in den Schoß der Alleinseligmachenden, meine Recha; und siehe da, habt ihr mich lieber gegängelt zu euch hinüber und gefesselt an die alttestamentarische rechte Seite der Bundeslade.«
In der Tat hatte Heimann von seiner nächsten Umgebung unwillkürlich manches in Sprache und Benehmen angezogen, das er freilich mit Humor und zum Ergötzen seiner Angehörigen selbst gelegentlich – insbesondere auf der Bühne seines Haustheaters – verwertete, wo er in einer Reihe klassischer Börsengestalten auftrat und selbst seinen strenggläubigen Schwiegervater oft zu unmäßiger Heiterkeit hinriss.
Aber je länger und vollkommener gewisse Erinnerungen zurücktreten, desto jäher und leuchtender tauchen sie unter Umständen wieder auf und erhalten Wert und Bedeutung.
Bei aller Leichtfertigkeit des Lebemanns stak in Heimann noch Empfänglichkeit genug, höhere Ansichten und Ziele, wenn sie von anderen unter schweren Kämpfen verfochten und zu allgemeiner Bewunderung siegreich geltend gemacht wurden, unverhohlen und warm zu begrüßen, ja ihnen mit einem Anflug von Schwärmerei zu huldigen.
Ein Universitätsgenosse war nach Einführung der Schwurgerichte in einigen, die öffentliche Meinung lebhaft aufregenden Fällen als Verteidiger aufgetreten, zeichnete sich später als Abgeordneter durch Freisinn, Mut und hinreißende Beredsamkeit aus, und stand eines Tages, nachdem ein in Entwicklungsstaaten zeitweise jäh hervorbrechender Kampf zwischen den politischen Gegensätzen zu Gunsten des Lichtes und der modernen Kultur entschieden war, als allmächtiger Minister in der Staatszeitung.
Zu einer gewissen Befriedigung, einen Universitätsgenossen so glänzend vor aller Welt aufsteigen zu sehen, gesellte sich gleichzeitig ein eigentümlicher Nachsommer von Schwärmerei für »jene Zeiten schöner Begeisterung, die denn doch ihren unvergänglichen Zauber besitzen«.
Und diese Schwärmerei war nicht unnatürlich.
Die ewig wiederkehrenden Genüsse eines üppigen, wenn auch zeitweise geistig gewürzten Lebens, verlieren nach und nach ihre frischwirkende Anziehung, die Gewohnheit stumpft die Empfänglichkeit dafür ab, und da überall die Gegensätze am eindringlichsten wirken, so war auf einmal das ideale Leben und Treiben der Universität wieder in das Recht lebhafter Anerkennung getreten.
Die kurze Zeit dieser Stimmung reichte hin, Heimann einmal ernstlich an das Wiedersehens-Jubiläum zu erinnern und mit der Frage zu beschäftigen, wie er im Kreise seiner weiland Genossen bei dem Vortrag seiner Lebensgeschichte wohl bestehen werde.
Schon damals entstand die Idee in ihm, durch Entfaltung aller Mittel seines Reichtums zu imponieren, die Freunde durch Bewirtung und Liebenswürdigkeit widerstandslos zu machen und seinen Lebenslauf in humordurchtränktem Vortrag zwischen den ernsten Richtern durchzuschwärzen; nur sein Übertritt zum Judentum war die Klippe, welche mit Humor nicht zu umrudern war, da in Dingen von so tiefer und ernster Wichtigkeit nur die voller Geistes- und Gemütshingabe Anspruch auf Rechtfertigung zulassen.
Sollte dieser Punkt nur leicht berührt oder ganz übergangen werden?
Diese Frage kehrte mit wachsender Bedeutung zurück, je näher das Jubiläum heranrückte, und wurde endlich kurz vor dem denkwürdigen Stelldichein auf ebenso überraschende, als für Heimann peinliche Weise verwickelt.
Heimann hatte die Unvorsichtigkeit begangen, dann und wann anziehende Andeutungen über das Wiedersehen nach fünfundzwanzig Jahren zu machen, in der Meinung, dass Recha höchstens ein allgemeines Interesse daran nehmen werde; auf ihr Befragen erzählte er ausführlich und mit gewissen Ausschmückungen über den Anlass zu dem Feste sowie über den schönen Gemütsaufschwung der Universitätsjahre und hob hervor, dass es beim Wiedersehen Pflicht jedes Teilnehmers sei, über sein Leben ohne Rückhalt Rechenschaft abzulegen. Endlich zog er seine Recha auch in das Vertrauen rücksichtlich seiner Absicht, vor den Freunden die ganze Herrlichkeit ihres Reichtums zu entfalten und so der Wirt derselben und – wenn er dies auch nicht ausdrücklich sagte – der beneidete Mittelpunkt des Festes zu werden.
»Es wird sich nicht übel machen«, fügte er selbstgefällig hinzu, »unter vielen zu hohen Ehren und Würden gelangten Kollegen auf diese Weise hervorzuragen … Man soll das Los Deines Mannes beneidenswert finden – und soll auch Deiner, liebste Recha, mit Auszeichnung gedenken, da ich sicherlich nicht unterlassen werde, rühmlich hervorzuheben, was viele Männer ihren Frauen – was namentlich ich meiner Recha zu danken habe!«
Diese mit großer Unbedachtsamkeit gesprochenen Worte brachten zwar auf die Eitelkeit Rechas die beabsichtigte Wirkung hervor – aber sie hatten auch einen Erfolg, welcher Heimann mit jähem Schrecken erfüllte.
Denn Racha fasste mit der ihr eigentümlichen Leidenschaftlichkeit den Entschluss, ebenfalls bei dem Feste zu erscheinen, selbst Zeugin des Aufsehens zu sein, welches ihre Bewirtung und das Auftreten ihres geliebten Mannes hervorrufen würden.
Heimann wagte nicht, dem mit großer Energie kundgegebenen Entschlusse entgegenzutreten, er tat in seiner Bestürzung sogar angenehm überrascht und belobte Rechas »glücklichen Einfall«; nur, meinte er später, dürfte ihre beschlossene Reise ins Bad etwas verzögert werden, auch würde die Frage, ob Frauen überhaupt dem Jubiläum beiwohnen könnten, bis auf Weiteres als offene zu behandeln sein – von dem besonderen Bedenken abgesehen – ob denn der Klosterhof, dessen Umfang und Räumlichkeiten er nicht kenne, für so zahlreichen Besuch Platz bieten dürfte.
Heimann ermangelte auch nicht, sich hinter den Arzt zu stecken, damit er die Reise ins Bad als dringend betreibe und den Umweg über den Klosterhof als durchaus unzulässige erkläre.
Allein Recha wies alle Einwendungen rundweg zurück und fegte die kleinen »spanischen Reiter«, die Heimann ihrem Entschluss so »wohlwollend und rührend« in den Weg stellte, mühelos hinweg. Sie wollte »ihren vergötterten Mann«, den Glanz ihres Hauses, und selbstverständlich sich selbst als Mittelpunkt des merkwürdigen Festes sehen und entwarf mit genialer Umsicht und mit unbeugsamer Standhaftigkeit den Plan zur Reise und die Dispositionen für den Aufenthalt im Klosterhof.
So drohte denn die große Freudenfeier des Wiedersehens für Heimann in doppelter Hinsicht zu einem Fest voll peinlicher Verlegenheiten zu werden.
Wie er seine Recha kannte, gab es für sie kein Hindernis, sich in die ehrwürdige Versammlung seiner Kollegen mit Eklat einzudrängen, kein Mittel, dem Verlangen Rechas auszuweichen, dass Heimann in seiner Lebensumschau, auch ihrer mit Auszeichnung gedenke und über den religiösen Umschwung seines Herzens den gebührenden Lobpsalm anstimme; und so war der anfangs unscheinbare Verlegenheitspunkt des Religionswechsels zu einer Welt grimmiger Verwirrungen geworden, die Heimann in dem Maße heftiger peinigten, als die Zeit des Jubiläums näher rückte.
Die Weine wurden bereits gepackt, die Delikatessen verladen, die neuen Livréen der Diener waren fertig – und Heimann rang noch immer nach einem rettenden Einfall, wie er seine Recha von der Reise abhalten könnte. Bald wollte er mit jähem Ausbruch einer Seuche im Klosterhof und Umgebung schrecken; bald war ihm von der Vertagung des Jubiläums ein umlaufendes Gerücht zu Ohren gekommen. Bald glaubte er sich »seltsam unwohl zu fühlen« und rief den Arzt zu Hilft, um seinen Zustand offiziell bedenklich erklären zu lassen.
Umsonst. Recha ging kaltblütig, das Haupt entschlossen wiegend, zwischen diesen Schrecken und Übeln gerade auf ihr Ziel los, ließ die Reiseanstalten vollenden, Weine, Delikatessen und Diener nach dem Klosterhofe abgehen; und als Heimann, trostlos gewahrend, das seine Versuche und Einfälle gegen das Unvermeidliche an Geist und Witz immer schwächer wurden und endlich sein Ansehen zu schädigen drohten – suchte er seine Zuflucht nur noch im Erwirken einer Galgenfrist. Er bat die geliebte Gattin – da ein Geschäft von außerordentlicher Wichtigkeit ihn abrufe – in zwei Tagen ihm nach dem Klosterhof zu folgen, wo er sie hoffentlich »wohlauf, heiter, liebenswürdig wie immer – als seinen Stolz, seine unerschöpfliche Liebe, seinen seligen Abglanz, seinen rotglühenden Hoffnungsstern zu begrüßen hoffe«, – und so sprang er in den bereitstehenden Reisewagen und führ, in eine Ecke sinkend und die Hände zusammenschlagend, mit dem Ausruf von dannen:
»Abgeschossen bin ich; wo werde ich niederfallen und auf schmerzlose Weise glaubwürdigen Schaden nehmen!«
In diesem Ausruf lag die Andeutung des Verzweiflungsplans, den sein Gemüt in letzter Stunde ausgeheckt hatte.
Heimann wollte unterwegs durch Unfälle aller Art verhindert werden, am Versammlungsorte rechtzeitig erscheinen und so der Verlegenheit, sein Leben schildern zu müssen, entgehen. Bei den Nachfeierlichkeiten – Festbankett, Gesamtausflug – sollten dann heitere und mit schillernden Lebensreflexen aufgeputzte Toaste das Ihrige tun, und auf diesem Gebiete war Heimann seines Erfolges sicher.
Also richtete er vor allem seine Kreuz- und Querfahrt derart ein, dass er zwar immer flott vorwärts kam, aber unmöglich rechtzeitig den Klosterhof erreichen konnte.
Mit ergötzlicher Ruhelosigkeit entsendete er an den vermeintlich im Klosterhof bereits anwesenden Präsidenten Altringer Telegramm um Telegramm, bald über den Achsenbruch eines Postwagens, der ihn einige Stunden zurückgehalten, bald über die Entgleisung eines Bahnzuges, die seine Ankunft verzögert; selbst die Fabel eines Zusammenstoßes zweier Züge wurde nicht verschmäht, um auf ein »mögliches Zuspätkommen« mit Bedauern vorzubereiten.
Zuletzt war es eine nicht unbeträchtliche Schürfung des Schienbeines in Folge eines Fehltritts aus dem »Coupon« (wie fälschlich statt Coupé telegraphiert wurde), was Heimann auf einer Station »behufs Pflege seiner Wunde« festhielt.
Jede Depesche schloss mit begeistertem Zuruf, sehnsüchtigem Brudergruß, stürmischer Versicherung, trotz aller Hindernisse doch noch rechtzeitig im Kreise der Kommilitonen erscheinen zu wollen!
Endlich folgte eine sonderbare Pause; hierauf eine höchst dunkel gehaltene, fast nicht zu entziffernde Depesche, die den telegraphischen Schreibebriefreigen mit dem rotwelschen Durcheinander schloss: »Schienen im Verband – alles ab und richtig nach Wunsch; bin nun endlich bei den vielersehnten Überbeinen angelangt – daher baldiges Wiedersehen! Ade! Ade!«
Und diese Depesche traf im Klosterhofe ein, als Heimann bereits verkleidet und unerkannt daselbst angekommen war und horchend an der Zimmertüre seiner Gattin stand.
Er hatte die Depesche auf der letzten Station zurückgelassen und wegen späterer Absendung sich mit einem Bahnbediensteten abgefunden. Er selbst war, von unwiderstehlicher Neugierde getrieben, nach dem Klosterhofe geeilt und hoffte in seinem Inkognito den Ereignissen nahe bleiben und nach Umständen hervortreten zu können
Die Mitteilungen seines Kammerdieners entsprachen seinen Befürchtungen: seine Recha hatte sich in die Jubiläumsangelegenheiten bereits vordringlich eingemischt, wodurch seine Lage in hohem Grade verschlimmert erschien.
Es brach nach Heimanns Ankunft der Vorabend des Festes herein – und er rang noch immer, bald starr dasitzend und die Daume wickelnd, bald im engen Raum seiner Zelle hin und her stürmend, mit tollen Entwürfen, wie seiner Gattin das Heft zu entreißen sei – und wie er im Falle seiner Entdeckung vor den Kollegen und im Sinne seiner orthodoxen Recha – seinen Religionswechsel durch kühne Darlegung rechtfertigen solle.
Aufgeregt und durch einige Flaschen Wein erhitzt, fand er endlich den engen Raum der Zelle unerträglich, er entdeckte durch das Fenster einen Garten, dessen stille Einsamkeit ihm sehr einladend erschien, nahm seine Verkleidung wieder vor, eilte nach der vermeintlich richtigen Tür rechts, stieß sie auf – und blieb erstarrend auf der Schwelle stehen. – Er sah sich der mächtigen Erscheinung eines Mönches gegenüber, die vom Dämmerschein eines Lämpchens umzittert, in einem Lehnstuhle der anstoßenden Zelle saß und regungslos, düsterstaunenden Blicks nach dem Störer seiner Ruhe und Gedanken schaute …